Deserteure: Nicht Held, nicht Feigling
Drückeberger, Krimineller, Verräter? Wie beurteilen wir russische Deserteure, wie ukrainische?
Der Weg vom Helden zum Verräter ist manchmal kurz. Wie kurz, das zeigt der merkwürdige Fall Bowe Bergdahl. Im Jahr 2014 wurde Bergdahl als letzter US-Soldat aus der Taliban-Gefangenschaft befreit, die ganze Nation „teilte die Freude“, so Präsident Barack Obama. Dann kam heraus: Bergdahl war im Moment seiner Gefangennahme 2009 AWOL – absent without leave. Anders gesagt: Er war desertiert. Als Grund nannte er später „Führungsversagen“ seiner Vorgesetzten.
Da schlug die Freude der Nation um in Hass, am schärfsten bei den Rechten. Ihnen galt er – in den Worten Donald Trumps – als „dreckiger, mieser Verräter“.
Bergdahl, der nach Afghanistan ging, weil er „wie Jason Bourne“ sein wollte – halt ein richtiger Draufgänger –, versammelt so ziemlich alle Gründe, warum uns der Umgang mit Fahnenflüchtigen so schwerfällt. Derzeit zu sehen und zu spüren im Angriffskrieg gegen die Ukraine, wo auf beiden Seiten Männer desertieren. Wieder tun sich westliche Staaten schwer mit ihnen, wieder kocht in der Debatte das alte Misstrauen hoch.
Als pazifistisches Symbol taugt der Deserteur nicht
Das Problem: In heroischen Kriegsgeschichten hat der Deserteur keinen Platz. Zu eingebrannt ist darin die Reizfigur vom feigen Soldaten, der im Schutze der Nacht vom Posten schleicht, die schlafende Einheit im Stich lässt, wegrennt vor patriotischer Pflichterfüllung und männlicher Ehre.
Als pazifistisches Symbol eignet er sich aber genauso wenig, flieht er doch meist aus persönlichen Gründen. Der Deserteur passt nirgendwo so richtig rein, jede Kriegserzählung stört er wie ein unliebsamer Zwischenton. Einer, der im Lärm von Bomben, Panzern und Sirenen, von Durchhaltereden und Putin-Propaganda schnell untergeht. Und doch hat er Gehör verdient.
Hunderttausende Russen verließen das Land
Zunächst einmal sind da die Russen. Hunderttausende verließen nach Putins Teilmobilmachung das Land. In der EU aber bekommen russische Deserteure und Wehrdienstflüchtige zum Teil nur schwer Asyl, weil sich die Europäer auf kein gemeinsames Aufnahmesystem einigen können. Viele fürchten, Putin könnte über sie Spione – „Trojanische Pferde“ – einschleusen, die baltischen Staaten wollen gar niemanden aufnehmen.
Kriegsdienstverweigerer aus Russland „rennen einfach nur vor der Verantwortung weg“, twitterte der litauische Außenminister. Sie „sollten bleiben und kämpfen. Gegen Putin“.
Der Deserteur als Drückeberger
Und fertig ist das Zerrbild vom Deserteur als Drückeberger. Dabei erfordert es gehörig Mut, in Putins Russland aufzubegehren. Theoretisch dürfen Rekruten verweigern, doch Militär und Medien brandmarken das als Gesetzesbruch und Vaterlandsverrat. Wer im Kampf aufgibt oder desertiert, muss mit bis zu 15 Jahren Gefängnis rechnen – oder Schlimmerem. Ein kürzlich bekannt gewordenes Video zeigt, wie ein russischer Überläufer mit einem Hammer hingerichtet wird.
Wem durch Fahnenflucht und Kriegsdienstverweigerung nachweislich politische Verfolgung droht, hat in Deutschland allerdings Recht auf Asyl. Daher befürworten die Bundesregierung sowie alle Bundestagsparteien – von der AfD abgesehen – die Aufnahme russischer Deserteure. Doch die Bedenken bleiben, in der Debatte schwingt die Furcht mit, Fahnenflucht ein bisschen zu sehr gutzuheißen. Denn schließlich bleibt sie ja Rebellion und die sieht man auch hierzulande ungern.
Deserteure der Wehrmacht wurden erst 2002, fast 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, vom deutschen Bundestag rehabilitiert. Die CDU stimmte dagegen, weil sie Fahnenflucht nicht zur „Kardinaltugend“ machen wollte. Zwanzig Jahre später ist man also immer noch nicht weiter. Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, übte sich in der aktuellen Debatte in semantischer Akrobatik. Wer sich dem Angriffskrieg Russlands entzieht, „ist kein Deserteur, sondern handelt moralisch und nach internationalen Wertmaßstäben richtig“.
Der Deserteur als Krimineller
Die bestechende Logik dahinter: Wer von der schlechten Sache desertiert, desertiert nicht. Wer es aber von der guten Sache tut, sei es aus moralischen Gründen oder aus Furcht um das eigene Leben, macht sich schuldig. Damit bleibt das Desertieren etwas Unmoralisches, im Zweifel ein Verbrechen. Fertig ist das nächste Stigma: der Deserteur als Krimineller.
Das ist vermutlich ein Grund, warum es um ukrainische Wehrdienstflüchtige so still ist. Nicht, dass es sie nicht gäbe: Wehrpflichtige Männer, die die russische Invasion verfluchen, aber trotzdem nicht kämpfen oder töten wollen, erhalten in der EU humanitären Schutz – wie alle Geflüchteten aus der Ukraine. „Schätzungsweise mehr als 140 000 militärdienstpflichtige Männer“ hätten das Land verlassen, hat Connection e.V. ausgerechnet, ein Verein zur Hilfe verfolgter Kriegsdienstverweigerer. „Uns hat die Zahl überrascht“, sagt Geschäftsführer Rudi Friedrich am Telefon.
Der Deserteur als Verräter
Folgt man den Umfragen, besteht in der Ukraine fraglos eine hohe Kampfbereitschaft, viele verteidigen aus völlig freien Stücken ihr Land mit dem Leben. Doch wie jedes Bild hat auch dieses seine Unschärfen. „Die Zahl zeigt, dass der Krieg selbst in der Ukraine nicht ganz unumstritten ist“, so Friedrich. Allerdings träten nur wenige ukrainische Militärdienstflüchtlinge öffentlich auf. Einerseits, weil sie kein Asyl beantragen müssen. Andererseits bestehe die Angst, als Verräter abgestempelt zu werden. Das dritte Stigma des Deserteurs.
So erging es dem 36-jährigen Ilja Owtscharenko auf Tiktok. Kurz nach dem russischen Einmarsch kritisierte der Ukrainer dort den Beschluss seiner Regierung, Männer unter 60 am Ausreisen zu hindern: „Pazifisten oder Christen, die nach dem Grundsatz ,Du sollst nicht töten’ leben, müssen das Recht haben, die Kriegsgebiete zu verlassen. Das ist ein Menschenrecht.“
Tatsächlich hatte die UN-Vollversammlung 1987 ein allgemeines Menschenrecht auf Kriegsverweigerung anerkannt. Diesen Weg hat die ukrainische Regierung den meisten Männern versperrt. Das leuchtet auch vielen Ukrainern nicht ein.
Der Deserteur ist unmännlich
Im Krieg aber erstarken alte Geschlechterrollen: An der Front frieren, planen und kämpfen Männerbünde, während Frauen sie aus dem Hinterland versorgen oder in Sicherheit abwarten. Die Wirklichkeit mag komplexer sein, doch die überkommene Annahme vom Krieg als male business schafft ein viertes Stigma: Fahnenflucht als unmännlicher Akt.
Sarah Cole, Literaturprofessorin an der Columbia University mit dem Schwerpunkt Krieg und Frieden, schrieb 2009: „Menschen in ihrer Beziehung zum Krieg zu betrachten, bedeutet fast zwangsläufig, in kategorischen und binären Begriffen zu denken.“ Soldat, Zivilist. Mann, Frau. Freund, Feind. Der Deserteur durchläuft und bricht diese Dichotomien, dadurch stört er – in Coles Worten – „die Struktur des Krieges“. Genau deswegen tun wir uns so schwer mit ihm.
Pazifismus ist nichts für Softies
Hat man alle Stigmata beisammen – Feigling, Verbrecher, Verräter, Entmannter –, bleibt die Frage übrig, was der Deserteur denn nun wirklich ist. Gegenstimmen zum Bellizismus machen aus ihm gerne eine pazifistische Figur. In Kriegszeiten, so schreibt die taz, gelte Deserteur „oft als Schimpfwort“, was zeige: „Pazifismus ist nichts für Softies.“ Doch desertieren Menschen wirklich aus einer pazifistischen Haltung heraus? Die überschaubare Forschung hierzu deutet etwas anderes an.
In einem Artikel von 2018 im Fachjournal Security Studies haben zwei Forscher Deserteure aus dem Bürgerkrieg in Syrien interviewt. Ihr Ergebnis: Moralische Missstände tragen zwar zur Bereitschaft bei, sich von der Truppe abzusetzen, erklären aber nicht die Tat selbst: „Angst – d. h. die Sorge der Soldaten um ihre eigene Sicherheit – ist ein wirksamerer Auslöser für Desertion.“
In einer Studie zum Vietnamkrieg waren „persönliche Notlagen“ und „Angst, getötet zu werden“ die am häufigsten genannten Motive für Deserteure des Vietcong. „Unzufriedenheit mit Vietcong-Politik und -Zielen“ tauchte erst an siebter Stelle auf.
Warum desertieren Menschen?
Dahinter verbirgt sich ein im Grunde banaler Befund: Menschen desertieren, weil sie um ihr Leben fürchten. Pazifistisch ist das nicht, höchstens nebenbei. Das aber sollte keine Rolle spielen. 1916, mitten im Sterben des Ersten Weltkriegs, schrieb die britische Schriftstellerin Winifred Mary Letts ihr Gedicht „Deserter“. Darin läuft ein namenloser Soldat, „scared as any frightended child“, vor deutschen Gewehren davon: „Just that – he turned and ran away, but who can judge him, you or I?“ Wer kann ihn schon dafür verurteilen?
Nicht Held, nicht Feigling
Genau so könnte man Wehrflüchtigen begegnen: als Menschen, nicht als Helden, nicht als Feiglingen oder Kameradenschweinen. Ihre Angst ist eine zutiefst menschliche Regung, die ihnen zugemutete Gewalt hingegen inhuman.
Ob mit drakonischen Strafen oder sozialer Ächtung, Russland führt derzeit vor, wie es Deserteuren in einer nationalistisch aufgepeitschten Männer-Autokratie ergeht. Davon sind der Westen und die Ukraine zwar weit entfernt, doch von den Stigmata kann man sich auch dort nicht lösen. Wie wäre es, den Zwischenton des Deserteurs einfach zuzulassen, gerade weil er Kriegserzählungen bereichert?
Der Ukraine jedenfalls raubt man niemanden, sie würde auch ohne Zwang über genug Freiwillige verfügen. Und wer trotzdem flieht, verrät die gute Sache nicht. Er kann ihr ja anderweitig dienen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 8.12.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München