Cherson und die Verräter
Die ukrainische Stadt Cherson nach der Befreiung: Wer hat mit dem Feind kollaboriert?
Juri hat die russische Besatzung Chersons und die Willkürherrschaft des Feinds überlebt, dann wird er auch den Winter überleben. Auch wenn dieser Winter, wie Witali Klitschko warnt, der schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg werden wird. Juri erzählt per Whatsapp, er bleibe in der befreiten Stadt, in der es seit Wochen kaum Strom und Wasser gibt, weil die Russen bei ihrem Abzug die kritische Infrastruktur zerstört haben.
Das Evakuierungsangebot der ukrainischen Regierung nimmt er nicht an. Juri vertraut auf seinen Generator, vor allem aber vertraut er auf seine Willensstärke. Was, fragt er, könne schlimmer sein als die russische Terrorherrschaft?
Mehr als acht Monate lang unterdrückten Russlands Streitkräfte die Einwohner Chersons, zwangen ihnen russische Pässe auf und quälten jene mit Berufsverbot, die nicht kooperierten, hungerten die Ukraine-Treuen ökonomisch aus. Juri, der eine Stelle im Kulturbetrieb hat, behielt seinen Pass.
Er verachtet all jene, die mit dem Feind gemeinsame Sache gemacht haben und sich kaufen ließen. Aber nicht jeder ist bereit, für sein Land zu sterben wie der ukrainische Dirigent Juri Kerpatenko, der dem Mykola-Kulisch-Musiktheater von Cherson vorstand und sich geweigert hatte, gemeinsam mit der von Kollaborateuren geleiteten Philharmonie die russische Invasionstruppe als Friedensbringer zu feiern. Er wurde in seinem Haus erschossen.
Womit müssen Verräter rechnen?
Was also wird jetzt mit all jenen passieren, die in Juris Augen Verräter sind? Werden mehr und mehr Russlandfreunde fliehen, weil sie die Rache der Patrioten fürchten? Werden sie vertrieben, weil sie Nutznießer waren, während andere gefoltert und getötet wurden?
Die Bilder aus dem befreiten Cherson von glücklichen Menschen, die mit Tränen in den Augen jeden ukrainischen Soldaten umarmen und Flaggen schwenken, zeigen nur eine Seite der Wahrheit. Dass die Russen mit der Eroberung Chersons kurz nach Kriegsbeginn so leichtes Spiel hatten, lag daran, dass es bis zur höchsten Ebene der Stadt Kollaborateure gab.
Als die russische Armee Anfang März die Stadt unter ihre Kontrolle bringt, fliehen zum Beispiel der Gouverneur und auch die militärische Führung – der Bürgermeister Igor Kolychajew, ein wohlhabender Mann, bleibt. Er hält sich ein paar Monate im Amt, bis er offiziell abgesetzt wird.
Juri erinnert sich an den Sommer, erzählt von den Rauschschwaden, die seine Stadt einhüllten, manche so dick, dass Häuser verschwanden. Die Russen sollen die Leichen gefallener Kameraden zu einer Müllkippe am Stadtrand gekarrt und dort verbrannt haben. Es stank nach Menschenfleisch.
Ein Bekannter sei immer wieder nachts zum Dnipro gegangen um von der Dunkelheit geschützt Fische zu angeln. Einmal sei er von einem Lastwagen überrascht worden und habe sich im Gebüsch versteckt. Russische Soldaten stiegen aus, und Juris Freund beobachtete, wie sie Leichen in den Fluss warfen. Wer waren die Toten? Ukrainer?
Die Gräuel der Besatzer kommen ans Licht
Erst nach und nach kommen die Gräueltaten der russischen Besatzer ans Licht. Wie in Butscha, Isjum und all den anderen Orten, deren Namen wir noch nicht kennen, haben die russischen Streitkräfte auch in Cherson Menschen gefoltert. Juri hatte Glück, nicht in russische Gefangenschaft zu geraten, doch Bekannte von ihm traf die russische Willkür, sie erzählen von Schlafentzug, von Beinen, auf die so lange mit Knüppeln geschlagen wurde, bis die Knochen brachen, von Stromschlägen und Vergewaltigungen.
Einer von Juris Freunden, ein Priester, wurde verschleppt und getötet. Dmytro Lubinetz, der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, sagte in einem Interview mit dem ukrainischen Fernsehen: „Dutzende Menschen wurden gefoltert. Sie wurden mit Strom malträtiert, mit Metallrohren geschlagen, ihre Knochen wurden gebrochen, und das alles geschah vor laufenden Kameras. Die Russen haben alles gefilmt.“
Eine solche Größenordnung, sagt Lubinetz, habe er noch nicht gesehen, obwohl er alle Folterzentren in verschiedenen Regionen der Ukraine besucht habe. Das Ausmaß in Cherson sei erschreckend.
Juri wohnt in der Nähe des Heimatmuseums. „Die Russen haben es komplett geplündert“, sagt er. Im Netz kursieren Fotos, die zerstörte, leere Vitrinen zeigen. Aus der archäologischen Abteilung wurde offenbar eine bedeutende Münzsammlung geklaut, und aus der Katharinenkathedrale wurden sogar die Gebeine von Grigori Potemkin, des Liebhabers von Katharina der Großen, gestohlen.
Serhij Zhadan, der ukrainische Schriftsteller und diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, hat kürzlich bei Twitter ein Foto vom Bahnhof in Cherson gepostet. Es zeigt aneinandergedrängte Menschen, viele Steckdosen und Kabel. Es ist ein kraftvolles Foto. Zhadan kommentiert es mit den Worten: „Ich denke, dieses Foto vom Bahnhof in Cherson ist das treffendste Bild der heutigen Ukraine. Wir alle kämpfen, wärmen uns und laden unsere Telefone auf. Wir werden nicht besiegt werden.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 25.11.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.