Das Werden einer Nation

Serhij Zhadans Kriegstagebuch: Zukunft und Geschichte der Ukraine werden jetzt auf Ukrainisch geschrieben

Serhij Zhadan aus Charkiw: "Die ganze Stadt ist gegen die Invasoren."

Dies ist keine Literatur. Was Serhij Zhadan und der Suhrkamp Verlag uns mit „Der Himmel über Charkiw“ anbieten, ist „eine Art öffentliches Tagebuch“; so hat der eben mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nobilitierte Autor aus der Ostukraine es selbst genannt. Seine auf Papier festgehaltenen Facebook-Posts zeugen davon, was er seit Beginn von Putin-Russlands Angriffskrieg in seiner Stadt, für die Ukraine und gegen die Vernichtung durch Russland unternimmt.

Und das ist eine ganze Menge, wozu Mut und Wut, Liebe zum eigenen Land und Bewunderung für das Stehvermögen der Charkiwer. Zhadan und seine Leute bringen älteren Menschen, die nicht mehr in der Schlange stehen können, Lebensmittel; sie bringen Krankenhäusern Medikamente, besuchen Kinder. Mit seiner Band „Zhadan i Sobaky“ (Zhadan und die Hunde) tritt er vor Soldaten an der Front auf, in Metroschächten und Luftschutzkellern.

Ihre Unterstützung konzentriert sich aber auf die Soldaten, betont er. Dafür sammeln sie Geld, kaufen und verteilen Autos, Drohnen und Kettensägen an die Frontkämpfer, Kleidung, Schlafsäcke und Medikamente, kurz: alles, was die Verteidiger brauchen in diesem „Volkskrieg“ – so nennt er es, weil alle einen Betrag leisten, zusammenstehen.

Unterwegs bemerkt die kleinen Dinge zwischen all dem Monströsen. Die vielen streunenden Katzen, die von den Menschen gefüttert werden. Die Kinder, die seit Wochen im Luftschutzkeller lebten – und das bewundernswert bewältigten.

Er berichtet auch über einen Priester, der mit Kämpfern spricht, an der Wand drei Flaggen: die ukrainische, die US-amerikanische und die der UPA. Das seien drei Komponenten des Kampfs, kommentiert Zhadan das, „unsere Staatlichkeit, unsere Verbündeten und unsere Erinnerung, die uns noch stärker macht“. Westliche Beobachter mag dieser Satz irritieren, schließlich war die UPA die Ukrainische Aufständische Armee, der militärische Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die während des Zweiten Weltkriegs mit Hitler zusammenarbeitete, danach die Sowjetunion – erfolglos – bekämpfte.

Hass auf den Aggressor

Viele derartige kleine Beobachtungen finden sich in Zhadans Aufzeichnungen, Zärtlichkeit und Liebe gegenüber den Menschen in Charkiw, obwohl der Krieg doch so überwältigend ist – und der Hass auf den Aggressor so unbändig: „Die Russen sind keine Armee, sie sind eine Horde“, schreibt er, „Unrat, der aus dem Osten über uns hergefallen ist“. Er nennt Putins Soldaten „Barbaren“, die gekommen seien, „um unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere Bildung zu vernichten“. Für ihn sind das „Säufernachbarn“, „Barbaren“, „Abschaum“, und er bezeugt: „Die ganze Stadt ist gegen die Invasoren.“

Serhij Zhadan

Himmel über Charkiw
Nachrichten vom Überleben im Krieg

Suhrkamp
239 Seiten
Hardcover
20 Euro
ISBN 978-3-518-43125-2
Zum Verlag

Tolstoi und Dostojewski hätten in diesem „Volkskrieg“ schon heute eine vernichtende Niederlage erlitten, stellt Zhadan fest, ebenso das russische Ballett, die russische Avantgarde, alles Russische. Das russische Volk sei nun gezeichnet. „Die ‚russische große humanistische‘ Kultur sinkt auf den Grund wie die schwerfällige ‚Titanic‘. Also, sorry, wie das russische Kriegsschiff.“ Die Russen müssten von nun an mit Verwünschungen und Rache sehr sehr lange leben.

„Ihr ganzes, wenig überzeugendes Gerede über Entnazifizierung und Entmilitarisierung, das ist bloß das Verschweigen, das Säubern der Sprache von dem, was sie eigentlich tun“, schreibt er. „Und was sie tun ist Entukrainisierung. Verbrannte Bibliotheksbücher, russische Lehrpläne an den Schulen, Demontage ukrainischer Symbolik – das ist, neben Morden, Plündern und dem Zerstören von Städten, ihr planmäßiges und zielgerichtetes Vorgehen. Sie wollen uns vernichten. Sie wollen alles vernichten, was in der Ukraine von der Ukraine zeugt.“

Ein Volk wächst zusammen

Die Russen rechneten damit, in der Ukraine mit Blumen empfangen zu werden. Stattdessen trafen sie auf ein Volk, das sich gegen den Aggressor stemmt wie ein Mann. Für Zhadan hat Russlands Krieg ein Volk zusammenwachsen lassen, „das endlich seine eigene Kraft, die Kraft seiner Wut, aber auch die Kraft seiner Einigkeit spürt“. Es sei nun „sehr wichtig, jetzt diesen Moment des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Achtung festzuhalten, um nach dem Sieg zu versuchen, ihn nicht zu verlieren.“

Die Geschichte werde heute nicht nur neu geschrieben, sondern sie werde „auf Ukrainisch neu geschrieben.“ Alles werde wieder aufgebaut, wieder gerichtet, verspricht er. „Auch eine Mauer entlang der Ostgrenze, damit von dort keine einzige Stimme mehr zu uns herüberdringt.“ Viele Berichte enden mit dem Satz: „Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher.“

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