Ukraine weiß, Russland schwarz?
Unsere banale Lagebeurteilung: Der Krieg, die Zivilgesellschaften und der private Neujahrbrief eines Osteuropahistorikers
Liebe Familie, einige von euch haben in Mails gefragt, wie es unseren ukrainischen Verwandten im Krieg geht; weil meine Frau Janna sowohl in der Ukraine (über die Mutter) als auch in Russland (über den Vater) Wurzeln hat, ist unsere kleine Welt vielleicht ein gutes Beispiel für das, was sich gerade tut.
Zunächst einmal das Wichtigste: Alle leben noch. Unsere ukrainischen Verwandten haben durch den Krieg Freunde und Bekannte verloren, aber ihnen selbst ist nichts passiert. Die Familie ist weit verzweigt, denn Jannas ukrainische Mutter Valentina (die vorletztes Jahr gestorben ist) hatte sieben Geschwister.
Als junge Frau verließ Valentina ihr Heimatdorf in der westlichen Ukraine in den 1960ern und ging nach Russland, nach Saratow an der Wolga, wohin es bereits ihren älteren Bruder in der Militärdienstzeit verschlagen hatte. Hier schloss sie ihre Berufsausbildung ab, verliebte sich in einen grünäugigen Russen (Jannas Vater Evgenij), gründete eine Familie und arbeitete fortan in der Personalabteilung eines großen Rüstungskombinats. Die anderen Geschwister blieben in der Ukraine, wo sie dann selbst Familien gründeten, Eltern und Großeltern wurden.
Einige Geschwister von Valentina haben das Heimatdorf Wowkowynci (etwa 320 Kilometer südwestlich von Kiew) nie verlassen und auch ihre Nachkommen leben zum Teil heute noch dort oder in der nahe gelegenen Kleinstadt Deraschnja. Valentinas jüngste Schwester Ljudmyla, zu der sie immer eine besonders enge Beziehung hatte, zog weiter nach Chmelnyckyj, eine Stadt von etwa 300 000 Einwohnern. Deren Sohn Roman wiederum zog mit seiner (Ex‑)Frau Ilona und den Söhnen Ženja und Ilja weiter nach Butscha, einen Vorort der Hauptstadt Kiew.
Ruhe auf den Dörfern, Krieg in den Städten
Diese Schilderung mag euch überflüssig erscheinen, aber sie erklärt zum größten Teil, wie es allen so geht. Diejenigen, die auf dem Dorf geblieben sind, bekommen vom Krieg am wenigsten mit, weil es weit westlich der Front liegt und russische Raketen praktisch immer auf die großen Städte abgefeuert werden. Ihr Leben geht also einigermaßen seinen Gang.
Anders ist es bei denen, die in Chmelnyckyj und besonders in Butscha leben. Roman und seine Familie mussten in den ersten Kriegstagen von dort fliehen, Ilona ging mit dem jüngsten Sohn erstmal für ein paar Monate nach Italien, wo ihre Mutter seit Jahren arbeitet. Roman floh mit seiner Mutter Ljudmyla nach Transkarpatien, eine an der ungarischen Grenze gelegene Region, die als die sicherste im ganzen Land gilt, weil russische Truppen erst einmal die Karpaten überwinden müssten, um dorthin zu kommen.
Romans ältester Sohn Ženja blieb zu Beginn des Kriegs in Butscha, verbrachte seine Tage in dunklen Luftschutzkellern, in denen russische Soldaten überprüften, was die Menschen von ihren Handys (sofern man überhaupt Empfang hatte) in die Außenwelt schickten – aber manchmal auch Kinder mit Milch versorgten.
Danach ging er für kürzere Zeit zu Ljudmyla nach Chmelnyckyj, das zwar auch angegriffen wurde, aber anders als Butscha „nur“ mit Raketen, nicht mit Bodentruppen. Butscha war deswegen so heftig umkämpft, weil Russland in den ersten Kriegstagen eigentlich blitzartig Kiew einnehmen wollte und die Kleinstadt sozusagen das Eingangstor war, durch welches die russischen Truppen hindurchmussten. Die ukrainische Seite hatte dort nur eine schwache Territorialverteidigung, die in den Kämpfen komplett vernichtet wurde.
Bei der Einnahme Butschas wurden diverse Häuser beschädigt bzw. zerstört, so auch das Haus, in dem Roman sich kurz vor dem Krieg, wegen der Trennung von seiner Frau, eine Wohnung gekauft hatte. Das Einfamilienhaus, welches Ilona mit den beiden Söhnen bewohnte, hatte keine Fensterscheiben mehr, die Eingangstür war zerstört. Beide Immobilien waren geplündert worden.
Zerstört war auch die Infrastruktur, es gab in den ersten Wochen nach der ukrainischen Rückeroberung weder Strom noch Gas. Wie ihr wisst, sind diese elementaren Dinge auch jetzt keine Selbstverständlichkeit, weil Russland die ukrainische Infrastruktur systematisch mit Raketen und Drohnen angreift.
Dennoch ist die Lage inzwischen eine andere. Alle Orte, an denen unsere Verwandten leben, sind recht weit weg von der Front, die sich im Osten und Südosten stabilisiert hat und sich nur noch wenig verändert. Was bleibt, sind russische Raketenangriffe auf die Großstädte. Am Silvestertag etwa wollte Ilja, der dreizehnjährige, jüngere Sohn von Roman, sich in Chmelnyckyj mit einer Freundin treffen. Als er gerade zu Fuß unterwegs zum Treffpunkt war, begann ein Raketenangriff, bei dem zwei Menschen getötet wurden, so dass Ilja wieder zur Wohnung seiner Großmutter zurückkehrte.
Leben im Hinterland
Natürlich spielt auch im Hinterland eine große Rolle, was an der Front passiert. Ženja, Romans älterer Sohn und mittlerweile Assistenzarzt (nach dem Ende der russischen Besatzung begann er, in einem Kiewer Krankenhaus zu arbeiten), hat einen Kollegen, der vor wenigen Tagen seine Mutter aus Cherson nach Kiew geholt hat. Sie lebte in der Frontstadt, die erst im Herbst für die Ukraine zurückerobert worden war, in ihrer Eigentumswohnung, aber der Sohn machte sich Sorgen wegen des ständigen russischen Beschusses. Kurz nach ihrer Abreise traf eine Rakete das Chersoner Wohnhaus und zerstörte das Treppenhaus, die alte Dame aber ist in Kiew in Sicherheit.
Solche Dinge prägen natürlich. Im Oktober haben wir Ljudmyla zu uns geholt, damit sie sich in Berlin mit ihrem Schwager Evgenij, Jannas Vater treffen kann. Unter normalen Umständen müssten sich der Russe, der in Saratow an der Wolga lebt, und seine ukrainische Schwägerin nicht in Berlin treffen, aber die Zeiten sind schon lange nicht mehr normal, seit 2014 gibt es weder Flug- noch Zugverbindungen zwischen beiden Ländern und Russen können nur mit einem Visum in die Ukraine einreisen. Ljudmyla jedenfalls kam gerne zu uns, wollte aber auch schon bald wieder nach Hause, weil sie ihr Land, ihre Familie und Freunde nicht im Stich lassen mochte.
Nach einer Woche fuhr sie wieder zurück aus der deutschen Ruhe in das ukrainische Sirenengeheul. Mit Evgenij hatte sie einige politische Diskussionen bei uns am Küchentisch, die meinem Schwiegervater die Möglichkeit gaben, die Berichterstattung des russischen Fernsehens als Propaganda zu erkennen.
Neujahrswünsche aus Odessa
Am Silvesterabend gab es in der Ukraine durchaus kleine Feiern im Familienkreis, wie Ženja mir erzählt hat. Er selbst konnte daran nicht teilnehmen, weil er Dienst in der Klinik hatte, wo er unter anderem Verletzte der Luftangriffe zusammenflickt.
Ein Bekannter von mir, Vadim aus Odessa, hat seinen Freunden in der Welt von so einer Feier am 31. Januar über Telegram folgende Nachricht (in seiner Muttersprache Russisch) verschickt:
„Ein frohes neues Jahr euch und euren Nächsten. Ich wünsche eurem Land in Frieden zu leben! Die Ukraine feiert dieses Jahr die Feiertage zu Sirenen statt zu Glockenschlägen, mit Kerzen und Girlanden auf Heizkörpern, weil es keinen Strom gibt. Anstelle von Silvesterknallerei hört sie am Himmel dem Kampf der ukrainischen Luftabwehr mit iranischen Drohnen zu. Aber die Ukraine wird durchhalten!“
Im Großen und Ganzen, würde ich sagen, decken sich die Erzählungen von Jannas Verwandten mit dem, was man auch bei uns in den Medien lesen kann. Ein Volk, das angegriffen wird und sich verteidigt, und das dabei zusammenrückt.
Zwischentöne: Die kulturelle Nähe zu Russland
Allerdings gibt es auch diese Zwischentöne, die man in unseren Zeitungen eher nicht findet. Diese betreffen die in Teilen der Bevölkerung bis zum Krieg tief verwurzelte kulturelle Nähe zu Russland, die auch unter den jetzigen Bedingungen nicht ganz verschwindet, obwohl sie ein Stück weit unsichtbar geworden ist.
Roman, Jannas Cousin, ist tief religiös und gehört zu einer Gemeinde der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die bis ins Frühjahr Teil des Moskauer Patriarchats war und dann die Verbindungen nach Moskau offiziell abbrach, weil der russische Patriarch allzu offensichtlich die Position des Kremls unterstützt, was in der Ukraine als Verrat an den dortigen orthodoxen Gläubigen wahrgenommen wurde.
Nun ist es allerdings so, dass zwar die Spitze der Ukrainischen Orthodoxen Kirche diesen Schritt vollzogen hat, aber auf der Ebene von Gemeinden und Klöstern weiterhin diverse Beziehungen nach Russland bestehen. Die ukrainische Regierung und ein von außen schwer einzuschätzender Teil der Bevölkerung sehen diese Beziehungen mit Unbehagen, was schließlich dazu führte, dass das ukrainische Parlament im Dezember ein Gesetz verabschiedete, das Glaubensgemeinschaften mit Verbindungen nach Russland verbot.
Dieses Gesetz richtete sich in erster Linie gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche, immerhin bis zum Krieg die größte Glaubensgemeinschaft des Landes. Es gab dann Razzien in Klöstern, wo nach Waffen und russischem Propagandamaterial gesucht wurde. Viele Gläubige, so auch Roman, sind davon schwer beunruhigt, ganze Klostergemeinschaften traten aus Protest in den Hungerstreik.
Das Thema spaltet auch Familien – Roman und sein Sohn Ženja verurteilen den russischen Angriff gleichermaßen, sind aber in Bezug auf die Kirchenfrage vollkommen unterschiedlicher Meinung. Ženja findet, wenn man orthodox sein will, könne man das auch in der Konkurrenzorganisation Orthodoxe Kirche der Ukraine sein, die schon 2018 explizit als ukrainische Nationalkirche gegründet wurde, sozusagen als Gegenmittel gegen die historische Russlandnähe.
Für Roman dagegen ist die Schaffung einer ukrainischen Nationalorthodoxie ein politisches Projekt, was die Kirche seiner Überzeugung nach nicht sein darf. Der richtig gelebte Glaube richtet sich für ihn auf die Transformation des Einzelnen und der menschlichen Beziehungen, ermöglicht Reue und Selbstbeschränkung, kann auf diese Weise ganze Völker versöhnen und neue Kriege erschweren.
Der russische Patriarch mag politisch schwer danebenliegen, aber die Kirche ist viel mehr als ihr Oberhaupt, und wenn man für letzteres betet, dann auch dafür, dass Patriarch Kyrill von seinem Irrtum ablässt. Außerdem ist die Kirche nicht von dieser Welt und folgt ihren eigenen Gesetzen, den Kanones, nach denen eine vollkommen selbständige (autokephale) ukrainische Kirche nur so gegründet werden darf, dass entweder die russische „Mutterkirche“ oder aber die weltweite Gesamtorthodoxie auf einem Konzil eine entsprechende Entscheidung trifft.
So oder so ähnlich könnte man diese Gegenposition zusammenfassen. Von meiner Seite darf ich noch ergänzen: die Koexistenz verschiedener orthodoxer Jurisdiktionen auf einem Territorium ist zwar in der Diaspora (zum Beispiel auch in Deutschland) etabliert und mag für unsere deutschen Ohren unproblematisch klingen. In der historischen Heimat der Orthodoxie wird sie aber in aller Regel nicht akzeptiert – hier gilt sie als Spaltung, als Wunde im Leib Christi sozusagen, deren Heilung oft Probleme bereitet.
Nicht alle Ukrainer wollen kämpfen
Erzählenswert ist vielleicht noch, wie es mit meinen Kontakten nach Odessa weitergegangen ist. 2019 bin ich dort mit unseren Studenten auf Exkursion gewesen, und diejenigen Partner, mit denen wir dort zusammengearbeitet haben, sind großenteils nach Deutschland oder Rumänien geflohen, darunter nicht nur Frauen und Kinder, sondern auch Männer, die eigentlich nicht aus dem Land gelassen werden: ein Professor der Sozialwissenschaften, ein Doktorand der Philosophie und ein Geschäftsmann.
Sie alle haben erhebliche Energie aufgewendet, um ausreisen zu können – einer hat sogar Kontakte in den ukrainischen Geheimdienst spielen lassen (worauf die anderen Verwandten jetzt, wo er in Deutschland ist, nicht mehr mit ihm reden); die anderen waren auf der akademischen Schiene erfolgreich, haben sich also glaubwürdig aussehende Einladungen aus dem Westen besorgt.
Meistens haben diese Ausreisen etwas mit Familienzusammenführung zu tun (Männer versuchen, geflohenen Frauen und Kindern hinterherzureisen). Aber sie zeigen eben auch an, dass die „wehrhafte Solidarität“ der ukrainischen Gesellschaft in gewissen Teilen erzwungen ist und nicht alle mitmachen wollen.
Zwiespältige Gefühle in Odessa
Dass mir das besonders an meinen Freunden aus Odessa aufgefallen ist, liegt sicher daran, dass in dieser Hafenstadt, dem bedeutendsten Exporthafen des Russischen Reichs, dann der Sowjetunion und schließlich der Ukraine, das ukrainische Nationalgefühl nie eine besondere Rolle spielte und die russische Sprache das dortige Völkergemisch seit jeher zusammenhielt.
Jetzt zeigt sich einerseits Scham und Empörung über das russische Vorgehen, aber auch kulturelle Selbstbehauptung. Während die einen (darunter federführend die staatlichen Strukturen) russische Straßennamen, Denkmäler usw. als unpassende, schmerzhafte Erinnerung an den „falschen Bruder“ wahrnehmen, die sie tilgen wollen, möchten sich andere auch unter den jetzigen Umständen nicht ukrainisieren lassen und beklagen eine „Jagd auf alles Russische“.
Ironischerweise werden solche „inneren Russophilen“ in Deutschland ausschließlich als ukrainische Opfer des russischen Angriffskriegs eingeordnet, was sie zweifellos auch sind, aber eben nicht nur. Manche scheinen innerlich mit der Ukraine abgeschlossen zu haben, weil das Land seine Ost-West-Ambivalenz verliert, welche für viele zu den Lebensgrundlagen gehörte.
Daher gibt es unter aus der Ukraine Geflüchteten in Deutschland durchaus Spannungen, die vielleicht noch deutlicher hervorbrechen werden, sobald die äußere Bedrohung nachlässt. Unsere ukrainischen Gäste, die wir zum orthodoxen Weihnachten (7. Januar) eingeladen hatten, waren sich jedenfalls auch nicht einig und beschwiegen sich bei Kerzenschein gegenseitig, obwohl sie alle den russischen Angriffskrieg verurteilen.
Schwerer kultureller Abschied von Russland
Selbst unser ukrainischer Neffe Ženja, sämtlicher prorussischer Romantik unverdächtig, erzählt solche Geschichten. Im Herbst wurde er mit zwei Kollegen abgeordnet, um in einem Krankenhaus in Czernowitz an der rumänischen Grenze im Operationssaal auszuhelfen. Da einer der Kollegen aus Cherson geflohen war und wie die meisten Chersoner besser Russisch als Ukrainisch spricht, verständigten sich die Ärzte am Operationstisch auf Russisch – bis der einzige Czernowitzer im Team dazwischenging und sich beschwerte, dass die anderen drei sich so „unpatriotisch“ in der Sprache des Feindes unterhielten.
Czernowitz, das muss man dazu wissen, gehört zu jenem kleineren Teil der Ukraine, der niemals unter russischer, sondern bis 1918 unter habsburgischer und dann bis 1944 unter rumänischer Herrschaft stand, die Menschen dort verbinden mit dem Russischen keine längere und keine gute (eine stalinistische, erst am Ende des Zweiten Weltkriegs plötzlich über sie hereingebrochene) Geschichte. Ihnen fällt der kulturelle Abschied von Russland leichter als anderen, sie treiben diesen Prozess, während es unter den Getriebenen durchaus solche gibt, die das als Zwang und als menschenrechtliches Problem empfinden. Der im Herbst abgelöste ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk ist übrigens auch so ein „Ex-Habsburger“ aus dem Westen des Landes, was sein flottes Eindreschen auf prorussische Verhaltensmuster unserer deutschen Sozialdemokratie wohl in Teilen erklärt.
Die Lage der Menschen in Russland
Dieser Überblick wäre unvollständig ohne ein paar Worte zur Situation in Russland. Janna war 2022 mehrfach dort, um ihren frisch verwitweten Vater aufzumuntern, die Reisen waren wegen der Sanktionen lang und aufwändig – weil es zwischen Deutschland und Russland keine Flug-, Zug- oder Busverbindungen mehr gibt, musste sie Umwege nehmen, die mal über die Türkei, mal über das Baltikum oder Finnland (und von dort aus mit dem Bus über die russische Grenze) führten.
In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn waren einige von unseren russischen Freunden für den Krieg, woran manche Beziehungen auch schwer gelitten haben, und wer es nicht war, sagte das aus Angst vor Verfolgung nicht zu laut.
Die westlichen Wirtschaftssanktionen wirken sich nur wenig auf die Situation aus, die Gehälter sind niedrig wie eh und je, aber man kann auch nicht sagen, dass die Wirtschaft so destabilisiert würde, dass man im Alltag viel davon mitbekommt. Die meisten westlichen Importwaren erreichen Russland jetzt auf Umwegen.
Die Stimmung änderte sich aber nach der Teilmobilmachung im vorigen Jahr, die ein öffentliches Eingeständnis der Moskauer Regierung war, dass es mit der „Spezialoperation“ in der Ukraine nicht so richtig läuft. Mehr und mehr verbreitet sich in Russland die Ansicht, dass der Krieg, den jetzt auch mehr Leute so nennen, ein Fleischwolf ist, in dem viele junge Männer ihr Leben verlieren, ohne damit irgendeinen Ruhm ernten zu können – weder gewinnt man Territorium noch kann man sich damit brüsten ein „Brudervolk“ zu befreien. Dass die Ukrainer auf diese Art der „Befreiung“ gerne verzichten, ist ja ganz offensichtlich.
So kehren viele Russen ihrer Regierung peu à peu den Rücken zu, tun dies allerdings meist nicht offen, weil das schlichtweg existenzgefährdend wäre. Diejenigen, die es doch tun, erwarten Gefängnisstrafen und Arbeitslager, das gilt insbesondere für Soldaten, die den Dienst in der Ukraine verweigern. Meine Vermutung ist aber, dass die antiwestliche Grundierung – „wir wurden von den USA provoziert, und deshalb mussten wir reagieren“ – auch diese Vertrauenskrise zwischen Regierung und Gesellschaft zum Teil überleben wird.
Diejenigen, die anfangs in Russland auf die Straße gingen, um gegen den Krieg zu demonstrieren, sind entweder ins Ausland geflohen oder wirken im Land verdeckt, etwa indem sie ukrainischen Flüchtlingen helfen, sich über Russland in den Westen durchzuschlagen. Im Herbst hatten wir eine junge Ukrainerin mit Tochter im Grundschulalter zu Gast, die aus ihrer Heimatstadt Mariupol zunächst auf die Krim geflohen war, weil es schlichtweg keine anderen Korridore gab, um sich vor der russischen Attacke zu retten. Von der Krim wiederum konnte sie nur nach Russland gehen, wo Verwandte ihr anboten zu bleiben.
Aber sie wollte nicht in einer Gesellschaft leben, der eingeredet wird, man hätte Mariupol vom „Faschismus befreit“, und in der sie selbst als Beispiel für die Authentizität dieser Story herumgereicht würde. Über ein Netzwerk russischer Antikriegsdissidenten schaffte sie es schließlich bis nach Moskau und von dort aus weiter über die baltischen Staaten nach Deutschland zu kommen.
Abschließend versuche ich (mit Jannas Hilfe) nochmal auszudrücken, was sonst unserer Sprache leicht entgeht, wenn wir über Stimmen „für“ oder „gegen“ den Krieg reden, als ob es sich um gewöhnliche politische Positionierungen und Rechthabereien handelte. Wir leben (auch in Deutschland) in einer Situation der Kriegskommunikation; Informationen werden auf ein Schwarz-Weiß-Schema heruntergebrochen (wobei die russische Seite verständlicherweise schwarz ist).
Medien: Mangel an authentischen Informationen
Noch viel wichtiger: Wir haben kein Ohr mehr an der russischen Gesellschaft, niemand von unseren Korrespondenten berichtet aus den russisch besetzten Regionen der Ukraine, nur wenige scheinen durch die russische Provinz zu reisen, Osteuropawissenschaftler unternehmen keinerlei Dienstreisen nach Russland mehr, womit sie auch viele informelle Kontakte und Informationsquellen verloren haben. Diejenigen, die selbst wöchentlich als „Experten“ in den deutschen Medien gefragt werden, beziehen ihr eigenes Wissen in viel höherem Maß als früher aus eben diesen Medien. Daher könnte man unseren Diskurs auch als geschlossenen Kreislauf bezeichnen, dem es in Teilen an frischer Informationszufuhr mangelt.
Das gilt auch für die emotionale, atmosphärische Seite, die ein guter Journalismus nicht ausklammern sollte. Viele von denjenigen, die in Russland den Krieg unterstützen oder das bislang getan haben, sehen ihn dennoch als Katastrophe für die Ukraine, für das eigene Land und für das wechselseitige Verhältnis. Es gibt etliche Familien, die Angehörige in der Ukraine haben, und die aus diesen Privatquellen sehr wohl darüber unterrichtet sind, was Russland im Nachbarland angerichtet hat. Selbst wenn sie der Überzeugung sein sollten, dass „westliche Provokation“ ursächlich für diesen Krieg ist, so leiden sie doch dennoch mehr mit der Ukraine, als wir es tun.
Und natürlich fürchten sie, dort eigene Angehörige zu verlieren, die dort als Soldaten dienen oder als Zivilisten in Gefahr sind. Nicht zuletzt schauen mit Grauen in eine Zukunft, in der Russland als international verfemter Paria dasteht und eine „harte Systemgrenze“ zwischen Russland und der Ukraine errichtet wird, die alle gewachsenen Verbindungen zerschneidet.