Türkei: Balanceakt im Ukrainekrieg
Die Außenpolitik der Türkei: Für die Ukraine, aber nicht direkt gegen Russland
Es geht immer um Geschichte, auch im Verhältnis der Türkei zu Russland. Duygu Bazoğlu Sezer betont etwa, dass die Geschichte die türkisch-russischen Beziehungen sehr stark prägt. Über Jahrhunderte hinweg lebten sie als Nachbarn, in Rivalität und auch im Krieg. Mit der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 verstärkten sich die Konfrontationen in Osteuropa und im Kaukasus zwischen dem Russischen Reich, das die slawisch-orthodoxe Zivilisation vertrat, und dem Osmanischen Reich, das die türkisch-islamische Zivilisation repräsentierte.
Mit Ende des Ersten Weltkriegs begann eine ungewöhnliche Phase der Empathie und des Verständnisses zwischen den jungen Staaten und deren Führern Wladimir I. Lenin und Mustafa Kemal Atatürk. Die militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Sowjetunion war bedeutend für den türkischen Sieg im Unabhängigkeitskrieg, der mit dem Friedensvertrag von Lausanne (24. Juli 1923) besiegelt wurde. Mit diesem wurden die Meerengen Bosporus und Dardanellen entmilitarisiert und der Zugang zum und vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer unter die Kontrolle einer Internationalen Meerengen-Kommission gestellt.
Doch als sich die politische Situation in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg verschlechterte, versuchte die Türkei, das Abkommen zu ändern. Mit dem Vertrag von Montreux, dem Meerengen-Abkommen vom 20. Juli 1936, das den freien Schiffverkehr im Schwarzen Meer regelt, erhielt die Türkei die vollständige Souveränität und Kontrolle über das Marmarameer, die Dardanellen und den Bosporus zurück.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschlechterten sich die Beziehungen angesichts der sowjetischen Gebietsansprüche auf Teile der türkischen Nordostprovinzen und der Forderung eines türkisch-sowjetischen Kontrollregimes über die türkischen Meerengen. Angesichts der Eskalation der Ost-West-Spannungen schloss sich die Türkei institutionell an den Westen an und trat 1952 der Nato bei, womit beide im Kalten Krieg in gegnerischen Lagern waren.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs begann in den 1990er-Jahren das „virtual rapprochement”. Diese Annäherung bezieht sich auf die bilateralen Beziehungen. Die Feindseligkeiten auf staatlicher Ebene waren fast vollständig verschwunden, die Zusammenarbeit im Sinne der jeweiligen nationalen Interessen wurde öffentlich betont und man verzichtete auf hetzerische Rhetorik. Doch verblieb bei den Entscheidungsträgern ein harter Kern gegenseitigen Misstrauens und Angst.
WeltTrends
"Populismus im Süden"
August 2022, Nr. 190
Die Zusammenarbeit nahm zwar in den 1990er-Jahren zu, wurde aber nicht ausgeschöpft. Die Beziehungen gingen über eine „Normalisierung“ hinaus, erreichten aber keine „echte Annäherung“. Die 1990er-Jahre waren zudem von einer andauernden geopolitischen Rivalität geprägt, bei der es historisch wie regional zu einer einzigartigen wirtschaftlichen Zusammenarbeit kam, die fast an gegenseitige Abhängigkeit grenzte.
Die Kooperation im Energie- und Gassektor verstärkte die Abhängigkeit der Türkei von russischem Gas (mehr als 33 Prozent ihres Erdgases bezieht die Türkei aus Russland). Auch stieg die Zahl der türkischen Firmen im Baugewerbe Russlands. Über Jahre hinweg kam der Großteil der Touristen aus Deutschland, Russland und der Ukraine. Und jedes Mal, wenn sich die Beziehungen zum Westen verschlechterten, vermochten es die Türkei und Russland, zusammenzukommen und somit ihre Isolation zu überwinden. Trotzdem blieb ein tiefes, gegenseitiges Misstrauen zwischen den geographisch nahen, aber historisch und kulturell fernen Mächten.
Das Schwarze Meer als Nato-Meer
Nach 2003 konnten beide Staaten ihre Beziehungen weiter vertiefen. Dies resultierte aus dem Widerstand beider gegen die völkerrechtlich umstrittene US-Invasion im Irak 2003. Beide bevorzugten Stabilität und missbilligten potenziell chaotische Regime-Veränderungen. Die Wirtschaftsbeziehungen intensivierten sich in den 2000er-Jahren immens.
Eine Region, die für Russland von Bedeutung ist, ist das Schwarze Meer. Mit der Auflösung der Sowjetunion entstanden neue Staaten an der Grenze zum Schwarzen Meer (Ukraine, Georgien) und Nicht-Küstenstaaten (Armenien, Aserbaidschan und Moldawien) und wurden in die Region aufgenommen. Damit verlor Russland im Vergleich zur Sowjetunion zwei Drittel seiner Küste, über die zuvor fast die Hälfte des Außenhandels abgewickelt wurde. Mit der Nato-Mitgliedschaft Rumäniens und Bulgariens wurde die Türkei zum einzigen „Partner“ Russlands im Schwarzen Meer, da Bulgarien und Rumänien einen Zugang der USA und der Nato zum Schwarzen Meer unterstützten.
Die Ukraine verfolgte eine ähnliche Politik. Während Russland befürchtete, dass sich das Schwarze Meer in ein „Nato-Meer“ verwandeln würde, fürchtete die Türkei eine Verletzung der Montreux-Konvention.
Imperialmacht Russland
Der Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine machte deutlich, dass Russland – so wie die USA – eine Imperialmacht ist, die sich weder durch die Vereinten Nationen noch durch Völkerrecht aufhalten lässt. Präsident Erdoğan machte die zweideutige Position der Türkei deutlich und sagte am Tag vor der russischen Invasion: „Wir können keine der beiden Nationen aufgeben.“
Ankara ist diesem Ansatz treu geblieben. Das türkische Außenministerium nannte die Invasion „inakzeptabel“ und eine „schwere Verletzung des Völkerrechts.“
Im Ministerkomitee des Europarats enthielt sich die Türkei bei der Entscheidung, Russland vom Europarat zu suspendieren. Dies mag daran liegen, dass der Türkei selbst in Kürze eine ähnliche Resolution wegen der Missachtung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bevorstehen dürfte.
Angesichts der zunehmenden Gewalt und der Erschütterungen durch den Krieg in der Ukraine äußerte die türkische Regierung ihre Kritik an Russland und bekundete Unterstützung für die Ukraine. Die Türkei forderte Russland etwa auf, diesen illegalen Akt sofort zu beenden und verurteilte das Land auf einer Dringlichkeitssitzung der UN-Generalversammlung.
Doch Ankara folgte nicht den EU- und US-Sanktionen gegen Russland. Zum einen, weil die türkische Regierung davon überzeugt ist, dass Sanktionen kaum erfolgreich sind. Zum anderen, weil die Sanktionen vonseiten der EU und den USA kommen, nicht aber über eine UN-Resolution, weswegen man sich nicht gebunden fühlt.
Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu bezeichnete die Invasion Russlands am 27. Februar 2022 zudem als „Krieg“, was es der Türkei ermöglichte, Artikel 19 der Montreux-Konvention von 1936 vollständig in Anspruch zu nehmen und somit den Durchgang durch die türkischen Meeresengen zum Schwarzen Meer für Kriegsschiffe zu versperren, es sei denn, diese kehren zu ihren Heimatstützpunkten zurück. Dies erschwert Russlands Möglichkeiten im Östlichen Mittelmeer und rettete die ukrainische Küstenstatt Odessa vor größeren Verlusten.
Obwohl die Türkei versucht, ihren Nachbarn Russland nicht zu provozieren, verfolgt sie gleichzeitig keine Politik der Äquidistanz. Ein Beispiel dafür ist der Verkauf von bewaffneten Drohnen an die Ukraine. Doch im Gegensatz zu anderen Nato-Mitgliedern hat sich die Türkei weder den Sanktionen gegen Moskau angeschlossen noch ihren Luftraum für Russland gesperrt.
Ankara und Moskau haben sehr unterschiedliche Ansichten über viele internationale Themen. Doch wenn es um Energie, Erdgas und nukleare Energie geht, verstehen sie sich sehr gut. Und die „Freundschaft“ zwischen Putin und Erdoğan ist erstaunlich tief – möglicherweise auch wegen ihrer Ähnlichkeiten im Politikstil, ihrem Autoritarismus und Konservatismus sowie ihrer ähnlichen Haltung zu Patriarchat und Gender.
In den ersten Wochen nach Ausbruch des Krieges flohen 85 000 Ukrainer und 100 000 Russen in die Türkei. Dies zeigt, wie wichtig die Türkei für beide Staaten ist und wie sehr auch Kriegsgegner in Russland unter dem Krieg leiden.
Die Politik der Türkei im Ukrainekrieg gleicht einem Balanceakt. Die einzigartige Position der Türkei bezeichnet Özgür Uluhisarcıklı als „pro-ukrainisch“, aber „nicht direkt anti-russisch“. Die türkische Position gegenüber Putins Krieg kann folglich so zusammengefasst werden: Unterstützung der territorialen Integrität der Ukraine und gemäßigte Kritik an Russland ohne Beteiligung an Sanktionen.
Die Türkei als „Mittlere Macht“
In der sich zunehmend wandelnden globalen Ordnung positionieren sich neben den Großmächten auch mittlere Mächte. Die Türkei kann als eine solche Mittelmacht angesehen werden, die sowohl unter dem Einfluss der globalen Struktur steht als auch dieses System als aktive Akteurin zu beeinflussen sucht.
Darüber hinaus versteht sich die Türkei unter AKP-Führung seit 2002 zunehmend als ein aufgrund ihrer Geschichte, Geografie und zivilisatorischen Werte einzigartiges Land. Wie sehr Innen- und Außenpolitik verbunden sind und wie sehr Außenpolitik für innenpolitische Zwecke genutzt wird, erstaunt im Fall der Türkei sehr. Die AKP weist deutlich auf „Werte” hin und betont die Einzigartigkeit der Türkei. Hierfür nutzt sie die Konstruktion „wir” und die „anderen“, wobei der Westen als „das Andere“ konstruiert wird.
Jeder außenpolitische Schritt der Regierungspartei macht letztlich den Zusammenhang mit der Innenpolitik deutlich, befindet sich die Türkei doch seit 2021 in einer Wirtschaftskrise. Und Erdoğan schaut bereits auf die Präsidentschaftswahlen 2023, vielleicht auch früher. Auch deshalb bemüht er sich um eine aktive Außenpolitik und ausgewogene Beziehungen mit beiden Nachbarn, um keinen zu verlieren und um gleichzeitig selber zu punkten.
Daher auch das Suchen nach Nischen für die Außenpolitik, wie auf dem Antalya Diplomacy Forum vom 11. bis 13. März 2022. Gleichzeitig fordert die Türkei eine Veränderung der globalen Ordnung. Eine globale Ordnung, in der die fünf permanenten Mitglieder im UN-Sicherheitsrat über ein Vetorecht verfügen, eine globale Ordnung, in der imperiale Mächte in souveräne Staaten einmarschieren, das kann keine gerechte Ordnung sein.
Die Position der Türkei im Ukrainekrieg erstaunt nicht. Es gibt eine Kontinuität in der türkischen Außenpolitik: Seit ihrer Gründung bemühte sie sich in fast allen Konflikten um eine neutrale Haltung, z. B. im Fall Israel-Palästina oder Iran-Irak, und suchte nach Schlichtungsmöglichkeiten. Damit verfolgte das damals renommierte türkische Außenministerium eine global weitgehend respektierte Politik, fernab wirtschaftlicher Hintergedanken.
Der Unterschied zur heutigen AKP-Politik wird in eben diesem Punkt deutlich. Aussagen und Handlungen der AKP im Allgemeinen und von Präsident Erdoğan im Besonderen machen deutlich, dass es dem AKP-Regime nicht um Frieden, sondern um Finanzen, nicht um menschliches Leben, sondern vornehmlich wirtschaftliche Interessen geht.