Ukraine-Krieg: Beide Seiten werden verlieren
Scholz sagt: Russland darf den Krieg nicht gewinnen. Warum zögert er bei Waffenlieferungen?
In Ostmitteleuropa besteht ein sehr abschätziges Bild über Deutschlands ökonomische Sanktionspolitik gegen Russland und seine Haltung zu schweren Waffenlieferungen an die Ukraine. Es gleicht einer Situation, in der man zaudert, in den kalten See zu gehen, während andere dazu entschlossen sind oder schon schwimmen.
Warum dieser Vorwurf, Berlin handle zu zögerlich, zu halbherzig, zu defensiv, stehe immer auf der Bremse? Das ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland seit Jahren in der Europäischen Union (EU) der größte Geldgeber der Ukraine ist. Zudem statuierte Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar einen sicherheitspolitischen Umschwung.
In Ostmitteleuropa ist das durch die „Zeitenwende-Rede“ und den dadurch dokumentierten neuen deutschen Realismus gewonnene politische Kapital schon wieder weitgehend aufgebraucht. Geblieben ist die Kritik an politisch-strategischen Fehlentscheidungen, die zu einer Energieabhängigkeit von Russland geführt hat, vor der auch Wissenschaftler bereits 2014 warnten.
Und in intellektuellen Kreisen sind unbeachtet gebliebene Vorschläge der deutschen Friedensforschung nicht vergessen, wie beispielhaft das Denkmodell vom „pluralen Frieden“ mit Russland.
Kritik an der deutsche Waffenskepsis
Heute wird insbesondere die Waffen-Skepsis der Deutschen gerügt. Aus Sicht der ostmitteleuropäischen Staaten ist die Differenzierung zwischen defensiven und offensiven Waffen, leichtem und schweren Militärgerät angesichts der Invasion Russlands zur Vernichtung der ukrainischen Staatsidentität und der Rückgriffsmöglichkeit auf die enormen Waffenvorräte als militärische Weltmacht surreal. Die Ukraine benötigt nach dieser Lesart zur effektiven Abwehr- und Durchhaltefähigkeit sowie für Gegenoffensiven auf dem eigenen Territorium eben auch Großgerät.
Die deutsche sozialdemokratischen Regierungsführung wird hierbei verdächtigt, ihre ostpolitische Pfadabhängigkeit nicht aufgeben zu wollen. Der klandestine Kern wird in der Vermeidung einer künftigen konfrontativen Sicherheitsordnung in Europa gesehen, die, so das Denkmuster, nur mit und nicht gegen Russland möglich ist.
Einer der prominentesten konzeptionellen Protagonisten ist der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rolf Mützenich. Weist seine Ablehnung von schweren Waffen an die Ukraine in diese Richtung? Das unterstellen Vertreter von sicherheitspolitischen Think Tanks in Polen und den baltischen Staaten in Gesprächen mit dem Autor dieses Beitrags.
Doch bei der Frage von Pro und Contra für schweres Militärgerät geht mittlerweile ein Riss sowohl quer durch die Regierungskoalition als auch durch die Gesellschaft. Mittlerweile bejaht offenbar eine klare Mehrheit der Bevölkerung eine solche Unterstützung.
Gründe für Vorbehalte gegen Waffenlieferungen
Die Aussagen von Bundeskanzler Scholz am 6. April im Deutschen Bundestag über Zweck und Ziel der Sanktionen und zu Deutschlands Waffenlieferungen bieten einen Schlüssel für die Kritik und Irritationen im Osten und in Deutschland. Er sicherte zu, die „Ukraine bestmöglich zu unterstützen. ... Dazu gehört auch, was wir aus den aktuellen Beständen der Bundeswehr an Waffen liefern können, alles das was sinnvoll ist und schnell wirkt, das wird geliefert.“
Auf den ersten Blick wirkt das schlüssig. Doch bei einer zweiten Betrachtung erkennt man, dass Berlin entscheiden will, was für Kiew militärisch geeignet ist. Das wirkt wie Bevormundung.
Dem Vorbehalt insbesondere gegen schwere Waffen liegen fünf Motive zugrunde:
- Die Bundesregierung befürchtet, dass ihre schwere Militärtechnik potenziell in russische Hände fällt.
- Sie teilt die Sorge ehemaliger hoher Militärs, die vor einem „Weg in den Dritten Weltkrieg“ warnen
- Nach Beurteilung der Bundesverteidigungsministerin beeinträchtigt die Abgabe aus Bundeswehrbesitz die eigene Verteidigungsfähigkeit.
- Ukrainische Soldaten könnten mangels Ausbildung das westliche Großgerät gar nicht bedienen, es bietet also keinen militärischen Mehrwert.
- Weil sich zahlenmäßig starke linke und pazifistische Kräfte in der SPD-Fraktion ohnehin gegen die finanzstarke Aus- und Aufrüstung der Bundeswehr positionieren, sollen sie mit der Waffenproblematik nicht noch weiter Zulauf bekommen. Es ist die Sorge vor einem Helmut-Schmidt-Syndrom.
Ukraines Präsident Wolodymyr Selensky benannte in seiner erstmals öffentlichen Auflistung konkrete russische Systeme oder „westliche Äquivalente“, die zur Abwehr der kontinuierlichen russischen Angriffe erforderlich sind. Die genannten komplexen Waffen sind als vormaliger NVA-Bestand indessen gar nicht mehr in Deutschland vorhanden. Das ist in der Ukraine bekannt. Ob als Subtext die Erwartung an Deutschland gerichtet wurde, lieber Budgethilfe für Waffenkäufe zu leisten, ist nicht zu verifizieren.
Von den Grünen und der FDP zu politischer Führung gedrängt versuchte der Bundeskanzler mit diesem Budgethilfe-Instrument einen Befreiungsschlag, um die Kritik des Auslands und der Koalitionspartner zu entschärfen. Am 15. April gab er bekannt, „der Ukraine insgesamt zwei Milliarden Euro an weiteren Militärhilfen bereitzustellen – davon sollen deutlich mehr als eine Milliarde Euro direkt an die Ukraine gehen“.
Gleichwohl, den ukrainischen Streitkräften wird damit nicht unmittelbar geholfen, weil die Finanzmittel erst noch in einem Nachtragshaushalt parlamentarisch beschlossen werden müssen. Die Waffen-Kritik wird sich also fortsetzen, je massiver die russischen Zerstörungsschäden in den Fernsehbildern aufgezeigt werden.
Keiner wird gewinnen
Der Elefant im Raum verbleibt durch das Postulat von Scholz am 6. April: „Es muss unser Ziel bleiben, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt.“ Daraus ergeben sich notwendige Fragen:
Wer ist konkret mit „unser“ gemeint? Deutschland, die EU oder auch die Nato? Zu welchem Einsatz und Ausmaß ist die Bundesregierung bereit, den potenziellen russischen Kriegsgewinn zu verhindern und dennoch die Brandmauer zur Kriegspartei zu errichten? Gilt auch der Umkehrschluss, dass die Ukraine gewinnen muss? Was bedeutet überhaupt gewinnen in diesem Krieg?
Russland und die Ukraine befinden sich in einer Lose-Lose-Situation. Der Kreml hat sich beim Ziel seines Kriegs hinsichtlich der Zeitdimension total verschätzt. Je intensiver er versucht, diesen Fehler durch Kriegsintensität auszugleichen, desto nachteiliger werden mittel- und langfristig die sicherheitspolitischen Folgeschäden: weitere Nato-Truppen in Ostmitteleuropa, noch mehr Nato-Kohärenz, zunehmend engere Kooperation von Schweden und Finnland mit der Allianz, wenn nicht sogar Anträge auf Mitgliedschaften, nur um einige zu nennen.
Moskaus nächste Kriegsziele sind die Eroberung des gesamten Südkorridors am Asowschen Meer, wo enorme unerschlossene Gasvorkommen vermutet werden. Bei Einnahme hätte Russland eine geschlossene Landverbindung zur Krim sowie zum politisch-militärisch unterstützen separatistischen De-facto-Regime in Transnistrien und zur Republik Moldowa. Die Schifffahrtswege zwischen dem Asowschen Meer und dem Schwarzen Meer wären unter russischer Kontrolle und die Ukraine zu einem Binnenstaat degradiert.
Je länger die Ukraine zum Verteidigungskampf bereit und in der Lage ist und damit die russischen Kriegskosten an Soldaten und Material erhöht, desto mehr Opfer und Zerstörung entstehen auch zu ihren Lasten. Beide Seiten wissen: Wer den Krieg gewinnt, das heißt den Gegner zur Beendigung seiner Kampfhandlungen bringt, bestimmt den Frieden.
Aus russischer Sicht muss es ein Diktatfrieden sein: Eine demilitarisierte, neutrale Rest-Ukraine mit Anerkennungen der annektierten Krim als russisches Staatsgebiet und der ostukrainischen Separatistengebiete Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten durch Kiew.
Das wäre viel mehr als der Status quo ante und für Präsident Putin innenpolitisch eine robuste Rechtfertigung des Kriegs. Verbunden wäre das mit der fatalen Botschaft, dass mit militärischer Gewalt politische Ziele erreichbar sind. Der russische Staatschef weiß aber auch: Wenn er den Kapitulationsfrieden nicht erreicht, kann seine politische Zukunft gefährdet sein.
Vor diesem Hintergrund warnt die CIA vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen. Diese Sorge darf nicht das deutsche Handeln dominieren. Gleichwohl gilt: „Moskaus nukleare Drohungen müssen ernst genommen werden, doch gibt es bislang keinen Grund zur Panik.“
Die Ukraine will demgegenüber einen Verhandlungsfrieden mit realer Waffenruhe, effektiven Sicherheitsgarantien für die Neutralität und territorialer Integrität. Mit Blick auf den Neutralitäts-Status ist das weniger als der Status quo ante. Zudem sind Gebietsabtretungen (gegenwärtig) völlig ausgeschlossen. Keiner weiß bislang, wie aus diesen beiden Positionen Kompromisse geschlossen werden können.