Ist die Ukraine Russlands Taiwan?
Manchmal steht Geschichte der Zukunft im Weg. So wohl auch beim Ukraine-Konzept ‚Finnlandisierung‘
Johannes Varwick pflückt in seinem Beitrag „Russlandpolitik: Gegen ein Weiter-so“ die intellektuellen Früchte vom Erkenntnisbaum westlichen Diplomatieverständnisses und plädiert deshalb für „schmerzhafte Kompromisse“ und „Interessenausgleich“. Dazu gehört auch der Vorschlag, eine „‘Finnlandisierung‘ der Ukraine, also eine wie auch immer ausbuchstabierte Neutralität“, in den Blick zu nehmen. Für Peter A. Fischer ist diese Option potenziell geeignet, der Ukraine eine ökonomische lichte Zukunft zu ermöglichen. Sein Schlusssatz offenbart dann jedoch das Dilemma: „Funktionieren wird eine solche ‚Finnlandisierung‘ allerdings nur, wenn sie von innen getragen wird.“
Der von der UdSSR respektierten finnischen Neutralität gingen aber, notabene, militärischer Einmarsch und Teilannexionen voraus. Man mag eine Wette eingehen, dass von daher alle derartigen Überlegungen von Kiew als ein Danaergeschenk beurteilt werden.
Obwohl dem Begriff Finnlandisierung eine historisch negative Bedeutung innewohnt, wird er der Ukraine heute als etwas Positives angepriesen. Finnlandisierung beschrieb während des Kalten Kriegs die westliche Bedrohungsperzeption der machtpolitischen Einflussnahme der Sowjetunion, die westeuropäische Handlungsspielräume beschränken sollte.
In seinen Memoiren „Zwischen Befreiung und Freiheit“ verwies 1953 der bis dahin amtierende österreichische Außenminister Karl Gruber auf die mangelnde außenpolitische Souveränität Finnlands, was kein Modell für die Neutralität seines Staats wäre. Und das heutige Finnland ist sicherlich keine politische Ukraine-Option für Russland. Als EU-Mitglied steht ihm der Schutz aller EU-Staaten nach Artikel 42, Abs. 7 des EU-Vertrags zu. Es geht Moskau deshalb für die Zukunft darum, die Aufnahme der Ukraine in Nato und EU zu blockieren.
Wie soll Dialog ohne Vertrauen gehen?
Dialog und Vertrauensbildung gelten als westliche entscheidende diplomatische Deeskalations-Instrumente, die auch Varwick anführt. Was aber bedeutete das, wenn die Aussage des einflussreichen Politologen Sergej Karaganow auch die Überzeugung der russischen Entscheidungseliten spiegelt? „Wir tun gerne so, als hätten wir nur unsere gemeinsame Sprache verloren. Aber das Problem reicht viel tiefer als das. Es ist weniger ein Verlust von Sprache und vielmehr ein Verlust von Vertrauen: Wir respektieren die modernen westlichen Eliten einfach nicht mehr.“
Die hoch angespannte, komplexe Ukraine-Lage perzepiert Varwick im Muster der westlichen sicherheitspolitischen Draufsicht. Die russische Außenpolitik bekommt hiernach einen eigenständigen Handlungshorizont. Ihrem Narrativ von Einkreisung durch die Osterweiterung spricht er ein gewisses Verständnis zu. Kein eindeutiges Bild auf dem Prüfstand ergibt jedoch die oft wiederholte Moskauer Behauptung, der Westen hätte seine Zusagen gebrochen, die Nato nicht ostwärts auszudehnen.
Innenpolitische Determinanten wie Regierungssystem, entscheidungselitäre Interessengruppen, soziokulturelle Normen und Traditionen finden bei Varwicks Rezeption der russischen Ukraine-Politik keine Berücksichtigung. Das gilt für die meisten gegenwärtigen journalistischen Lageanalysen ebenfalls. Historische Forschungen zeigen indes, dass insbesondere autoritäre Großmächte in der Außenpolitik vom innenpolitischen Primat geleitet werden. Das gilt auch für Russland.
Das allmähliche Comeback des Blockdenkens
Gorbatschow war seit 1991 Geschichte, und damit geriet auch sein Neues Denken mit dem radikalen Bruch der sowjetischen Imperium-Tradition und geopolitischen Paradigmen unter wachsende Kritik. Ein einflussreiches Netzwerk aus nationalistisch-revisionistischen politischen Kräften und militärisch-industriellem Komplex war nicht bereit, Budgetkürzungen durch Jelzins Entspannungspolitik mit dem Westen zu akzeptieren, weil sie ihre Marginalisierung sowie den Abstieg Russlands zur großen Mittelmacht erkannten. Sie erlangten Schritt um Schritt Definitionshegemonie.
Bereits 1997 hieß es in einer renommierten Analyse: „Seit 1993 [ist] eine allmähliche Verhärtung des außenpolitischen Kurses festzustellen. Innerhalb der politischen Elite begann sich ein Konsens herauszubilden, der den russischen Großmachtanspruch im postsowjetischen Raum in den Vordergrund rückte und verstärkt die Interessen Russlands in Europa und auf globaler Ebene betonte. Das Pochen auf Eigenständigkeit als eurasische Großmacht und die Distanz zum Westen sind seither in der innerrussischen Debatte kaum noch kontrovers.“
Moskau trägt seitdem seinen Teil zum Comeback des Blockdenkens bei. Washington ihren.
Ungelöst wird die Frage bleiben, inwieweit die Interessen der russischen Machtelite mit den Interessen Russlands gleichzusetzen sind. Zustimmungsraten für Präsident Putin und implizit seiner Politik bilden nur einen schwachen Indikator, mehr und bessere Bemessungsgrößen existieren nicht. Im November 2021 ermittelte das angesehene Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum eine 65-prozentige Unterstützung für Putin und 35 Prozent Ablehnung. Im Juni 2015 waren noch 89 Prozent zufrieden gewesen, nur 10 Prozent hatten gegen ihn und seine Politik votiert.
Dieser sinkende Zuspruch, eine im innenpolitischen Streit zerrissene US-Regierung, die mit ihrem desaströsten Abzugsmanagement aus Afghanistan bei europäischen Bündnispartnern wie Verbündeten weltweit Zweifel an Schutzzusagen aufkommen lassen, Frankreich im Wahlkampf und eine neue außen- und sicherheitspolitisch uneinige Bundesregierung – dies sind alles nur Anhaltspunkte, warum der Kreml den jetzigen Zeitpunkt für die militärische Drohkulisse gegenüber der Ukraine wählte.
Macht Geschichte Zukunft?
Als wesentlicher Aspekt muss dem russisch-ukrainischen Geschichtsverständnis von Präsident Putin zugemessen werden. Historiographisch ist es großrussisch ethnopaternalistisch geprägt. Die Rolle der Ukraine für Russland korrespondiert mit der Rolle Taiwans für China. Der Auftakt bildete Putins Aussage beim Internationalen Waldai-Klub am 19. September 2013: „Wir haben gemeinsame Traditionen, eine gemeinsame Mentalität, eine gemeinsame Geschichte und Kultur. Wir haben sehr ähnliche Sprachen. In dieser Hinsicht, ich wiederhole es, sind wir ein Volk. … Die Ukraine ist ein Teil unserer großen russischen oder russisch-ukrainischen Welt.“
Dem entspräche, wenn der Bundeskanzler 1971 mit Blick auf Sprache, Geschichte, Traditionen und Einstellungen die Herausbildung einer souveränen Nation Österreich bestritten hätte.
Putins historisch-politischer Aufsatz vom 12. Juli 2021 „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ liest sich demgegenüber wie eine Mischung aus Geschichtsstunde, Manifest und Warnung, Russlands Bedrohungsperzeptionen durch die westliche Ukrainepolitik endlich ernst zu nehmen. So hätten USA und EU in Kiew lange vor 2014 insistiert, die bilateralen ökonomischen Kooperationen aufzugeben: „Schritt für Schritt wurde die Ukraine in ein gefährliches geopolitisches Spiel hineingezogen, das darauf abzielte, die Ukraine in eine Barriere zwischen Europa und Russland zu verwandeln, ein Sprungbrett gegen Russland. Es kam zwangsläufig eine Zeit, in der das Konzept ‚Ukraine ist nicht Russland‘ [für den Westen] keine Option mehr war. Es brauchte das ‚Anti-Russland‘-Konzept, das wir niemals akzeptieren werden.“
Im Traktat behauptet Putin paternalistisch, die wahren Interessen der Ukraine zu kennen und ihr einsichtig machen zu wollen. „Ich bin überzeugt, dass die Ukraine echte Souveränität nur in Partnerschaft mit Russland erreichen kann. ... Gemeinsam waren wir schon immer um ein Vielfaches stärker und erfolgreicher und werden es auch in Zukunft sein. Schließlich sind wir ein Volk.“
Zum politischen Nennwert genommen bedeutet das: Russland gestattet der Ukraine keine Freiheit der Eigenentwicklung. Die Geschichtsdimension bürdet dem aktuellen Konflikt eine kaum befriedigend regelbare geopolitische, ethnopolitische und soziokulturelle Hypothek auf.