Die freie Welt steht zusammen

Putins Krieg: Dies ist die Stunde des Entsetzens, aber wir sollten die Zeit danach im Auge behalten

Demoe Brandenburger Tor zu Putins Krieg 27 2 2022
Einer von vielen: Friedensdemonstrant gegen Putins Krieg vor dem Brandenburger Tor am 27. Februar 2022

Seit Tagen starren wir auf die Bilder und können wohl immer noch nicht richtig ermessen, was da gerade vor unseren Augen geschieht. Man möchte irgendetwas tun und kann doch nichts machen, außer sich mit Freunden vor dem Brandenburger Tor zu versammeln, jenem Ort, der an die schlimmsten Zeiten der Teilung gemahnt.

Es geht offenbar vielen so in diesen aufwühlenden Zeiten. Dem großen alten Russlanderklärer Karl Schlögel sind bei Anne Will fast die Tränen gekommen. Er wollte an diesem Abend so vieles auf einmal sagen nach einem so überaus denkwürdigen Tag.

Seit Sonntag ist vieles so anders geworden und das Wort von der Zeitenwende hat Konjunktur. Aber dass wir tatsächlich eine Zeitenwende erleben, hat nach der Debatte im Bundestag wohl jeder begriffen.

Das deutsche Parlament gab der Bestürzung den angemessenen Raum. Und wer zusehen konnte, wie der frühere Bundespräsident Gauck, eine der Symbolfiguren der friedlichen Revolution, dem ukrainischen Botschafter Melnyk um den Hals fiel, der musste begreifen, welche hoffnungserfüllte Epoche gerade zu Ende geht.

An diesem letzten Sonntag war auch zu spüren, was repräsentative Demokratie in Wahrheit bedeutet. Die freie Welt stand zusammen und die meisten Bedenken standen hintan. Wir werden noch früh genug wieder von ihnen reden. Denn die Folgen, da sollte man sich keine falschen Hoffnungen machen, sind in jeder Hinsicht fatal.

Trotzdem war dieses Signal unbedingt wichtig und Putin hat auch sofort reagiert. Seit gestern steht seine Drohung mit Atomwaffen im Raum.

Die Eskalation hat eine nächste Stufe erreicht. Es ist erschreckend, wie schnell das jetzt geht. Man kann die Sorge an den heutigen Kommentaren ablesen.

Die jüngsten Entscheidungen waren unvermeidlich. Aber die ernste Frage des Kollegen von der Süddeutschen Zeitung heißt: Sind sie auch gut? Wir wissen es nicht.

Der Journalist Alexander Golz, einer der besten Militärkenner Russlands, hat immer wieder davor gewarnt, wie kurz die Reaktionszeiten bei einem Raketenangriff heute noch sind. Für ein umsichtiges Handeln wie in früheren Tagen fehlt inzwischen die notwendige Zeit.

Aber Golz sieht noch einen anderen nicht weniger gravierenden Unterschied zu den Mustern des Kalten Kriegs. Es fehle inzwischen auch jene bewährte Sicherheitsarchitektur, die ein Entgleiten der Lage über Jahrzehnte verhindern half.

Dazu gehören eingespielte besondere Kontakte, man könnte auch von Vertrauensverhältnissen sprechen. Es soll sie wohl geben. Aber wer pflegt sie denn noch?

Die Zeit danach im Auge behalten

In dem berühmten Film „Thirteen Days“ über die Kubakrise ist es am Ende der von Kevin Costner gespielte Berater, der die Ohren im Kreml erreicht. Das ist Kino, fürwahr, aber man kann aus dem vorzüglichen Drehbuch von David Self doch eines wohl lernen: Dämonisierung hat noch nie zum guten Ende geführt.

Die Interpretationsmaschinerie läuft jedenfalls wieder auf Hochtouren. Soll man in dieser Drohung Putins nur einen weiteren Beleg seiner Rücksichtslosigkeit sehen, oder ist das schon ein Anzeichen dafür, dass er den ukrainischen Widerstand unterschätzt hat, genauso wie die inzwischen weltweite Front.

Dass die militärischen Dinge nicht wie erwartet laufen, kann man schon daran sehen, dass plötzlich der berüchtigte Ramsan Kadyrow zum Einsatz kommt und seine tschetschenische Kadyrowna. Denn den russischen Soldaten fällt es offenbar schwer, auf das eigene Brudervolk in der Ukraine zu schießen. Das Bild eines jungen Soldaten, dem eine ältere ukrainische Frau ins Gewissen redet, ist zum Symbol dieser großen Verzweiflung geworden. Es geht auch nicht mehr nur um den Überlebenskampf der Ukrainer; es geht um den Freiheitswillen im eigenen Land.

Worauf kann man jetzt hoffen? Dass das rationale Kalkül obsiegt und Putin womöglich doch den Verhandlungsweg sucht? Wir werden es bald wohl sehen. Aber die Lage ist hochvolatil, um nicht kreuzgefährlich zu sagen.

Es ist deshalb auch viel zu früh, um über die Zeit danach sprechen zu wollen. Wer die Regeln der Massenkommunikation kennt, weiß: Dies ist die Stunde des großen Entsetzens und der schmerzhaften unmittelbaren Reaktion.

Man soll keine Brücken mehr bauen, über die dann nur die Panzer rollen werden, hat ein russischer Kollege gestern gesagt. Aber das kann nicht der letzte Ratschluss für die kommenden Jahre sein.

Jeder von uns, dem die Welt Osteuropas etwas bedeutet, hat dort Freunde oder kennt Menschen, die genauso verzweifelt sind. Wir sollten sie in Putins Zugriffsbereich gerade jetzt nicht allein lassen.

Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach keine Massenbewegung nach belarussischem Vorbild geben; dafür hat Putin mit der Zerschlagung der Opposition schon gesorgt. Aber wer will, kann die leisen Proteste in Russland auch jetzt schon hören. Auch dafür braucht es jetzt einen Raum.

Wir wollten einst das Gespräch zwischen den Zivilgesellschaften stärken. Dieses Ziel ist in weite Ferne gerückt. Doch wir sollten es nicht aufgeben wollen. Denn wir sehen jetzt schon, wozu es geführt hat, dass wir uns seit Coronazeiten kaum mehr persönlich begegnet sind. Ein völliges Verstummen darf es nicht geben. Jetzt nicht! Der alte Dialog war doch längst schon am Ende. Aber der zivilgesellschaftliche Neuanfang bräuchte jetzt Mut.

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