Russland: Was, wenn wir falsch liegen?
Meinungsmacher scheinen sicher zu sein: Russland versteht nur eine Sprache
Am 5. Mai ist in der Berliner Zeitung ein Beitrag erschienen mit der Überschrift: „Bitte keinen Kalten Krieg mehr.“ Geschrieben hat ihn der frühere (1987 bis 1998) Staatsminister im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer (FDP). Er spricht von „erstaunlicher Einseitigkeit“ der deutschen Außenpolitik, „besteht sie doch vor allem in Mahnungen, Drohungen oder Sanktionen gegen nicht dem Westen zugeneigte Staaten“. Und er fragt, „ob unseren heutigen, in ihren Parteien kaum einflussreichen Außenpolitikern Begriffe wie Rüstungskontrolle und Abrüstung völlig abhanden gekommen sind“. Der Beitrag ist auch auf KARENINA zu lesen.
Zuschriften der Leserschaft füllten am 14. Mai die Hälfte der Leserbriefseite der Zeitung. Die meisten zeigen sich überrascht, in der deutschen Presse solch einen Beitrag überhaupt noch lesen zu dürfen. Einer sprach von einer „Sternstunde“.
Sollte das nicht zu denken geben? Sind Journalisten auf einem Auge blind, wenn sie (nur?) Russland „geostrategische Ambitionen“ unterstellen und Putin „unberechenbar“ nennen? Was unterstellt, wer Cyberangriffe als „Bedrohung der Sicherheit aller westlichen Industrieländer“ bezeichnet, als lebten westliche Dienste hinterm Mond. Oder wenn es Spione nur aufseiten der Russen oder Chinesen gibt, wo doch selbst Barack Obama in seiner Autobiografie augenzwinkernd zugegeben hat, dass die USA beim Spionieren auch nicht so schlecht seien.
Russische Desinformation? Berechtigt. Aber Desinformation gab’s auch schon 2003. Seither ist der Irak grundlegend verändert, konnte der IS sich und seine Ideologie ausbreiten. Und nun soll Russland den Nahen Osten destabilisiert haben? Und wer verfügt nochmal über die größten Waffenarsenale und hat weltweit Allianzen geschlossen, um „seine Interessen“ zu schützen? Die Liste dieser Staaten kann doch nicht mit Russland beginnen und mit China auf dem zweiten Platz enden. Oder etwa doch?
„Engstirnig“, nennt ein Leserbriefschreiber das, von „außenpolitischen Dilettanten“ spricht ein anderer; sie würden Russland wie ein „ungehöriges Kind behandeln“.
Zweifel? Selbstkritik? Mal Fakten abwägen, auch historische und zeithistorische, statt Schwarzweißdenken? Warum nicht mal mit Barack Obama fragen: Was, wenn wir falsch liegen?
Die Leserbriefe zeugen von abgewogenem Urteil: Auch ihm gefalle nicht alles, was in Russland und China passiert, schreibt einer, aber verhindern könne man das nicht durch Drohungen und Wirtschaftssanktionen; besser seien Verhandlungen und gegenseitige Zugeständnisse. Es gibt besorgte Stimmen, die einen neuen Kalten Krieg sehen oder gar einen militärischen Konflikt befürchten.
Naive Romantiker? Eine Ansammlung von lebensfremden Russlandverstehern? Oder haben sie Recht mit ihrer Ansicht, im Westen hätten wieder die Schlafwandler und Bellizisten das Sagen, die meinten, die überwiegende Mehrheit der Deutschen zu repräsentieren?
Mitnichten. Selbst nach der Verhaftung von Alexei Nawalny waren laut einer Umfrage des ZDF-Politbarometers ungefähr gleich viele Deutsche für bzw. gegen (46 zu 42 Prozent) härtere Sanktionen. Im Westen allerdings mehr als die Hälfte, im Osten weniger als ein Viertel.
Das Plädoyer der Leserschaft – es sind nur Männer zitiert – lautet eindeutig: Deutschland soll seine über Jahrzehnte gepflegte pazifistische und diplomatische Rolle beibehalten statt zum Kalten Krieger zu mutieren.
Was spricht dagegen? Vielleicht der Unwille oder die Unfähigkeit, sich auf russische Argumente einzulassen?
Auch Russland habe ein Recht auf Sicherheit, schreibt dagegen Schäfer. Kann man das abstreiten?
Aber was hat der Westen dazu von 2004 an gesagt? Die maßgebenden Politikerinnen und Kommentatoren in Deutschland fordern immer wieder: Russland muss bestraft werden, Sanktionen und Härte sollen die Rückkehr zum Dialog erzwingen. In vielem haben sie Recht. Aber wenn Dialog so verstanden wird, dass die Russen endlich zuhören und „unseren“ Argumenten folgen sollen – wohin kann das führen?
Fragen über Fragen. Und so wenig Antworten. Aber im Urteil immer klare Kante.