Der Zar wankt
Aber wird er auch fallen? Und was könnte Russland nach seinem Sturz für Europa sein? Etwas Gutes?
„Der Zar zittert“, titelt Die Zeit über das zum Urteil gegen den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. Aber wankt dieser Zar schon?
Das Gerichtsverfahren, meint der Kommentator, Michael Thumann, sage mehr über Wladimir Putin aus als über seinen Kontrahenten. Es zeuge eben nicht von Herrscherstärke; dem ratlosen Regime falle außer Wegsperren nichts anderes mehr ein.
Offenbar ist es Nawalny tatsächlich gelungen, den russischen Staatspräsidenten aus der Fassung zu bringen. Es ist mehr als die übliche Brutalität, mit der die russischen Sicherheitsorgane jetzt vorgehen. Und die Richter haben einen Schuldspruch gefällt, der noch nicht einmal mehr den Anschein erwecken möchte, als ginge es um ein rechtsstaatliches Verfahren. Willkür ist angesagt. Der Zar scheint zu zittern. Aber er wankt eben noch nicht.
Die Empörung in der westlichen Welt ertönt diesmal lauter, und sie scheint unisono zu sein. Aber wird das den Druck auf Putin wirklich erhöhen? Will man das überhaupt?
Der einsame Held als Gefahr?
Die Sanktionen in der Vergangenheit haben nicht den gewünschten Effekt gebracht. Sie sind, das muss man leider so sagen, zu einem recht stumpfen Schwert geworden. Der ständige Ruf danach ersetzt keine wirksame Politik. Da haben die Kritiker schon recht: Was hat sich in den letzten sechs Jahren dadurch verbessert. Oder anders gesagt: Wie vieles hat sich seither verschlimmert?
Der Appell, in solch aufgeregten Zeiten nüchtern zu bleiben, klingt sehr vernünftig. Aber wenn das nicht zur Ausrede werden soll, muss man die Dinge beim Namen nennen. An der Willkür des Vorgehens gegen Nawalny lässt sich nicht deuteln. Man muss kein Jurist sein, um das zu erkennen.
Andererseits stimmt auch das alte sicherheitspolitische Argument: Die zweitgrößte Atommacht der Erde darf nicht im Chaos versinken. Wer die neunziger Jahre noch im Gedächtnis hat, weiß um diese Gefahren.
Die moralische Bewertung dürfte also unstrittig sein. Bei der politischen Bewertung ist das wohl anders. Auf Nawalny einigt sich gerade eine buntschillernde Opposition, bei der wir erschrecken müssten, wenn wir sie näher betrachten würden.
Es dürfte ein Köhlerglaube sein, darauf zu hoffen, dass sich in Russland ein Machtwechsel anbahnt. Die Geschichte vom einsamen Helden lässt sich zwar gut erzählen, aber sie hilft keinem irgendwo weiter.
Für differenzierten Umgang mit Russland
Wir könnten uns in Deutschland mal wieder eine dicke Scheibe davon abschneiden (wenn das Bild überhaupt stimmt), mit welcher Klarheit und Übersicht andernorts die jetzige Lage beurteilt wird. Einer der renommierten US-amerikanischen Politikanalysten, Mark Episkopos, warnt davor, sich der Illusion hinzugeben, dass aus der aktuellen Entwicklung in Russland etwas entstehen könnte, was dem Westen tatsächlich schmeckt.
Die Proteste sind ein Stachel im Fleisch Putins, mehr bisher nicht. Vielen der Demonstrierenden geht es auch nicht um Nawalny; es geht um die öffentlichkeitswirksame Inszenierung des eigenen Protests.
Nawalny weiß um diesen Effekt. Er sieht sich als Katalysator einer bunten Bewegung. Doch die Abkehr einer großen Bevölkerungsmehrheit vom Putin-Regime bedeutet das nicht. Episkopos empfiehlt seiner neuen Regierung im Weißen Haus den differenzierten Umgang mit Russland. Man könnte sogar von einem Appell zur Verständigung reden.
Wandel durch Annäherung war einst das Ziel der deutschen Regierung. Heute ist das zur Sache der ganzen Gesellschaft geworden. Starren wir nicht auf die Politik, suchen wir lieber das zivile Gespräch mit den Menschen. Erst wenn sich die russische Gesellschaft verändert, verändert sich auch ihr System.