Ukraine: Russlands großer Irrtum
In der Ukraine ist eine selbstbewusste Nation entstanden, die Richtung Westen blickt
Trauer, Zorn, Überdruss, Angst: In den Augen ukrainischer Gesprächspartner blitzen die verschiedensten Gefühle auf, wenn die Rede auf Russland kommt, den unheimlichen Nachbarn im Osten. Aber längst nicht für alle Ukrainer ist das Thema so persönlich wie für Vater Dionisi, den zu unfreiwilliger Berühmtheit gelangten Priester des Städtchens Druschkiwka in der Ostukraine.
Wären es friedlichere Zeiten, würde der junge Geistliche nun wohl etwas anderes tun, als kurzgeschorene Rekruten mit Weihwasser zu bespritzen. Er hätte in den vergangenen Jahren ein beschauliches Leben im Kreis seiner orthodoxen Gemeinde um die örtliche Himmelfahrtskirche führen können. Stattdessen hat er die Hölle mit eigenen Augen gesehen.
Dionisi steigt über eine schlecht beleuchtete Treppe in jenen Keller hinab, in dem er im Frühling 2014 Todesängste durchlitt. Damals herrschten in diesem Teil der Region Donbass die Anhänger „Neurusslands“ – einheimische Banden im Verbund mit kremltreuen Kämpfern unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoffiziers Igor Girkin. Vermummte Bewaffnete überfielen den Priester in seinem Haus und sperrten ihn im Keller eines Polizeigebäudes ein, weil sie ihn für einen Agenten der proukrainischen Diözese hielten.
Nun steht der 34-jährige Geistliche erneut an der Stätte seiner Torturen. Selbst heute ist es ein beklemmender Ort, mit seinen kahlen Böden und bröckelnden Wänden, dem Geruch von Schimmel und Dreck. Zweieinhalb Tage, erzählt Dionisi, habe er hier in einer Zelle verbracht, eingepfercht mit einem Dutzend Mitgefangenen, in einem unbeschreiblichen Gestank von Fäkalien und Urin. Durch ein Fenster habe er gesehen, wie im Hof dreißig Gefangene erschossen worden seien.
Maskierte Männer hätten ihn in einem blutverschmierten Verhörraum unter Prügeln und Erniedrigungen befragt; jederzeit habe er selber mit einer tödlichen Kugel rechnen müssen. Wie durch ein Wunder sei ihm dies erspart geblieben. Man ließ ihn gehen – unter der Bedingung, dass er für immer aus der Region verschwinde.
Ukrainischen Truppen gelang es einige Wochen später, Druschkiwka und Umgebung zurückzuerobern. Der Teilerfolg in jenem Frühling 2014 gegen die Separatisten und ihre Drahtzieher in Moskau stärkt die Kampfmoral bis heute – kein unwichtiges Detail angesichts der neuen Bedrohung aus dem Osten. Eine riesige ukrainische Staatsflagge an einem achtzig Meter hohen Mast markiert in der Nähe in leuchtendem Gelb-Blau, wer hier die Kontrolle ausübt. Aber zerschossene Fabrikgebäude und eine nie wieder aufgebaute Klinik in der Nähe erinnern an den Preis, den das Land für seinen Abwehrkampf bezahlt hat.
Freiwillig der Armee angeschlossen
Dionisi schloss sich nach der Befreiung seiner Stadt dem Militär an. Er, der vor der Priesterweihe eine Konditorlehre gemacht hatte, buk nun Kuchen für Soldaten. Danach wurde er Militärkaplan, und in dieser Funktion weilt er regelmäßig bei den ukrainischen Truppen.
Auf die Frage, ob er denn zu seinen orthodoxen Glaubensbrüdern auf der anderen Seite der Grenze nicht weiterhin eine besondere Verbindung spüre, winkt er ab. Die russisch-orthodoxe Kirche habe sich in den Dienst der Großmachtpolitik Moskaus gestellt und unterstütze die Separatisten in der Ostukraine. „Mit ihr kann es keine Gemeinsamkeit geben.“
Auch die 29-jährige Wiktoria Dworezka meldete sich freiwillig bei der Armee. Und auch sie trägt ein traumatisches Erlebnis aus einem ostukrainischen Kellerraum mit sich. Dworezka stammt aus der Hauptstadt Kiew; dort hatte die angehende Betriebswirtschafterin wie viele andere Studenten im Winter 2014 auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) an der Revolution gegen die damalige prorussische Regierung teilgenommen.
Als kurz danach die Kämpfe im Donbass ausbrachen, reiste sie direkt von der Universität in den Osten. In der Provinz Luhansk schloss sie sich einem Freiwilligenbataillon an, völlig unerfahren in militärischen Dingen.
Doch das sollte sich rasch ändern. Wie sie im Gespräch erzählt, geriet sie als Mitglied einer Aufklärungseinheit im Juni 2014 in einen Hinterhalt und musste sich drei Stunden lang in einem Keller verschanzen. Beide Seiten hätten sich in den unterirdischen Räumlichkeiten mit Handgranaten beworfen. „Fast alle Mitglieder meiner Einheit wurden verletzt; ich erlitt eine Wunde am Kopf.“
Dworezka lächelt beim Erzählen oft; die psychischen Narben des Kriegs merkt man ihr nicht unmittelbar an. Mit Unterbrechungen diente sie fast drei Jahre lang im Frontgebiet, wurde Offizierin und erhielt als erste Frau das Kommando über eine Infanteriekompanie.
Sie ist kein Einzelfall: Seit dem Ausbruch des Konflikts mit Russland hat sich die Zahl der Frauen in den ukrainischen Streitkräften vervielfacht, von unter 2000 auf mehr als 30 000. Mittlerweile stehen auch die meisten Kampffunktionen beiden Geschlechtern offen.
Dworezka selber hat inzwischen einen halben Schritt ins Zivilleben getan: Seit diesem Herbst arbeitet sie für eine Organisation, die Veteranen bei der Wiedereingliederung in den Alltag hilft. Viele kämpfen mit posttraumatischen Belastungsstörungen – wie früher Dworezka selbst.
Desinformation, Lügen und Halbwahrheiten
Eine andere Art des Widerstands gegen Russland wählte die Ukrainerin Olexandra Zechanowska. Als Leiterin einer Forschungsgruppe in Kiew untersucht sie seit Jahren, in welcher Weise prorussische Propaganda ihren Weg in ukrainische und westliche Medien findet. Die junge Politologin sieht dies als Teil der Kriegsführung Moskaus und versucht, der Desinformation entgegenzuwirken.
Wenig überraschend hat diese Form der Bedrohung seit dem Herbst parallel zum russischen Truppenaufmarsch im Grenzgebiet zugenommen. Beispielsweise beschuldigte der Kreml die Ukraine grundlos, im Donbass einen Genozid zu verüben. Kurz vor Weihnachten setzte Verteidigungsminister Sergei Schoigu das Gerücht in Umlauf, amerikanische Söldner bereiteten in der Ostukraine eine Provokation mit Chemiewaffen vor.
Laut Zechanowska besteht das Problem weniger in solchen plumpen Fake News als in der subtilen Beeinflussung der ukrainischen Öffentlichkeit. Beispielsweise suggerieren prorussische Medienportale unablässig, dass die Regierung in Kiew eine Marionette des Westens sei, dass der jüdische Financier George Soros seine Fäden ziehe und fanatische ukrainische Politiker einen Angriff auf Russland planten.
Ein Publikum fanden solche Darstellungen bis vor kurzem vor allem über die Fernsehkanäle des kremlnahen ukrainischen Oppositionspolitikers und Großunternehmers Wiktor Medwedtschuk. Diese wurden im vergangenen Jahr von der Regierung kurzerhand geschlossen. Laut Zechanowska geht die Stimmungsmache aber über das Internet und Telegram-Kanäle weiter.
Belustigt stellt die Leiterin der Hybrid Warfare Analytical Group fest, dass die Desinformation oft von Schizophrenie gekennzeichnet sei. Beispielsweise wird den Empfängern die Überzeugung eingeflößt, dass die Ukraine eine militärische Bedrohung für Russland darstelle; gleichzeitig wollen die Einflusskampagnen den Eindruck erwecken, dass die ukrainische Armee durch Alkoholismus wie auch Desertionen geschwächt sei und keine ernstzunehmende Kampfkraft besitze. Beides miteinander kann nicht zutreffen.
Nationale Identität gefestigt
Von der Propagandabotschaft, dass die Ukraine ein willenloses Objekt sei, eine Art Kolonie des Westens, ist vermutlich sogar der Kreml überzeugt. Damit erliegt er jedoch einem schweren Irrtum. Die zu Beginn des Jahrhunderts noch schwache nationale Identität der Ukrainer hat sich infolge der russischen Aggression ab 2014 gefestigt.
Die Sowjetnostalgiker, die das Land am liebsten als Teil einer russisch geprägten Großregion sähen, verschwinden. Repräsentiert werden sie am ehesten durch die Partei des erwähnten Politikers Medwedtschuk, die in der Ostukraine noch eine wichtige Kraft darstellt, aber landesweit nur den Rückhalt von etwa zehn Prozent der Bevölkerung genießt. Beispiele wie der Militärkaplan Dionisi, die Offizierin Dworezka und die Propagandaforscherin Zechanowska zeigen zudem die Bereitschaft von Vertretern einer jüngeren Generation, für ihren Staat einzustehen.
Das ukrainische Nationalbewusstsein äußert sich auch in die Gegenrichtung: Man tanzt nicht einfach nach der Pfeife des Westens. Das Verhältnis zu diesem ist keineswegs spannungsfrei. Die Wahl des Populisten Wolodymyr Selenski 2019 stieß in westeuropäischen Hauptstädten auf unverhohlene Enttäuschung.
Umgekehrt ist im Kiewer Außenministerium die Frustration über den unentschlossenen Kurs der EU gegenüber Moskau unüberhörbar. Diplomatisch verklausuliert wird Brüssel vorgeworfen, sich naive Vorstellungen von den Chancen eines Dialogs mit dem Kreml zu machen.
Unverblümt äußert sich Refat Tschubarow, der politische Führer der krimtatarischen Minderheit. Tschubarow musste wegen der Annexion der Krim 2014 seine Heimat verlassen und setzt sich seither von Kiew aus für die Anliegen seiner unterdrückten Volksgruppe ein.
Um eine Änderung der russischen Haltung gegenüber der Ukraine zu erreichen und die Krim zu befreien, brauche es viel stärkeren Druck des Westens, sagt Tschubarow. Er fordert ein Embargo gegen russische Energieträger, wobei er einräumt, dass dies mit Blick auf den Winter ein schwieriges Thema sei. Auch der Ausschluss Russlands aus dem Zahlungsverkehrssystem Swift wäre nach seiner Ansicht eine wirksame Maßnahme.
Dass es der EU in diesen Fragen an Geschlossenheit fehlt, ist Tschubarow schmerzlich bewusst. Es gelinge Russland immer wieder, westliche Staaten gegeneinander auszuspielen, sagt er.
Mehrheiten für EU- und Nato-Beitritt
Einen wirksamen Schutz vor dem östlichen Nachbarn hätte die Ukraine nur als Vollmitglied von EU und Nato. Aber mit einer baldigen Aufnahme kann das Land nicht rechnen. Das hindert Kiew nicht daran, energisch an die Türen der beiden Organisationen zu klopfen.
Die für Integrationsfragen zuständige Vizeministerpräsidentin Olha Stefanischina argumentiert im Gespräch, dass die Ukraine seit dem Abschluss eines Assoziierungsabkommens mit Brüssel ihr Rechtssystem bereits zu 60 Prozent an die EU-Normen angeglichen habe. Im Hinblick auf einen Nato-Beitritt habe die Regierung den Großteil der Standards der Allianz übernommen, darunter das Prinzip der zivilen Kontrolle über die Streitkräfte sowie Regeln zum militärischen Beschaffungswesen.
Aber in Kiew ist man sich bewusst, dass Staaten wie Deutschland und Frankreich vorläufig unüberwindbare Vorbehalte gegenüber einer Aufnahme der Ukraine hegen. Stefanischina kritisiert, dass einige westliche Regierungen aus lauter Angst alles unterlassen wollten, was Russland reizen könnte.
Gebremst wird der Beitrittszug freilich auch aus anderen Gründen – die verbreitete Korruption und die ungenügende Rechtsstaatlichkeit sind schwerwiegende Hindernisse. Doch auf Dauer, so betont Stefanischina, gehe es nicht an, dass ein demokratisches, proeuropäisches Land wie die Ukraine „außerhalb des Klubs“ bleiben müsse.
Tatsächlich ist die Stimmung hier EU-freundlicher als in so manchem Mitgliedsland: In einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie von Mitte Dezember sprachen sich landesweit (ohne besetzte Gebiete) 67 Prozent für und nur 22 Prozent gegen einen Beitritt zur EU aus. Eine Nato-Mitgliedschaft hat mehr als doppelt so viele Anhänger wie Gegner (59 zu 28 Prozent).
Als Argument in Brüssel reicht diese Stimmungslage natürlich nicht aus. Aber zumindest müssten solche Zahlen in Moskau zu denken geben: Die prowestliche Orientierung der Ukraine wird von Jahr zu Jahr ausgeprägter. Wenn der Kreml davon redet, dass Ukrainer und Russen doch eigentlich ein einziges Volk seien, gibt er sich einer Illusion hin.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 10.1.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung.