Radio: Wahrheit für Wladimir
Wie die Filmemacherin Daria Onyshchenko versucht, aus München Informationen nach Russland zu senden
Daria Onyshchenko glaubt, dass ihr Name auf einer Liste des KGB steht. In München fühlt sie sich sicher, aber ob sie jemals wieder unbeschwert durch Kiew laufen wird? Sie weiß es nicht. Aber sie kämpft dafür.
Alles ist anders geworden seit dem 24. Februar, seit dem Angriff auf ihr Heimatland. „Blühend, grün, unglaublich schön und friedlich waren immer alle ukrainischen Städte“, schreibt die 38-Jährige in einem Text auf der Webseite des Münchner Bündnisses „Solidarität mit der Ukraine“. Sie habe es geliebt, durch Kiew zu spazieren oder irgendwo von oben auf den Fluss Dnepr zu schauen und die nächtlichen Lichter der großen Stadt zu bewundern.
Die russischen Truppen aber haben nicht nur ihren Traum als Filmemacherin zerstört, sondern das Leben von vielen Familien ausgelöscht. „Sie haben Kulturerbe vernichtet, Tiere und Umwelt an die Grenze einer Katastrophe gebracht, Frauen, Kinder brutal ermordet, gefoltert, vergewaltigt, Massengräber errichtet.“
Als Vertreterin der Ukrainischen Gemeinde lädt Onyshchenko an selber Stelle zur großen Kundgebung am Sonntag, 8. Mai, der Kriegsopfer zu gedenken. Nicht nur, wie in den Jahren zuvor, an die Opfer des Zweiten Weltkriegs, sondern nun auch an die Toten der vergangenen Wochen in der Ukraine.
Onyshchenko wurde in Kiew geboren, bei ihr zu Hause sprach man russisch, Verwandte der Mutter leben in Russland. Politik war ein Thema in der Familie. Onyshchenko hat „Internationale Beziehungen“ studiert, bevor sie 2006 nach München an die Filmhochschule kam. Seitdem lebt sie hier und spricht fließend Deutsch. Sie ist mit einem Münchner Informatiker verheiratet und hat eine Tochter und einen Sohn.
Onyshchenko ist eine zarte Frau mit großen Augen, die im Moment gefüllt sind mit Traurigkeit. Die Filmemacherin hat ihr Lachen verloren. „Ich bin kein normaler Mensch mehr“, sagt sie fast entschuldigend zu Beginn eines Treffens, das im Esszimmer der Wohnung stattfindet.
Ihr Mann rate ihr, sich psychologische Hilfe zu suchen. Aber dafür habe sie keine Zeit.
Das Gefühl, etwas beizutragen
Sie ist eine der Organisatoren der wöchentlich stattfindenden überparteilichen Münchner Demonstrationen für die Ukraine. Sie hilft, Sprecher für das Podium zu finden. Anfangs sei der Zulauf groß gewesen, inzwischen kämen hauptsächlich nur noch Ukrainer zu den Veranstaltungen. „Die Leute haben sich wohl an die Situation gewöhnt“, glaubt Onyshchenko. Anfang April hat sie einen Nachrichtensender mitgegründet: „Radio Wahrheit“, der über Kurzwelle von München aus Nachrichten nach Russland sendet.
Für ein paar Wochen hatte die Familie auch geflüchtete Freunde aufgenommen. Zu zehnt lebten sie in der Hochhauswohnung. „Engagement lenkt mich ab und gibt mir das Gefühl, etwas beizutragen und gegen das Gefühl der Hilflosigkeit anzugehen“, sagt Onyshchenko.
Am liebsten wäre sie bei ihren Freunden in Kiew. Es sind viele Künstler darunter, Regisseure wie sie selbst, Schauspieler, Maler, Autoren. Sie sei beeindruckt, wie sie jetzt alle kämpften, obwohl sie das nie gelernt hätten, sagt Onyshchenko. Am liebsten würde sie ihnen Schlafsäcke und Nachtsichtgeräte, Erste-Hilfe-Sets und Dieselgeneratoren bringen. „Es fehlt so viel“, sagt Onyshchenko.
Anfang März wäre sie tatsächlich in die Ukraine gefahren. Das war lange vor dem Angriff geplant gewesen. Am 15. März sollten die Dreharbeiten zu einem Film über den Maler Kasimir Malewitsch beginnen.
Auch Malewitsch ist aus Kiew, dort kam er 1878 zur Welt. Seine Eltern waren polnischer Abstammung. Gestorben ist der Maler 1935 in Leningrad. Malewitsch war von drei Kulturen geprägt. Onyshchenko fasziniert sein Kampf gegen das System der Unterdrückung und für die Freiheit der Kunst.
An der Wand neben dem Esstisch hängt ein kleines Bild im typischen Malewitsch-Stil: die Figuren kegelförmig und in klaren Farben ausgemalt. Rot stehe für die Liebe, Schwarz für das Leid, Weiß für die volkstümlichen Hemden der Menschen, erklärt Onyshchenko. Ihre Tochter hat das Bild für sie gemacht.
Die Finanzierung für den Film stand, die Kostüme waren fast fertig genäht. Einige Drehtage seien auch in Charkiw geplant gewesen, erzählt Onyshchenko. Dort gebe es noch Straßenzüge, mit fast unveränderten Häusern aus der Sowjetzeit. Ob sie noch stehen? Die Regisseurin hofft es.
Zwei Jahre hatte sie sich auf das Projekt vorbereitet. Ihr Kameramann kämpft nun als Soldat im Osten der Ukraine. Sie macht sich große Sorgen um ihn. „Er ist einer der besten ukrainischen Kameramänner.“ Sie befürchtet, dass er nicht mehr der sein wird, der er vorher war und denkt: „Wahrscheinlich werden wir alle als andere Menschen aus diesem Krieg herauskommen.“
Der Krieg nimmt uns alles weg
Onyshchenkos bislang letzter großer Kinofilm, „The Forgotten“, bei dem sie Regie geführt und das Drehbuch geschrieben hat, spielt in Lugansk. Er erzählt von der Trostlosikeit der Einwohner dort, von den Einschränkungen und Bedrohungen in ihrem Alltag durch die russischen Besatzer.
„Der Krieg kümmert sich nicht um unsere Angst. Er nimmt uns alles weg, alles auf einmal“, lässt Onyshchenko ihre Hauptdarstellerin Nina, eine junge Ukrainisch-Lehrerin (Marina Koshkina) sagen. Und deren Mann Yuri (Vasyl Kuharskyj): „Solange die Menschen Hoffnung haben, kann man sie manipulieren. Wenn sie von allem enttäuscht sind, dann wird es gefährlich.“
Der Film lief 2020 auf mehreren Festivals, unter anderem in Solothurn, Linz und Goa. Koshkina wurde für ihre Rolle mit dem ukrainischen Oscar „Golden Dzyga“ ausgezeichnet. Am 30. Mai wird er im Rahmen einer Benefizveranstaltung im Münchner Kino Neues Maxim zu sehen sein.
Onyshchenko beobachtet seit Jahren die Situation in der Ukraine und auch in Russland. Den Angriff habe sie immer befürchtet, sagt sie. Dennoch habe sie gehofft, dass es nicht passieren würde. Seit der Maidan-Revolution 2014 hatte sich viel getan in der Ukraine.
Von Wolodymyr Selensky war Onyshchenko anfangs nicht überzeugt gewesen. Sie kannte ihn aus der Künstlerszene und dachte: „Ein Schauspieler kann wohl schlecht Politik machen.“ In der momentanen Situation könne sie sich aber keinen besseren Präsidenten vorstellen. Weil er die Ukrainer zusammenhalte, weil er überzeugen könne, weil er es ehrlich meine. „Er ist einer von uns.“
Auf Kurzwelle: „Wahrheit für Russland“
Seit dem 9. April gibt es in München einen kleinen Radiosender, über den Onyshchenko zusammen mit Journalisten und Technikern Nachrichten aus der Ukraine und Interviews über Kurzwelle sendet. Täglich über 9670 kHz und drei Mal wöchentlich über 13600 kHz.
Der Sender heißt „Wahrheit für Russland“ und soll vor allem Menschen in Russland erreichen. Sie sollen über die Ereignisse aus nichtrussischer Sicht informiert werden, das ist das Ziel. Die Idee scheint zu funktionieren. Anders als im Internet besteht für Radiohörer kaum Gefahr, entdeckt und womöglich bestraft zu werden, wenn etwa von Krieg die Rede ist.
„Wir haben schon Rückmeldung aus Irkutsk und Wladiwostok bekommen“, sagt Onyshchenko. Vor zwei Wochen hat sie ein Interview mit Marina Litvinenko geführt. Sie ist die Witwe des 2006 ermordeten Putingegners Alexander Litvinenko und lebt in London. Damit der Sender weiterarbeiten kann, braucht es Geld, über die Crowdfunding-Plattform „Fundrazr“ sind bisher etwas über 5000 Euro zusammengekommen.
In den ersten Tagen nach dem Angriff hatte Onyshchenko am meisten Angst, dass die Ukraine in kurzer Zeit verloren gehen würde. Jetzt, als eine ihrer engagierten Sprecherinnen und als Kunstschaffende, wagt sie wieder zu hoffen auf Spaziergänge im blühenden Kiew.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 5.5.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München