Ukrainischer Straßenkampf
Kiew eliminiert russische Einflüsse aus Medien und Kunst und benennt Plätze und Straßen um
Dass eine der 296 Straßen, die gerade in Kiew umbenannt werden, den Namen von Roman Ratuschnij tragen soll, hat bei den Anwohnern regelrechte Begeisterung ausgelöst. Ratuschnij, der nur 24 Jahre alt wurde, ist im Donbass gefallen und vergangene Woche unter großer öffentlicher Anteilnahme in der ukrainischen Hauptstadt zu Grabe getragen worden. Zur Gedenkfeier auf dem Maidan, wo er als Teenager vor acht Jahren von der Spezialpolizei des Janukowitsch-Regimes zusammengeschlagen worden war, kamen Hunderte.
Ratuschnij hatte sich in Kiew als Aktivist einen Namen gemacht. Als einer, der gegen illegale Bauprojekte kämpfte. Sein Protest gegen Hochhäuser, die im Park einer beliebten Wintersportanlage gebaut werden sollten, mitten in der Stadt, hatte peinliche Enthüllungen und Gerichtsprozesse für mehrere millionenschwere Baulöwen gebracht. In den Augen der Ukrainer war Roman Ratuschnij ein Mehrfach-Held: Maidan-Kämpfer, Korruptionsbekämpfer, Russenbekämpfer.
Eine Straße in Kiew soll nun also Wulytza Romana Ratuschnoho heißen; bislang wohnten ihre Anwohner an der Wolgogradska. Und das ist nur der Anfang. Die Kiewer Stadtverwaltung hatte Ende April einen Prozess der „Derussifizierung“ und „Dekolonialisierung“ eingeleitet. Vor wenigen Tagen endete die Frist, bis zu der man über die Vorschläge abstimmen konnte.
Alle Einwohner der Hauptstadt waren aufgefordert gewesen, ihre Vorschläge einzureichen und dann über die digitale Bürger-App, mit der man in Kiew quasi alles vom Antrag für einen Pass über das Parkticket und die Heizungsrechnung bis zur Suche nach Luftschutzbunkern erledigen kann, ihr Votum abzugeben: jeder und jede für jede Adresse, jede Straße.
Von Eco bis Tolkien: Ausländer willkommen
Kiew will sich von russischen Einflüssen freimachen, dafür sollen nicht nur Medien, Kunst und Bildung, sondern auch Plätze, Wege, Metrostationen endgültig ukrainisiert werden. Das trifft nicht nur Namen aus der sowjetischen Nomenklatura und Alt-Kommunisten, sondern auch Dichter und Denker, selbst Flüsse und Städte.
Der Leo-Tolstoi-Platz soll, wenn es nach dem Vorschlag einer Expertenrunde geht, die alle Vorschläge – die eigenen und die aus der Bevölkerung – einer Prüfung unterzieht, künftig „Platz der Helden der Ukraine“ heißen. Die Moskowska Straße wird zur Straße der Kniaziv Ostrovskykh, einer polnisch-litauischen Dynastie, die sich um die ukrainische Kultur und Staatlichkeit verdient gemacht hatte. Die Piterska (St. Petersburger) Straße wird zur Londonska.
Die Kommission der Stadt hatte erwartbare und staatstragende Vorschläge gemacht – viele mit historischen Bezügen zu nationalen Freiheitskämpfern und Kosaken, zu ukrainischen Poeten und ukrainisch-jüdischen Schriftstellern, zu Schlachten und Regimentern. Es soll eine Straße der ukrainischen Renaissance geben, was sich auf das Erwachen der nationalen Literatur in den Zwanzigerjahren bezieht. Aber es sind auch Nicht-Ukrainer dabei, die der Sympathie mit Russland unverdächtig sind – etwa der italienische Autor Umberto Eco.
Aber zu jeder Umbenennung sind auch Vorschläge aus der Kiewer Bevölkerung gekommen, die sich mit großer Begeisterung an der Abstimmung beteiligte. Die einen nannten den Autor J.R.R. Tolkien, dessen Orcs aus „Herr der Ringe“ als Vorbild für das Schimpfwort dienten, mit dem die Ukrainer die Russen bezeichnen. Andere jene Städte, in die Verwandte ausgewandert sind, sei es Chicago oder New York. Orte, die in ihrem Kampf gegen die russischen Aggressoren einen Heldenstatus bekommen haben, sind darunter, etwa Mariupol oder auch die Industrieanlage Asow-Stahl. Waffensysteme werden genannt, Straßen sollen nach Militärgerät wie der Bayraktar-Drohne oder der Javelin-Luftabwehrrakete benannt werden.
Nationale Euphorie
Überhaupt kommt die nationale Euphorie, die sich mit der russischen Aggression noch einmal massiv verstärkt hat, überdeutlich zum Ausdruck: So ist auch der Vorschlag populär, den Name des umstrittenen Asow-Regiments, das Mariupol bis zuletzt verteidigt hatte, auf einem Straßenschild zu verewigen.
Die Stadtverwaltung begründet, wie auch die ukrainische Regierung, die umfassende Eliminierung russischer Einflüsse mit der Notwendigkeit, dem Angreifer nicht nur eine möglichst erfolgreiche militärische Verteidigung, sondern auch eine kulturelle Neuorientierung entgegenzusetzen. Bürgermeister Vitali Klitschko stellt dazu kritisch fest, dass es immer noch zahlreiche Straßen und Plätze gebe, die mit dem „Aggressor“ verbunden seien. Ihre Umbenennung bleibe dringlich.
Basisdemokratisch ist der Prozess, trotz der großen Beteiligung, übrigens nicht. Am Ende entscheidet die Stadt – oder hat in einigen Fällen schon entschieden. Es ist die „Straße der Familie Chochlowych“ („Wulyza Semi Chochlowych“), bisher benannt nach einer Gruppe sowjetischer Partisanen, die künftig nach einem US-Autor heißen soll, der sich dem historischen Trauma der großen Hungersnot, dem Holodomor, widmete.
Ein Anwohner, Maksym Berdnyk, hätte lieber den Namen „Innovations-Straße“ gehabt, etwas weniger Politisches, Unverbindlicheres. Er findet die Aktion super, aber ein bisschen weniger Nationalpathos wäre ihm ganz recht.
Das sieht der renommierte Historiker Wachtang Kipiani ganz anders. Auf Facebook postet er eine Stellungnahme, dass ihm die Vorschläge immer noch zu wenig prägend für eine neue, ukrainische Erinnerungskultur seien. Viele Nennungen beträfen Städte – aber es seien doch viel mehr noch Menschen, nationale Helden, die im russischen Angriffskrieg sterben oder in früheren Kriegen gestorben seien. Sie würden zu schnell vergessen, ihrer müsse man gedenken.
Kritische Stimmen wie im Osten des Landes sind in Kiew extrem selten zu hören. Bei einer spontanen Straßenumfrage gibt es erstaunte bis empörte Reaktionen auf die Frage, ob es sich nicht um eine viel zu radikale Eliminierung jahrhundertealter, russischer Einflüsse handele oder gar um Zensur.
Die Zustimmung ist überwältigend, wie auch die Bereitschaft, russisch zu sprechen, deutlich abnimmt. Auf ein „Spasibo“, russisch für „Danke“ und früher selbstverständlich in einer Unterhaltung, reagieren viele Ukrainer mit einer demonstrativen Korrektur: „Djakuju“. Ukrainisch für Dankeschön.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 26.6.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München