Maulkorb für MEMORIAL und meine Oma
Meine Großmutter schuftete im russischen Arbeitslager und wird jetzt aus der Geschichte getilgt
Frieda war eine unterkühlte Frau. Hart zu sich und all den anderen um sie herum. Sie konnte zuschlagen, sie konnte schreien, sie war „ohne Zeremonie“, wie Russen die Rücksichtslosigkeit zuweilen nennen.
Frieda sprach ihr Leben lang nur schlecht Russisch, auch wenn sie sowjetische Staatsbürgerin war. Etwas Liebevolles, das hätte sie wohl auch selbst gesagt, hatte sie nicht. Liebe sei etwas für die Katze, ja, sie sagte, für die Katze. Katzen könnten sich so etwas erlauben.
Sie aber, Frieda, sie müsse funktionieren. Im Leben, „hör zu, du Kind“, zählt das Überleben. Schwäche zeigen? Niemals! Stark sein? Immer! „Stell das bloß nie infrage, Kind.“
Dann ging sie leise in die Küche, rieb die Kartoffeln für die Kartoffelpuffer, brachte sie dann mitsamt der Pfanne zu Tisch. „Fresst!“ Die Puffer trieften vor Fett.
Frieda setzte sich nicht dazu, sie aß später, in der Küchenecke. Wortlos. Allein. Einsam. Wahrscheinlich war sie das ihr Leben lang.
Frieda war meine Großmutter. Eine Geschundene, staatlich Verfolgte. Rehabilitiert erst nach ihrem Tod.
Die falsche Nationalität
Das Leben hatte es nicht gut gemeint mit Frieda. Mit 16 bekam sie ihr erstes Kind. Alfred. Von seinem Vater sprach sie nie. Alfred hat einen russischen Nachnamen. Die Familie rätselte stets, ob es ein sowjetischer Offizier war, und war sich sicher, dass es keine freiwillige Schwangerschaft war. Alfred blieb sein Leben lang ein Ausgestoßener innerhalb der Familie. Von Frieda aber war er stets behütet, auch wenn Liebe etwas für die Katzen war.
Der Krieg begann, als Frieda 17 war. Sie hatte die falsche Nationalität. Deutsche. Deutsche mussten weg in der Sowjetunion. Weit weg bis nach Sibirien oder in die zentralasiatische Steppe. Sie könnten ja mit den Nazis kollaborieren.
Frieda wusste nicht, wo Sibirien war. Fort sollte sie dennoch. Sie packte ihre deutsche Bibel ein und wurde deportiert. Nicht nach Sibirien. Die anrückenden deutschen Soldaten sahen in ihr eine Volksdeutsche. Sie musste weg aus ihrem Haus, aus ihrem deutschen Dorf in der sowjetischen Westukraine. Heim ins Reich. Mit ihrem Alfred.
Sie lief und lief und fragte nichts. Sie wartete im Warthegau, im besetzten Polen. Stark sein. Für sich. Für Alfred. Sie schuftete auf Höfen in Thüringen, sie wusch, putzte, half. Wie lange? Wie schwer? Unter welchen Bedingungen?
Frieda schwieg. Sie schwieg ihr Leben lang. Im Delirium kurz vor dem Tod sprach sie von Hühnern, von umherlaufenden Hühnern und von Männern mit Waffen. „Sie kommen, sie jagen, sie kommen. Alfred, mein Alfred. Die Hühner müssen in den Stall.“ Was spielte sich in ihrem Kopf ab?
Der Krieg war zu Ende. Frieda wurde in einen Zug gezwängt. Zurück in die Sowjetunion. Raus aus der damals sowjetisch besetzten Zone, rein in den russischen Norden. Republik Komi. Schnee. Wald. Frieda und Alfred.
Und ein Witwer mit sechs Kindern. Ein Vater für ihren Alfred (der er nie wurde).
Sie nahm es hin, sie sollte die Mutter für diese sechs Halbwüchsigen werden (die sie alle verachtete) und Mutter für noch weitere sechs Mädchen und Knaben sein, die sie ihrem Richard gebar. Fast Jahr um Jahr.
Daneben Arbeiten im Lager. Bäume fällen. In der Kommandantur melden. Deutsche gehören überwacht. Zusammen mit den Ukrainern. Bis 1972 schuftete sie im nordrussischen Arbeitslager. In dieser Spezialsiedlung für Umsiedler.
Später zog die Familie an den Ural. Die ältesten Söhne ihres Richard hatten dort in den Fabriken Jobs gefunden. Sie gingen mit den kleinsten Kindern hin. Der Jüngste 13 Jahre alt, mein Vater. Sie kannten Hunger, Armut, harte Arbeit. Die Alten wie die Jungen. Sie kannten Gewalt und gaben sie weiter.
Eine Liste mit Namen und Zahlen
1992: Deutschland. Mit Frieda. Ohne Alfred. Ohne Richard. Alfred war für immer in Russlands Norden geblieben. Richard starb am Ural, ein Jahr vor der Übersiedlung.
Frieda hat auch im Zentrum Deutschlands nie ihre Rücksichtslosigkeit abgelegt. Sie kannte Wut, Geschrei, Gehorsam. Auch Stille. Allein in der Küche.
Frieda wurde schließlich krank. Sie starb, als ich 17 war. So alt wie Frieda, als der Zweite Weltkrieg begann, der Große Vaterländische, wie die Russen bis heute sagen. Frieda hat ihn nie so genannt. „Kriech“, sagte sie immer. Seufzend „Kriech“.
Ich war fast 30, als ich Friedas Namen fand. Auf den zahlreichen Listen der Bürgerrechtler von Memorial, welche die Verbrechen der Stalinzeit erforschen, die sie kartieren, ins Gedächtnis zurückholen. Seit 30 Jahren. Frieda, Alfred, Irma, ihre Tochter, meine Tante. Schon als staatlich Verfolgte geboren.
Memorial wurde ein Stück von mir. Der stalinistische Terror wurde ein Teil von mir, dieses gewaltige Trauma einer ganzen Nation.
Die Listen von Memorial, sie erzählen nichts, wie auch Frieda nichts erzählt hat. Die Listen, sie führen Namen auf und Zahlen. Viele Namen und viele Zahlen. Ihre Masse offenbart alles. Sie offenbart all das, was das heutige Regime nicht hören will, nicht sagen will, nicht wahrhaben will. Die Sowjetunion – ein Schreckensregime.
In der glanzvollen Geschichtsschreibung des heutigen russischen Staates darf das nicht stehen. Die Liquidierung von Memorial untermauert diese Haltung.
Die russische Führung will nicht über die sowjetischen Verbrechen reden. Ich will, dass sie darüber redet. Dass sie sich der Gewalt stellt. Der Gewalt, die die Sowjetunion ihren Bürgern angetan hat, die diese Bürger ihren Kindern und Enkeln antaten und weiterhin antun. Dass sie die Ursachen der Gewalt erforscht und die eigene Gewalt hinterfragt, den eigenen staatlich verübten Terror.
Ich will, dass die Geschichte kein Heldenepos ist, sondern dass im Gedenken Raum für Leid bleibt. Weil die Geschichte voller leidvoller Geschichten ist. Sie sollen in den Familien erzählt werden. Die Enkel sollen und dürfen sie hören. Voller Schwächen und Fragen und Zweifel.
Die Erinnerung könne nicht ausgelöscht werden, sagen die Unerschrockenen von Memorial nach dem schamlosen Urteil vom Dienstag. Ausgelöscht werden die Erinnerungsfetzen nicht, aber sie bleiben verborgen, unerzählt, vergessen letztlich. Wie die Geschichte von Frieda, die sie mit ins Grab nahm.
Ich will, dass dieser Staat humaner wird. Dass er nicht erniedrigt und verjagt, sondern ein menschliches Antlitz bekommt.
Für Frieda. Für mich.
Inna Hartwich lebt als Journalistin in Moskau. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 30.12.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung
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