Die russische Sprache gehört nicht Putin
Autorinnen und Autoren wehren sich gegen die Vereinnahmung ihrer Sprache durch Moskau
Einen Tag vor Kriegsbeginn, am 23. Februar 2022, erschien in der russischen literarischen Wochenzeitung Literaturnaja Gazeta ein offener Brief russischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, in dem diese zur Friedenssicherung eine „militärische Spezialoperation“ im Donbas und im Osten der Ukraine voll unterstützen. In hysterisch-pathetischem Tonfall hieß es dort unter anderem „Also wer will Opfer? Unsere [russischen] Truppen, die noch keinen einzigen Zivilisten absichtlich vernichtet haben? Oder diejenigen, die einen fortwährenden Sprachkrieg gegen die russische Sprache sowie einen Informationskrieg gegen das russische Bewusstsein führen?“ Für die Verfasser des Briefs fiel die Antwort klar aus: Schuld an allem trägt „der Westen“, der sich mit ukrainischen „Nazis“ gegen Russland verbündet habe.
Nach Angaben der Verfasser hatten bis Anfang März 500 russische Schriftstellerinnen den Brief unterzeichnet. Auch wenn man unter den Unterzeichnern vergeblich renommierte Autorinnen sucht, wird doch schnell klar: Hier lassen sich russische Kulturschaffende vor den Karren des Kremls spannen. Unter dem Vorwand, die russische Sprache und Kultur in und außerhalb Russlands zu verteidigen, rechtfertigen sie den sich abzeichnenden Krieg gegen die Ukraine.
Russische Sprache „nationales Eigentum“?
Das Argument ist nicht neu: Immer wieder hat Russland unter dem Vorwand, Russen und Russischsprechende zu schützen, militärische Eskalationen herbeigeführt, sei es 2008 in Georgien oder seit 2014 in der Ukraine. Dazu muss man wissen, dass Russland gewissermaßen Eigentumsansprüche auf die russische Sprache erhebt.
Nirgendwo ist das so deutlich formuliert wie bei der staatlichen Kulturstiftung Russkij Mir („Russische Welt“). Auf der inzwischen nicht mehr zugänglichen deutschen Website der 2007 durch einen Erlass Wladimir Putins gegründeten Stiftung hieß es noch 2021 zu den Zielen der Stiftung (sic): „Die Grundziele der Stiftung sind die Popularisierung der russischen Sprache, die das nationale Eigentum Russlands und das wichtige Bestandteil der Russlands- und Weltkultur ist, und die Unterstützung der Programme des Russischerlernens in der Russischen Föderation und im Ausland.“
Die russische Welt wird dabei weit gefasst, wie das folgende Zitat zeigt: „‚Russkij Mir‘ umfasst nicht nur Russen, nicht nur Einwohner Russlands, nicht nur unsere Landsleute in den Ländern des weiten und nahen Auslands, Emigranten, Auswanderer aus Russland und ihre Nachkommen. Das sind ausländische Bürger, die Russisch sprechen, lernen und unterrichten, alle Menschen, die sich aufrichtig für Russland interessieren und über seine Zukunft aufregen.“
Für viele Russischsprechende kommt dieser umfassende Vertretungsanspruch, der von der Stiftung formuliert und in der Politik des Kremls seit Jahren umgesetzt wird, einer Drohung gleich. Denn keineswegs alle Menschen, die Russisch sprechen, wollen sich vom Kreml vereinnahmen lassen, weder in Russland selbst noch darüber hinaus.
Auf eine besondere Weise trifft dieser russische Vertretungsanspruch diejenigen, deren wichtigstes Werkzeug Sprache ist: Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Und so ist es nicht erstaunlich, dass es russischsprachige Autoren sind, die spätestens seit 2014 Diskussionen darüber führen, wie man sich zur russischen Sprache, zu ihrer Nutzung als Literatursprache und zu Russland selbst positionieren soll.
Besonders intensiv wurden und werden diese Diskussionen in der Ukraine geführt, die einen großen Anteil von Russischsprechenden hat. Viele russischsprachige Autorinnen und Autoren, darunter beispielsweise die Poetin Ija Kiva und der Dichter Boris Chersonskij, entschieden sich nach 2014 dafür, vermehrt oder ganz auf Ukrainisch zu schreiben. Seit Kriegsbeginn hat sich diese Tendenz selbstredend noch verstärkt.
Die Sprache hat keine Schuld am Krieg
Das zeigt sich beispielsweise auf der Plattform „Poesie der Freien“, die das ukrainische Kulturministerium im März einrichtete, um dort Gedichte zum Krieg für die Nachwelt zu sammeln: Die Mehrzahl der über 20 000 Texte, die dort von jedermann hochgeladen werden können, ist in ukrainischer Sprache verfasst.
Doch nicht alle Russischsprechende sind bereit, ihre Sprache dem Kreml zu überlassen. Bereits 2017 hatte der ukrainische Dichter Alexander Kabanov unter dem Titel „In der Sprache des Feindes. Gedichte über Krieg und Frieden“ einen Gedichtband veröffentlicht, in dem er in russischer Sprache über den Krieg in der Ost-Ukraine reflektiert. Die Hauptthese des Bands ist dabei, dass die Sprache keine Schuld an der Politik treffe, sondern dafür stets Menschen verantwortlich seien.
In einem Interview vom 16. Mai 2022 wurde Kabanov noch deutlicher: „Russland hat kein Monopol auf die russische Sprache. Unser ukrainisches Russisch Putin zu überlassen, das wäre das gleiche, wie Hitler das Deutsche zu überlassen. Ich persönlich habe nicht vor, meine Sprache irgendjemandem zu überlassen.“
Diese Tendenz sehen wir auch in anderen Ländern, beispielsweise in Kasachstan. Das größte Land Zentralasiens hat auch 30 Jahre nach seiner Unabhängigkeit einen hohen Anteil an Russischsprechenden. Nicht nur ethnische Russinnen, sondern auch viele Kasachen und Angehörige ethnischer Minderheiten nutzen Russisch als Hauptverkehrssprache, es gibt eine lebendige russophone Literatur- und Kulturszene.
Dort macht man sich seit Jahren Gedanken darüber, wie man die russische Sprache bewahren kann, scheint diese doch gleich von zwei Seiten unter Druck gesetzt: Während der Kreml Kasachstans Russischsprechende für sich vereinnahmen will, wollen kasachische Nationalistinnen den Einfluss der russischen Sprache in Kasachstan begrenzen.
„Die russische Sprache – das ist Kasachstan“
Jurij Serebrjanskij, einer der führenden Vertreter der sogenannten Jungen Russischen Literatur Kasachstans überlegte schon 2019 in seinem Essay „Die russische Sprache – das ist Kasachstan“, ob sich die Diskussionen um die Nutzung der russischen Sprache in Kasachstan nicht entspannen würden, wenn man sie als etwas begriffe, das den russischsprechenden Bürgerinnen und Bürgern Kasachstans gehört, und eben nicht Russland.
Nach Kriegsbeginn hat sich die junge russophone Literaturszene Kasachstans nahezu geschlossen mit der Ukraine solidarisiert. Diese Solidarisierung zeigt sich nicht nur in der Teilnahme an entsprechenden Kundgebungen und durch Statements in den sozialen Medien, sondern auch literarisch. So widmete die kasachstanische Literaturzeitschrift Daktil ihre Märzausgabe „dem ukrainischen Volk und allen, die eine schwere Zeit durchmachen“. Weiter hieß es: „Wir sind für Frieden weltweit. Nein zum Krieg!“
Was wie eine Floskel klingen mag, ist in einer Zeit, in der zumindest in Russland offiziell nicht von einem Krieg gesprochen werden darf, ein politisches Statement. Es zeigt auch, dass russischsprechende Kasachstanerinnen nicht bereit sind, sich dem Sprachdiktat des Kremls zu unterwerfen.
Ein globales Kulturprojekt, das russophone Stimmen zum Krieg sammelt und öffentlich zugänglich macht, ist das Online-Portal ROAR, kurz für Russian Oppositional Arts Review. Initiiert von der im ost-ukrainischen Dnepropetrowsk geborenen israelischen Autorin Linor Goralik, versteht sich ROAR als Plattform für russische und russischsprachige Kulturschaffende, die sich und ihre Kunst in Opposition zu der dem „aktuellen kriminellen politischen Regime in Russland“ dienenden russischen Kultur sehen. ROAR, was im Englischen ja auch Gebrüll bedeuten kann, bietet ihnen eine Möglichkeit, ihre Stimme gegen den Krieg zu erheben und zu zeigen, dass sie – Russen und Russischsprechende – sich nicht von Putin vereinnahmen lassen.
Realisiert von einem dezentral arbeitenden globalen Freiwilligenkollektiv ist ROAR ein Paradebeispiel dafür, dass weder die russische Sprache noch die russische Kultur einem Land gehören kann. Und wie viele weitere Projekte zeigt es, dass die russische und russischsprachige Kultur jenseits der kriegstreiberischen, dem Kreml huldigenden Propaganda eine Zukunft hat.
Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS). Für ihre Dissertation über die Erinnerung stalinistischer Repressionen in der Gegenwart wurde sie mit dem Klaus-Mehnert-Preis ausgezeichnet. Sie ist Mitgründerin des Projekts „Russophone Voices“, das aktuelle Tendenzen in den globalen russophonen Literaturen erkundet.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen im IPG-Journal. Wir danken der Autorin und der Redaktion für die Erlaubnis, den Text auf KARENINA zu veröffentlichen.