Wimbledon: Spiel, Satz, Sieg Wladimir Putin
Der britische Tennisverband schließt russische Spieler vom Wimbledon-Turnier aus und hilft damit Putin
Erster Satz
Die diesjährige Wimbledon-Ausgabe, für viele der Höhepunkt der Tennissaison, hat diese Woche begonnen. Die Tenniswelt ist gespannt. Erster Wermutstropfen: Die BBC und alle Tennisliebhaberinnen und Tennisliebhaber werden dieses Jahr auf den Kommentator Boris Becker leider verzichten müssen, der aber zumindest am Fernseher zuschauen darf aus seiner Gefängniszelle in Huntercombe. Das perfekt gemähte und weltbekannte Londoner Gras begrüßt die Welt bei seinem traditionellen Tennisturnier.
Die ganze Welt? Leider nein. Putins Vernichtungskrieg in der Ukraine und die damit verbundenen Sanktionen des Westens äußern sich auch in der Welt des Sports. Zur Turnierteilnahme berechtigen in diesem Jahr nicht nur die sportliche Leistung, sondern auch das Glück, den richtigen Geburtsort vorweisen zu können. Dieses Glück haben Spielerinnen und Spieler aus Russland und Belarus leider nicht.
Der britische Tennisverband (LTA) hat in einem bemerkenswerten Alleingang beschlossen, potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus diesen Ländern auszuschließen. Neben Boris Beckers Expertise werden Tennisfans also unter anderen auch ohne die aktuelle Nummer eins der Herren, Daniil Medwedew, und die Nummer sechs der Damen, Aryna Sabalenka, auskommen müssen.
Als Begründung für diese Entscheidung, die von vielen als diskriminierend und völlig überzogen empfunden wird, wird aus London vorgehalten, dass Wladimir Putin einen möglichen Erfolg der russischen Spielerinnen und Spieler für seine Propaganda nutzen könnte. Eine Gefahr, die offensichtlich bei den kürzlich stattgefundenen French Open und auch bei den kommenden US-Open Ende August nicht so ernst genommen wird. Dort konnten und werden Spielerinnen und Spieler aus den beiden Ländern unter neutraler Flagge starten. Wimbledon oder die LTA gehen also einen Sonderweg, auf Empfehlung der britischen Regierung.
Nimm das Putin! Wimbledon 2022 ist kriegsbereit, der Rasen olivgrün und legt moralisch erstmal vor: Wimbledon – Putin: 1:0. Satzführung!
Zweiter Satz
Der Ausschluss, der einzig und allein auf die Herkunft der Spielerinnen und Spieler zurückzuführen ist, stieß in großen Teilen der Welt auf massive Kritik und wurde im Wesentlichen nur von ukrainischen Tennisspielerinnen und ‑spielern – die sich teilweise selbst an der Front befinden – begrüßt. Einer von ihnen ist Sergiy Stakhovsky, professioneller Tennisspieler aus der Ukraine, der derzeit sein Tennisracket gegen ein Gewehr eingetauscht hat und gemeinsam mit seinen Landsleuten die Heimat gegen die russische Invasion verteidigt.
Stakhovsky begrüßt nicht nur die Wimbledon-Entscheidung, sondern plädiert sogar dafür, dass andere Turniere sich ein Beispiel daran nehmen sollen. Stakhovskys Haltung ist verständlich. Er selbst leidet ja unter der allergrößten Ungerechtigkeit, weil er eben nicht seinem Beruf nachgehen kann, dem Tennisspielen, sondern sich in einem aufgezwungenen Krieg befindet.
Dennoch sollte man differenzieren. Schuld an diesem Krieg sind nicht die russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten, die sich auch nicht für den Krieg aussprechen, im Gegenteil. Der russische Spieler Andrey Rublev (derzeit Nummer acht der Welt) schlug sogar vor, dass mögliche Preisgelder an ukrainische Kinder gespendet werden. Aber auch das konnte die Entscheidungsträger in London nicht überzeugen.
Die Moral wackelt: Wimbledon – Putin: 1:1. Satzausgleich!
Dritter Satz
Als Konsequenz reagierten die Tennisdachverbände der Damen und Herren (WTA und ATP) mit einer Sanktionierung des Turniers, indem dieses Jahr keine Punkte vergeben werden. Diese Entscheidung intendiert, die vorherige Ungerechtigkeit zu neutralisieren, weil ja so niemand Punkte gewinnen oder verteidigen kann, nicht nur die Russinnen und Russen (und Belarussinnen und Belarussen).
Also nach dem Motto: Dann verlieren eben alle! Am meisten natürlich diejenigen, die im vergangenen Jahr besonders gut abgeschnitten haben, weil sie die verdienten Punkte nicht verteidigen können und somit einen massiven Absturz auf der Tennisweltrangliste hinnehmen werden. Wodurch natürlich wieder neue Ungerechtigkeiten entstehen und niemand wirklich zufriedener ist.
Aber auch das änderte die Entscheidung der Briten nicht. Symbolik ist schließlich wichtiger als Gerechtigkeit. Dennoch fader Beigeschmack. Ganz nebenbei: Der Russe Daniil Medwedew, wie erwähnt derzeit die Nummer eins des Herrentennis, wird aufgrund des Punktesystems im Tennis auch in den nächsten Monaten an der Weltspitze bleiben. Dazu hat eben auch diese Entscheidung der Macher von Wimbledon beigetragen. Wenn es darum ging, Putins Propaganda bezüglich erfolgreicher russischer Sportlerinnen und Sportler zu verhindern, ist das gründlich danebengegangen.
Ein enger und unfair erkämpfter, aber dennoch erfolgreicher Satz für Putin!
Wimbledon – Putin: 1:2! Satzrückstand!
Vierter Satz
Am härtesten trifft die ganze Kontroverse wahrscheinlich Novak Djokovic, den Titelverteidiger und auch diesjährigen Favoriten bei den Herren. Generell hat es Djokovic nicht leicht in 2022. Die meisten Tennisfans werden sich an die Australien-Saga im Januar erinnern. Damals war der Gegner des australischen Tennisturniers noch die Corona-Pandemie, personifiziert durch Herrn Djokovic.
Djokovic, seinerseits nicht geimpft gegen das Virus, reiste hoffnungsvoll an mit der Absicht, seinen dortigen Titel zu verteidigen. Trotz Spielgenehmigung und Visum wurde ihm die Einreise aber verwehrt. Dagegen klagte Djokovic, erzwang juristisch sogar temporär seinen Aufenthalt, wurde wenig später aber wieder vom Trainingsplatz abgeholt und letztendlich deportiert. Andere Spielerinnen und Spieler, die unter ähnlichen Voraussetzungen wie Djokovic bereits seit Wochen im Land waren und auch schon Matches bestritten hatten, wurden während dieses Prozesses auch zur Ausreise aufgefordert.
So wirkte alles gerechter im Nachhinein. Djokovic verlor dadurch 2000 Weltranglistenpunkte, die er nicht verteidigen konnte. In Wimbledon wird er zwar spielen dürfen, aber aus den erwähnten Gründen ebenfalls 2000 Punkte abgeben, selbst wenn er gewinnt. Bei den im August anstehenden US-Open darf Djokovic (heutiger Stand) wieder nicht einreisen. Nicht geimpfte Menschen, die dazu noch unglücklicherweise nicht die US-Staatsbürgerschaft besitzen, können weiterhin nicht in die USA reisen.
Der US-amerikanische Spieler Tennys Sandgren, ebenfalls nicht geimpft, wird in New York antreten dürfen. Djokovics Scheitern wird also am falschen Pass liegen, den er mit sich führt. In diesem Fall verliert er „nur“ 1200 Punkte, weil er letztes Jahr im Finale unterlag. Das macht insgesamt 5200 Punkte, die er aufgrund von politischen Entscheidungen in diesem Jahr abgeben wird.
Rechnet man dazu noch die prestigeträchtigen Turniere in Indian Wells, Miami und Cincinnati, kommt man schnell auf potenziell 8200 Punkte, die sich Djokovic dieses Jahr nicht wird erspielen können. Rein sportlich gesehen besteht wenig Zweifel, dass er bei allen erwähnten Turnieren sehr gute Chancen hätte. Zum Vergleich: Die aktuelle Nummer eins der Welt, der Russe Daniil Medwedew, verfügt aktuell über 8100 Weltranglistenpunkte.
Wettbewerbsverzerrung? Egal. Keiner mag wirklich Djokovic. Dafür hat spätestens die hysterische Weltpresse im Januar gesorgt. Wenn die politischen Entscheidungen ihm schaden, müssen sie richtig sein. Satzausgleich!
Wimbledon – Putin: 2:2.
Fünfter Satz: Jetzt kommt’s drauf an!
Unabhängig von Punkten und Sport ist die Entscheidung des Wimbledon-Turniers natürlich auch auf viel wichtigeren Ebenen hochproblematisch. Putins Überfall auf die Ukraine und die Unterstützung und Solidarität mit den Angegriffenen haben natürlich diesen Ausschluss motiviert. Aber auch wenn die Intention noch so gut ist, handelt es sich hierbei um ein Eigentor der Briten – oder um in der Tennissprache zu bleiben: ein verschenktes Break für den Gegner nach vier eigenen Doppelfehlern!
Beim Krieg in der Ukraine ist oft die Rede von der Verteidigung der gemeinsamen Werte, auf denen Demokratien gründen und die von Autokraten wie Putin angegriffen werden. Diese Werte berufen sich auf die allgemeinen Menschenrechte und sind in den Verfassungen von demokratischen Staaten verankert. Im deutschen Grundgesetz ist in diesem Kontext Artikel 3 (3) zu beachten: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Wenn nun aber Russinnen und Russen von Tennisturnieren ausgeschlossen werden oder aus dem Kulturbetrieb oder sonstigen Teilen des gesellschaftlichen Lebens nur aufgrund ihrer Herkunft, dann verteidigen wir diese Werte nicht, sondern unterlaufen sie. Und auch wenn die Briten keine richtige Verfassung haben, sind sie doch trotzdem Alliierte bei der Verteidigung dieser Werte – auch mit Boris Johnson.
Wimbledon und die britische Regierung haben in diesem Fall der Verteidigung der freiheitlichen Werte einen Bärendienst erwiesen. Wenn es um die Verhinderung der propagandistischen Ausschlachtung eines möglichen sportlichen Erfolgs seitens Wladimir Putins ging, dient eine diskriminierende Behandlung von Russinnen und Russen im Westen doch viel besser für Kriegspropaganda. Putin wird es freuen. Er kann sich eine weitere Trophäe der westlichen Doppelmoral in seine Vitrine stellen.
Also leider: Satzgewinn. Wimbledon – Putin: 2:3.
Und damit: Game, Set and Match Wladimir Putin.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 29.6.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der Berliner Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.