Ausschluss der Andersdenkenden?
Warum eine rationale Debatte über den Krieg und Waffenlieferungen kaum noch möglich ist
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist in Zielen und Mitteln ein Zivilisationsbruch, der die internationale Politik auf vielen Ebenen verändern wird. Dieser Krieg ist eindeutig nicht provoziert worden und illegal. Russland wurde für sein Verhalten zu Recht maximal isoliert und zahlt dafür einen hohen Preis. Der „Freiheitskampf“ (oder ist es ein Überlebenskampf?) der Ukraine verdient Unterstützung, auch wenn die hohe Zahl an Opfern und die massiven Schäden keinen Heldenmythos erlauben.
Dennoch gibt es unter professionellen Beobachtern sehr unterschiedliche Einschätzungen zur Frage, wer welche Verantwortung für die Lage trägt, ob dieser Krieg zu verhindern gewesen wäre, welche Kriegsziele Russland mit welchen Mitteln verfolgt und ob es sie erreichen kann – und was wir tun könnten.
Daran hängt auch die Frage, ob der Ukraine möglichst schnell und möglichst wirksame Waffen geliefert werden sollten. Besonders heftig wird darüber gestritten, ob Russland inzwischen ein faschistisches Regime geworden ist, mit dem schon deshalb kein Interessenausgleich möglich war, oder ob es „nur“ eine revisionistische Macht ist, die eingehegt werden kann.
Zunehmend die Runde machende „Putin-Hitler-Vergleiche“ verschärfen die Fronten im innenpolitischen Meinungsstreit und bereiten den Boden für eine Mobilisierung in einen Krieg mit Russland, vermutlich eher als Stellvertreterkrieg in der Ukraine. Das ist ein Ritt auf der Rasierklinge.
Die Debatte hat sich radikalisiert
Die öffentliche Diskussion spiegelt diese Kontroversen nur unzureichend wider. Der Diskursraum hat sich verengt. Die Unversöhnlichkeit der Argumente, das bewusste Missverstehen, die wechselseitigen Unterstellungen („Kriegstreiber“ versus „Beschwichtiger“) und vor allem der Verlust an Grautönen sind nicht nur eine persönliche Belastungsprobe für langjährige Freundschaften oder wissenschaftliche Netzwerke. Ich selbst kann von Tagungsausladungen und – was nicht nachweisbar ist, aber ins Bild passt – zunehmenden Nichteinladungen in etablierten Diskussionszusammenhängen meiner eigenen Community berichten.
Nach mehr als hundert Tagen Krieg hat sich die Debatte in diesem Land (erwartbar) radikalisiert. Das mag nicht das Hauptproblem sein – denn natürlich ist der eigentliche Skandal, dass durch den Zivilisationsbruch Russlands in der Ukraine Zehntausende unschuldige Menschen sinnlos sterben, die europäische und internationale Friedensordnung kaputt geschossen und die globalen Folgen – von Hungersnöten bis zu einer in Trümmern liegenden internationalen Sicherheitsarchitektur – massiv sind. Aber wer sich nicht augenblicklich dem Mainstream anschließt, der gilt in diesem Lande inzwischen als „fringe“.
Wir haben offenkundig nach zweieinhalb Jahren Abwehrschlacht gegen Querdenker, Wutbürger und Wissenschaftsleugner verlernt, auch kontroverse andere Standpunkte als legitime Debattenbeiträge wahrzunehmen. Diese werden stattdessen mit dem gleichen Abwehrreflex behandelt, der bei den Querdenkern legitim, richtig und notwendig war, der aber einen demokratischen Diskurs in solchen Momenten nicht nur behindert, sondern eigentlich unmöglich macht.
„Sie hat sich nicht entschuldigt“
Für eine demokratische Debattenkultur ist das fatal. Denn gute Lösungen entstehen nicht durch allgemeines Hinterherrennen hinter einem schmalen Meinungskanon, sondern durch Widerspruch und die Bereitschaft, Argumente abzuwägen.
Wir sollten uns aber den Luxus erlauben, distanzierter und damit abgewogener zu urteilen. „Sie hat sich nicht entschuldigt“ – so etwa die mediale Quintessenz des Auftritts Angela Merkels im Berliner Ensemble, mit dem sie ihre Russlandpolitik der vergangenen sechzehn Jahre zu erklären versucht hat.
Nun ist es zweifellos in Ordnung, die ehemalige Kanzlerin zu kritisieren. Aber wäre es nicht angemessener, die Grautöne der Kanzlerin in dieser Frage unaufgeregter wahrzunehmen und nicht über sie herzufallen, als ob nicht jede politische Entscheidung auch aus der jeweiligen Zeit zu erklären und zu beurteilen wäre?
Henry Kissingers und Klaus von Dohnanyis Mahnungen, einen Interessenausgleich mit Russland anzustreben, spiegeln sich ebenso wenig prominent im medialen Diskurs wider wie die kontinuierlichen kritischen amerikanischen Stimmen etwa von John Mearsheimer, einem der Großen der realistischen Schule der akademischen Lehre von den internationalen Beziehungen.
Der Versuch, letztgenanntem Kollegen ein relevantes Forum in Berlin zu organisieren, scheiterte jüngst. Die etablierten transatlantischen Organisationen behandelten ihn wie eine heiße Kartoffel.
Demokratie braucht Konflikt
Es gibt im Diskurs zu diesem Krieg unter professionellen Beobachtern und hinter den Kulissen auch in der Politik eine ganze Reihe sehr kontroverser Einschätzungen. Es gibt irrige Argumente und Propaganda, natürlich – und die gilt es zu entlarven. Auch in der Wissenschaft finden sich aber keine einheitlichen Bewertungen zu diesem Krieg, weder innerhalb der strategischen Studien noch unter Militärexperten noch unter den Osteuropawissenschaftlern (obschon es hier einen breiten Konsens gibt).
In den Talkshows dieser Republik spiegelt sich diese Breite selten wider, meist gibt es nur einen „Quotenabweichler“ (oft so dünn besetzt, dass er oder sie sich ideal als Pappkamerad eignet), über den dann der Rest der Runde genüsslich herfallen darf. Niemand behauptet, es könne keine kritische Diskussion mehr geführt werden oder wir seien gar bei einer medialen Gleichschaltung angekommen. Demokratie braucht jedoch Konflikt, und Demokratie braucht auch eine gemeinsame Basis und ein Mindestmaß an Ausgewogenheit und Respekt.
Wenn etwa jenen, die sich erlauben zu fragen, ob Waffenlieferungen an die Ukraine nicht eher Konfliktbeschleuniger sind, unterstellt wird, sie folgten damit dem russischen Narrativ, und wenn sie gar als „Putinfreunde“ diffamiert werden, dann wird eine rationale strategische Diskussion verunmöglicht. Denn natürlich kann es auch sein, dass mit Waffenlieferungen ein womöglich aussichtsloser Kampf der Ukraine nur verlängert oder blutiger wird. Und es ist ebenso denkbar, dass Russland aufgrund immer mehr westlicher Waffenlieferungen die Staaten, die dies tun, als Kriegspartei betrachtet und wir, ob gewollt oder nicht, am Ende doch in einen Krieg mit Russland hineingezogen werden.
Dass dieser am Ende auch nuklear eskalieren könnte, ist zumindest eine ernst zu nehmende Annahme, die nicht einfach mit der Forderung vom Tisch gewischt werden kann, dass man sich aus Sorge oder gar Angst davor nicht wie das Kaninchen vor der Schlange verhalten dürfe, weil man sich damit vollkommen erpressbar mache.
Gleiches gilt für die Frage, ob es klug ist, der Ukraine nun eine schnelle Beitrittsperspektive zur Europäischen Union zu verschaffen und sie damit unwiderruflich ins westliche Lager zu holen. Man mag mit jeweils guten Argumenten zu dem einen oder dem anderen Ergebnis kommen.
Es gibt aber nicht nur ein Richtig oder ein Falsch. Vor allem betreibt man nicht zwingend das Geschäft Russlands oder verrät die Ukraine, wenn man hier eine Minderheitenposition vertritt.
So hat Matthias Alexander in der Onlineausgabe der FAZ unter der Überschrift „Geländegewinne für den Deutschenversteher“ über meinen Auftritt in einer Sendung von Maybrit Illner, in der ich versucht habe, auf die Risiken von Waffenlieferungen hinzuweisen, und für einen Interessenausgleich mit Russland geworben habe, geschrieben: „Varwicks Reaktion ist ein weiteres positives Testergebnis, das dem Deutschenversteher Putin anzeigt, mit seiner psychologischen Kriegführung auf dem richtigen Weg zu sein.“
Zur Angst vorm Beifall von der falschen Seite hat Hans Magnus Enzensberger schon 1962 das Notwendige gesagt: „Wer ständig im feindlichen Feld nach Anzeichen des Beifalls Ausschau hält, macht seine Feinde zu Schiedsrichtern des eigenen Redens.“
Johannes Varwick hat den Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle inne. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 18.6.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.