Russisches Fernsehen aus Berlin
Ost West TV kritisiert Putins Krieg und wird auch in der Ukraine und Russland empfangen
Zur wichtigsten Konferenz des Tages ist die Chefredakteurin vom Flughafen zugeschaltet. Marija Makejewa holt einen berühmten Kollegen aus Moskau ab, der künftig für Ost West TV arbeiten wird, einer von vielen russischen Journalisten, die sich bei ihr in Berlin bewerben. Bis vor Kurzem war Ost West TV ein winziger russischsprachiger Privatsender in Berlin. Seit dem 24. Februar aber ist die Redaktion eine Zuflucht für Russlands bedrängte Medienschaffende, außerdem der letzte unabhängige russischsprachige Nachrichtensender Europas. Für die Redaktion bedeutet das alles, wie Makejewa etwas später zusammenfasst, „eine große Ehre, eine enorme Verantwortung – und viel Arbeit“.
Vorerst aber leitet sie am Bildschirm die Konferenz. Ihr Stab ist überschaubar, um den Laptop versammeln sich eine Handvoll Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Themen an diesem Tag Anfang Mai sind rasch identifiziert – Berichte von Evakuierten aus Mariupol, Merz in Kiew, eine Kabinettssitzung.
Das Entscheidende ist, wie in jeder Redaktion, die Gewichtung. Erst Scholz, dann Merz? Doch mit Mariupol aufmachen? Makejewa entscheidet zügig: Erst Mariupol, dann Scholz, dann Merz.
Der Sender beschäftigt etwas über 30 feste und freie Journalisten. Die meisten sind nicht in Deutschland geboren, sondern in Russland, der Ukraine, Kasachstan. Viele haben Journalistik oder Filmwirtschaft studiert, Islamwissenschaften oder Chinesisch – hier arbeiten Akademiker oder, nach der eher politischen russischen Terminologie: die Intelligenzija.
Eine Stunde später kommt Makejewa vom Flughafen, in Begleitung des neuen Kollegen. Karen Shainyan hat in Russland auf Youtube eine Serie namens Straight Talk With Gay People gemacht. Für Ost West TV soll er eine neue Sendung machen, Sa graniju, hinter der Grenze, über das Leben in Russland unter den Bedingungen von Sanktionen und Isolation.
Hilfe für Journalisten im Exil
Auch Michail Sygar arbeitet seit ein paar Wochen für Ost West. Sygar ist Ex-Chefredakteur des inzwischen eingestellten kritischen russischen Senders Doschd, Autor von Büchern wie „Endspiel – die Metamorphosen des Wladimir Putin“, Spiegel-Kolumnist. Für Ost West führt er Interviews mit Wissenschaftlern wie Frances Fukuyama und dem israelischen Politiker Natan Sharansky.
Um alle Journalisten einzustellen, die aus Russland fliehen, bräuchte Makejewa einen Sender von der Größe der ARD. Russlands bedrängte Medienschaffende treffen sich auf einem Telegram-Kanal namens Kowtscheg, Arche. „Vor Kurzem habe ich da ein Jobangebot für eine Stelle als Social-Media-Manager gepostet, eine bescheidene Position mit kleinem Gehalt. Das Ergebnis war erschütternd. Vier Tage lang habe ich Bewerbungen gelesen. Hunderte haben geschrieben, die meisten völlig überqualifiziert, einige sogar aus dem russischen Staatsfernsehen“, sagt Makejewa. Sie selbst lebt seit vier Jahren in Berlin und arbeitete zuvor – wie Sygar – für Doschd.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth unterstützt Journalistinnen und Journalisten aus Russland, der Ukraine und Belarus, unter anderem durch das neue Medienhaus JX in Exile in Berlin-Neukölln. Ost West ist etwas ganz Ähnliches, nur viel älter. 1996 gegründet als Informationsquelle in den russischsprachigen Ländern und Integrationshilfe für die russischsprachige Bevölkerung in Deutschland und Europa, hat der Kanal über Kabel in Deutschland 300 000 Abonnenten und eine halbe Million in der Ukraine – zumindest bis zum Kriegsbeginn –, dazu eine Million im Baltikum.
Infos zum Krieg auch für Russen
Als eine Korrespondentin unlängst aus dem ukrainischen Lwiw berichtete, musste sie sich nicht lange vorstellen, man kennt den Sender dort. Viele Zuschauer empfangen das Programm über die sozialen Medien – Facebook, Instagram, seit dem russischen Einmarsch auch Tiktok und Telegram. Auch eine Million Russen schauen Ost West über das Internet, sie können Facebook nach wie vor über VPN nutzen. Wer in Russland wissen will, was in der Ukraine geschieht, der kann es wissen.
Ost West sendet ein Vollprogramm, aber die Ressourcen reichen nur für wenige eigene Sendungen. Die Nachrichten oder der Wochenrückblick am Freitag mit Makejewa stammen aus den Studios in Berlin. Andere russischsprachige Inhalte stellen die Deutsche Welle, die BBC oder Radio Liberty zur Verfügung. „Ursprünglich bestand unsere Aufgabe darin, russischsprachige Zuschauer über Politik in Deutschland und Europa zu informieren“, sagt Makejewa: „Der Krieg in der Ukraine hat alles verändert.“
Der Krieg. Nicht die „Spezialoperation“, wie der Kreml seinen Feldzug stur euphemistisch nennt. Für das Wort „Krieg“ drohen in Russland bis zu 15 Jahre Haft. Ost West sprach von Anfang an vom Krieg. Vielleicht liegt es an dieser Haltung, dass die Spannungen zwischen Russen, Ukrainern und Deutschen, die so viele Freundschaften und Familien zerreißen, in der Redaktion nicht aufkommen.
Gewiss, viele haben Freunde in Russland verloren, die sich im Krieg auf die andere Seite schlugen, viele können erst einmal nicht nach Russland zurück. Und es gebe unter den Kollegen Differenzen darüber, wie der Westen auf den Krieg reagieren solle, sagt der Redakteur Wladislaw Iwanow, und die Meinungen reichten von Begeisterung für Scholz bis zu „großer, sehr großer“ Skepsis gegenüber Scholz. Aber Putin-Apologeten würden sich bei Ost West eher nicht bewerben – sie würden auch nicht genommen.
Stattdessen bietet Ost West seinen Zuschauern Leitfäden für Gespräche mit den Lieben in Russland, den Propaganda-Gläubigen, die den Krieg des Kreml nicht wahrhaben wollen. Makejewa zeigt in ihrer Sendung das virale Video einer schäumenden Ukraine-Hasserin – und stellt einer Expertin die Frage, ob man mit solchen Leuten noch reden solle.
Kein Aktivismus, Journalismus
Aber so sehr die Journalistinnen und Journalisten auf den Sturz Putins hoffen – die Grenze zum Aktivismus möchte niemand überschreiten. Sie folge dem Satz eines BBC-Journalisten, sagt Makejewa: Er empfahl Kollegen, die etwas verändern wollen, die Politik, aber jenen, die informieren wollen, den Journalismus: „Ich arbeite dafür, dass die Menschen wissen, was passiert, dann können sie ihre eigenen Schlüsse ziehen. Sie müssen die Wahrheit wissen – ganz einfach. Ob das Russland gefällt oder nicht, Deutschland, der Ukraine, ist dabei völlig egal.“
Aber für die Kreml-Hörigen unter ihren Zuschauern sind bereits die Fakten eine Provokation. In den ersten zwei Wochen des Kriegs sei der Hass in den Social-Auftritten des Senders so schlimm gewesen, dass sie die Kommentarfunktion abschalteten. Dennoch versucht der Sender, jene zu erreichen, die noch nicht ganz verloren sind, bemüht sich um eine betont nüchterne Sprache und meidet herabsetzende Wendungen, wie sie viele Ukrainer und selbst einige ukrainische Medien für russische Soldaten oder Russen allgemein gebrauchen – „Orks“ zum Beispiel, nach den Finsterlingen in „Herr der Ringe“.
Dass das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine eben doch deutlich komplexer als oft wahrgenommen ist, verkörpert ein Mann, der pfeifend und Witze reißend die Gänge auf und ab läuft. Peter Tietzki ist Geschäftsführer von Ost West, russisch-ukrainischer Jude mit Wurzeln in Odessa und Leningrad. Er spricht Russisch, liebt Ukrainisch, wurde am Konservatorium in Charkiw zum Pianisten ausgebildet und kam als Kontingentflüchtling nach Berlin, wo er im Hotel Kempinski Klavier spielte, ehe er für den einstigen russischen Medien-Zaren Wladimir Gussinski arbeitete und schließlich seinen eigenen Sender gründete.
Von Tietzki kann man lernen, was gerade das Schwierigste überhaupt ist: Differenzierung. Der ukrainische Botschafter? Erfülle seine Aufgabe, aber Melnyks Ansicht, dass alle Russen „Feinde“ sind, teile er nicht.
Die Kritiklosigkeit vieler Ukrainer gegenüber dem Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera? „Ich habe Verständnis dafür, dass viele ihn als Unabhängigkeitskämpfer vergöttern, aber natürlich kann ich mich dem als Jude nicht anschließen.“
Selbst die Putin-Anhänglichkeit vieler Russen rückt Tietzki in neues Licht: „Wenn Sie wüssten, wie viele es früher waren – unter den Russland-Deutschen, unter den jüdischen Russen. Es sind viel weniger geworden.“ Und ein kleines bisschen dazu beigetragen habe, natürlich, auch sein Sender.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 19.5.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München