Russland: Ein schreckliches Land
Keith Gessens tiefgründiger, trotzdem leicht zu lesender Roman über eine Rückkehr nach Moskau
Andrew Kaplan, 33, in Russland geborener und in den USA lebender säkularer Jude, hat einen Doktortitel in Russian Studies, kommt aber nicht zu einer Professur. Auch privat tut sich nichts, als sein Bruder, der mit seinen Geschäften einem Oligarchen in die Quere gekommen war, ihn bittet, die leicht demente Großmutter, einst Geschichtsprofessorin, in Moskau zu betreuen. Es wird eine Rückkehr in die Vergangenheit, ein Entdecken der Gegenwart in seinem Herkunftsland und die Frage, wie und wo will ich in Zukunft lebe zugleich. Klingt auf den ersten Blick nicht spektakulär. Doch das ist Keith Gessens Roman „Ein schreckliches Land“, spektakulär, aber ganz ohne Effekthascherei.
Andrew oder Andrej lebt also bald mit der neunzigjährigen Großmutter, die in den 1990ern „vom Kapitalismus ausgeplündert worden“ und nun verarmt war, in der Wohnung, die sie von Stalin für Verdienste zugeteilt bekommen hatte. Sie steht in einem inzwischen gentrifizierten Viertel, umgeben von teuren Cafés, Modeboutiquen und (ebenfalls teuren) Supermärkten. Andrjusch, wie Baba Sewa ihn nennt, geht mit ihr einkaufen, spielt Anagramm und schaut alte sowjetische Filme an, die ihr gefallen.
Er erkennt, dass die Russen seit seinem letzten Besuch als Stipendiat ein Jahrzehnt zuvor anders aussahen: „Sie waren gut gekleidet, hatten schicke Frisuren und telefonierten mit eleganten neuen Handys. Sogar die Grenzbeamten in ihren hellblauen, kurzärmeligen Uniformen waren guter Laune", stellt er fest. „Der Ölpreis stand bei hundertvierzehn Dollar pro Fass, und ihre Armee hatte gerade den Georgiern den Arsch versohlt.“
Die jungen Leute, denen er nach einer Anlaufzeit begegnet, schauen US-Fernsehserien und kennen sich insgesamt in den USA besser aus als er. Sie mokieren sich über die russische Regierung (damals unter Medwedew), kümmern sich aber nicht darum, etwas zu ändern, sondern pflegen ihre individuellen Ziele. Sie treffen sich in Etablissements, die für ihn, den Amerikaner, unbezahlbar teuer sind. „In den Cafés drängten sich gut angezogene Russen, die an unverschämt teuren Cappuccinos nippten“, denkt der Held verwundert. „Was war das für ein Scheiß.“
Eine junge Frau, an der er Interesse hat, macht ihn darauf aufmerksam, dass es in ihrem Alter altmodisch wirke, sich zu siezen – und fährt davon. Ein eifersüchtiger Mann, der aus einer schwarzen Limousine springt, schlägt ihn mit einer Pistole auf den Kopf. Und eine schöne Frau, die ihn zu sich nach Hause mitnehmen möchte, verhandelt über eine obligatorische „Reinigungsgebühr“. Was für ein schreckliches Land! Er findet es „zum Kotzen“.
Die andere Seite der Medaille
Aber schließlich lernt er die andere Seite Russlands kennen, die in westlichen Nachrichten keinen Platz finden neben all den Berichten über Demonstrationen und Verhaftungen, Korruption und Günstlingswirtschaft. Er stößt außerhalb des Zentrums, in einer anderen russischen Welt, auf ein Eishockeyteam, dessen Spieler landesgerecht fluchen können. Und er stolpert in eine Gruppe namens Oktober, Marxisten, die das Regime stürzen möchten, weil sie es so verstanden, „dass das Regime seine Kritiker und Gegner nicht deshalb einsperrte, weil es sich eine Erinnerung an die sowjetischen Politikmethoden bewahrt hatte, sondern weil es seinen Kunden (den Oligarchen) weiterhin ermöglichen wollte, Geld zu scheffeln. Es ging, wie überall, immer nur ums Geld. Wenn man das erst einmal verstanden hatte, wurden die wahren Konturen des modernen Russlands sichtbar; alles ergab einen Sinn.“ Das sieht schließlich auch Andrej so – und das liegt nicht nur an der etwas geheimnisvollen Frau, die er dort kennenlernt, Yulia.
Nach einem Jahr hat sich also privat etwas getan, aber beruflich stehen die Aussichten schlecht. Bis es doch Aussicht auf eine Stelle in den USA gibt. Was Yulia nicht gefällt (ihm auch nicht so recht), die sich nicht noch weiter von ihrer in Kiew lebenden Mutter entfernen will. Schließlich fällt Andrej eine Entscheidung für sich selbst: „Es waren meine Leute. Scheiß auf Amerika. Ich würde hierbleiben.“
Aber Andrew zweifelt auch: an der hin und wieder depressiven, aber stets hochmoralischen Yulia und seiner mangelnden Resilienz, am Sinn des Kümmerns um die Großmutter, die er ihrem Wunsch entsprechend zu Erlösen erwägt, am täglichen Trott des Lebens. „Was in New York zwanzig Minuten dauerte, dauerte hier eine Stunde. Was in New York eine Stunde dauerte, nahm hier fast den ganzen Tag in Anspruch. Es zermürbte einen. Genauso wie die Sorgenfalten auf den Gesichtern der Menschen. Und nach einer Weile auch die Lügen im Fernsehen.“
In solchen Momenten sagt er sich: „Ich könnte jederzeit wieder zu demjenigen werden, der ich vorher gewesen war. Mehr als die Rückkehr in die Vereinigten Staaten bräuchte ich dafür wahrscheinlich nicht.“
Der Held ist verstrickt in einem schrecklichen Land, das er gleichwohl zu lieben gelernt hat. Wer mehr über Russland wissen möchte, als Fernsehen und Internet bieten, ist mit diesem Roman gut bedient. Gessen hat ein nachdenkliches, gleichwohl mit leichter Hand geschriebenes Russland-Buch abgeliefert.
Ein schreckliches Land
Aus dem Englischen von Jan Karsten