Putins Ohnmacht
Hubert Seipel kreist 352 Seiten um Putin, aber weder er noch seine Macht werden sichtbar
Dieses merkwürdige Buch ist eine Mogelpackung. „Putins Macht“ hat der Verlag als Titel gewählt, aber um Putins Macht geht es gar nicht. Auch die Frage oder Behauptung des Untertitels, „warum Europa Russland braucht“, bleibt unbeantwortet. Was in dem Buch tatsächlich erzählt werden soll, gibt auf einer Seite zwischen der Inhaltsangabe und dem Prolog ein Zitat von Arthur Miller viel treffender wieder: „Eine geheimnisvolle Verschwörung ist im Gange.“
Die Verschwörung kommt bei Miller „aus dem Innersten der Hölle“. Seipels „hysterische Verfolgung Andersdenkender“ führt von Miller zu Mueller, nämlich von McCarthy in die Gegenwart, zur „Verschwörungstheorie der Demokraten“, wonach russische Geheimdienste die amerikanische Gesellschaft unterwanderten und Trump dank Putin ins Amt gekommen sei. Dafür, so Seipel, konnte der amerikanische Sonderermittler Robert Mueller „keine Beweise vorlegen“.
Diese „tägliche Wiederholung von der Gefahr aus dem Osten“ verdränge auch in deutschen Medien, dass die USA „weltweit Markführer sind, wenn es um flächendeckende Ausspähung und Abhören der Geheimdienste geht“. 1990 hätten sich die USA zum Sieger der Geschichte erklärt, 2018 (bei Seipel „achtunddreißig Jahre später“) habe Trump den amerikanischen Führungsanspruch auf die Welt unterstrichen, den finstere Mächte bedrohten: China und Russland.
In der Folge arbeitet sich Seipel ab am american exceptionalism, an der US-amerikanischen Wirtschaftsmacht als Waffe, die sich auch gegen Verbündete, Freunde gar richtet, an der Rolle der USA im Ukrainekrieg, an einem US-Botschafter, der durch Berlin irrlichterte – oder durch den Porzellanladen trampelte. Die lukrativen Geschäfte von Joseph Bindens Sohn bekommen ein eigenes Kapitel, darin ausführlich auch das Telefonat Trump-Selensky, und auch das Impeachment gegen Donald Trump hat eine eigene Nummer.
Das alles hat irgendwie schon auch mit Russland zu tun und mit Putin: die Fake News über einen angeblichen Cyberangriff eines der „größten Schurken der Welt, Wladimir Putin“ auf das Stromnetz von Vermont, die Sanktionen der USA gegen Russland. Aber nirgendwo wird über Putin und seine Macht erzählt. Was das ganze Buch durchzieht ist: Putins Ohnmacht.
Und so entsteht beim Lesen aus wachsender Verwunderung eine Vermutung: Seipel – oder Seipels Verlag – will einen Markt bedienen, in eine Marklücke schlüpfen. Sie sind nicht allein. Während nämlich die meinungsbildenden Medien in Deutschland nach Trumps Abgang aufatmen und sich wieder an den großen Bruder anschmiegen, hat USA-Bashing im Buchmarkt Konjunktur: Schöllgen/Schröder haben geliefert, auch Michael Lüders; bei letzterem heißt das Buch aber ganz dem Inhalt entsprechend „Die scheinheilige Supermacht“.
Seipels heikler Satz über NGOs
Natürlich beschäftigt sich Seipel auch mit Russland. Aber der Präsident, dessen Name im Titel steht, ist häufig eine Nebenfigur: So erfährt man, dass Seipel mit Putin im Flugzeug saß, als der zu Baschar al-Assad flog, und beim Rückflug der Irakkrieg als Auslöser des weiteren Geschehens in der Region nannte – den auch der Bundeskanzler 2003 abgelehnt hatte. Alles weitere über die jüngere Geschichte Syriens und Iraks (aber kein Wort von Putin) ist die Essenz von offenbar fleißiger Lektüre der New York Times, der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung.
Das Buch ist – wenn es überhaupt um Putins Politik geht – eher eine Verteidigungsschrift für den Präsidenten. Die „anhaltende Paranoia um die allmächtigen Cyberkrieger aus Moskau“ und den „PR-Sieg der amerikanischen Geheimdienste“ kontert Seipel mit Edward Snowdens Enthüllung über die weltweite Spionage des US-Geheimdienstes NSA. Heute heißt so etwas Whataboutism. Als machte das eine das andere wett und verzeihbar – oder selbstverständlicher, unbedingt hinnehmungspflichtig.
Aber der Höhepunkt ist damit noch nicht erreicht: „Spionage gibt es, seit es miteinander konkurrierende Nationen gibt“, schreibt Seipel lapidar. „Früher wurden Flugblätter abgeworfen oder Koffer voller Geld von A nach B geschleust. Heute gibt es“ – und jetzt wird’s heikel bei Seipel – „NGOs, das Internet, Facebook und jede Menge Daten.“
Liebe NGOs: Bei Seipel könnt ihr erfahren, warum ihr in Russland als „ausländische Agenten“ geführt werdet. Und auf diesem Feld, bei der Kujonierung der NGOs, wird nun tatsächlich mal Putins Macht sichtbar. Die im eigenen Land nämlich, über die das Buch gänzlich schweigt.
Es geht schließlich um Außenpolitik: Es geht um Fragen wie das „strategische Bündnis zwischen China und Russland“ oder die Kündigung der Abrüstungsverträge (inklusive Open Skies), natürlich zuerst durch die USA. Es geht um die Ausbreitung der Nato nach Osten, und um die Einschätzung der Bundesverteidigungsministerin, dass Russland seine Aufrüstung „in direkter Nachbarschaft der europäischen Union, unmittelbar an der Ostgrenze der Nato“ fortsetze, dabei habe sich doch die Nato, so stellt Seipel fest, „bis zur Ostgrenze (sic!) Russlands bewegt“.
Es geht um Europa auf der „Suche nach Gemeinsamkeit“, das „zunehmend zwischen neuer Wirklichkeit, alter Verbundenheit und nationalen Interessen hin und her schwankt“. Deutschland sehe sich mit Sanktionsdrohungen des großen Bruders konfrontiert, die USA handelten egoistisch und fühlten sich „nicht dem gleichen Humanismus verpflichtet“, wie Emmanuel Macron es nannte. „Wir befinden uns in Europa, genauso wie Russland“, zitiert Seipel zustimmend den französischen Präsidenten. „Und wenn wir es an einem bestimmten Punkt nicht schaffen, etwas Sinnvolles mit Russland anzufangen, wird eine grundlegende, unproduktive Spannung fortbestehen.“ Da hat er nun vollkommen Recht.
Lehrreiches und zum Denken Anregendes
Man erfährt bei Seipel, das soll nicht verschwiegen werden, auch Dinge, die in deutschen Zeitungen selten zu finden sind: dass Putins Bruder mit drei Jahren während der deutschen Belagerung Leningrads starb. Darüber kann man schon mal nachdenken – auch darüber, wie Derartiges auf Putin wirken mag.
Seipel erinnert auch daran, wie die EU zuletzt versucht hat, Geschichte als politische Waffe einzusetzen: mit dem bedauerlichen Beschluss des Europäischen Parlaments, den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 als Ursache für den Zweiten Weltkrieg zu erklären und damit der Sowjetunion die Hälfte der Schuld zuzuschreiben. Eine schamlose Umdeutung von Geschichte.
Erhellend in diesem Zusammenhang könnte es sein, über Seipels Hinweis zu reflektieren, dass die Polen Russland bis heute nicht als Befreier sehen, sondern als Komplizen Hitlers (und natürlich zurecht nach 1945 als Besatzer).
Interessante Gedanken fördert auch das Wissen darüber, wer von den aktuellen schärfsten Kremlkritikern in welcher transatlantischen „Lobbyorganisation“ sitzt.
Erstaunlich vielleicht auch für deutsche Zeitungsleser, dass es auch in der Ukraine Korruption gibt und gab, und was Julia Timoschenkos Haft und die westliche Forderung nach Freilassung und Ausreise zur Behandlung nach Berlin mit dem Assoziierungsabkommen zu tun hat.
Wer’s nicht weiß, lernt, dass Südossetien schon zu Sowjetzeiten einen Autonomiestatus gehabt habe. Oder dass 1963 ein Röhrenembargo dazu führte, dass später statt deutscher Firmen britische das Geschäft mit der UdSSR machten.
Auch für „journalistische Missionare“ und deren „Predigerton“ ist Platz und Zeit, ein paar Absätze zu Corona, zum Widerstand in der EU gegen „Deutschland first“ und auch Nawalny wird nicht vergessen: Er werde von Kremlkritiker Michail Chodorkowski unterstützt, kolportiert Seipel, und von einem im Ausland lebenden Oligarchensohn finanziert, Boris Simin (der bezahlte auch den Rückflug aus Berlin, den Cinema für Peace organisierte). Das ist tatsächlich in der deutschen Presse nicht unbedingt in den Schlagzeilen zu finden.
Aber was Hubert Seipel von Putin, den er doch immer wieder zu Gesprächen unter vier Augen trifft, und dessen Gedanken Neues, Erhellendes, Ergänzendes berichten könnte, ist leider kaum zu finde.
Dafür ein wirklich bedenkenswerter Satz ganz am Ende der Abhandlung, eine Prognose: „Europa wird stehen bleiben, wo wir schon nach dem Ersten Weltkrieg standen – in den Schützengräben. Der Krieg der Erinnerung anstelle der Erinnerung an die Kriege garantiert nur eines: Krieg.“
Putins Macht
Warum Europa Russland braucht