Goldstein: Ein faszinierender Einzelgänger
Die Prosa des russisch-jüdischen Schriftstellers Alexander Goldstein glitzert, glüht und vibriert
Geboren wurde er 1957 in Tallinn, in Baku wuchs er auf und studierte Literaturwissenschaft, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion emigrierte er nach Israel, wo er in Tel Aviv als Journalist für russischsprachige Zeitungen und Zeitschriften arbeitete, bis er 2006, im Alter von nur 48 Jahren, an einer Krebserkrankung starb: Alexander Goldstein, den viele für einen der bedeutendsten russischen Schriftsteller der jüngeren Zeit halten.
Wahr ist, dass sein schmales, aus autofiktionaler Prosa und Essays bestehendes Werk enorme Bildung und einen völlig unverwechselbaren Stil verraten: eine neobarocke, ornamentale Schreibweise, die zum Zweck maximaler Ausdruckskraft und einer Wiederverzauberung der Welt weder komplizierteste Satzkonstruktionen noch Metaphernballungen scheut. Goldstein geht es stets um Intensität, als Gegensatz zu Banalität. Wenn er das Pathos als Antidot gegen postmoderne Beliebigkeit und Gefallsucht verteidigt, spricht daraus nicht nur der Novalis-Kenner, sondern auch der Bewunderer von Yukio Mishima und dessen Samurai-Ideologie.
Der Band „Aspekte einer geistigen Ehe“, von Regine Kühn virtuos übersetzt und von Ekaterina Vassilieva mit einem informativen Nachwort versehen, wäre am ehesten als Essaysammlung zu bezeichnen, wobei einige der vierzig teils längeren, teils kürzeren Texte novellistische Züge „im Kleistschen Sinne“ (so der Autor in einem Interview) aufweisen.
Etwa wenn Goldberg in denkbar verdichteter Form Lebensläufe von russischen (oder anderen) Emigranten wiedergibt oder seine Aventüren mit Prostituierten schildert. Das heruntergekommene Freudenhaus in einer Tel Aviver Querstrasse lenkt ihn zunächst von seiner gescheiterten Ehe ab, bis er in der freundlich-drallen Russin Allotschka echten Trost und den Segen einer „geistigen Ehe“ zu finden glaubt. Doch nachdem er sie monatelang mit Geld, Geschenken und weiteren Liebesbekundungen verwöhnt hat, während er in seiner miesen Kellerwohnung zusehends vom Fleisch fällt, ist sie eines Tages spurlos verschwunden: mit einem Lover abgehauen, „raus aus dem Business“, wie es heißt.
Glitzern, glühen und vibrieren
Goldstein schildert seinen Abstieg in die Niederungen der Verzweiflung mit atemberaubender Verve und seine unruhigen Nachtträume mit betörender Sinnlichkeit: „Und wir traten hinaus ins jüdische Viertel von New York, es war jüdisch und auch rechtgläubig. Opferbrote, Klostergeläut, das Zweifinger-Kreuzzeichen, ein süßes Gebet nach dem Kagor-Wein, Pulverschnee, Pelze, Pferde, slawische Töchter, Küsse – und roter Ziegelstein, das rote, rostige Grün von New York, die Feuchte des Flusses. Die Bauten auf der parabolisch sich windenden Straße ballten sich bedrohlich in der unbestimmten Form eines Verbs.“
Was immer Goldstein erzählerisch und reflektierend anfasst, fängt zu glitzern, zu glühen und zu vibrieren an: Erinnerungen an das Jahr 1990 in der Erdölstadt Baku, als der armenisch-aserbaidschanische Konflikt schwelt und rassische Säuberungen beginnen, von denen auch Juden nicht verschont bleiben; einsame Spaziergänge in einem Tel Aviver Friedhof, die zu kulturgeschichtlichem Anschauungsunterricht werden (Wer wusste schon, dass der Arzt, Kulturkritiker und Verfasser der umstrittenen Schrift „Entartung“ Max Nordau hier ebenso ruht wie der Dichter Chaim Nachman Bialik?); Busfahrten durch die sengend heiße Stadt, die den Ich-Erzähler mit Einwanderern aus Afrika und Asien konfrontieren. Goldstein durchforstet alle Tel Aviver Milieus, auch die allerärmsten, denen er sich besonders verbunden fühlt, weiß er mitunter doch selbst nicht, wie er über die Runden kommen soll.
Vor Obdachlosigkeit schützen ihn nur eine Portion Glück und geistige Resilienz, zumal seine Belesenheit überwältigend ist. Von Büchern und ihren Verfassern handeln denn auch viele der Texte: von Milan Kundera und Roberto Calasso, von Robert Musil, Leonid Dobytschin und George Orwell. In einem hochinteressanten, heute besonders aktuell anmutenden Essay vergleicht Goldstein Camus’ Roman „Die Pest“ mit Antonin Artauds Manifest „Das Theater und die Pest“, dessen Message er in die Formel bannt: „Die Pest ist der stärkste Affekt, in dem sich die Epoche und ihre Bewohner ausdrücken.“
Gerechtigkeit, Authentizität und Revolution
Mit mündlicher Überlieferung befasst sich Goldstein in seinen Reflexionen über Rabbi Nachman von Bratzlaw, Mahatma Gandhi und Ernesto Che Guevara, betitelt „Drei Tröstungen durch Pathos“. Es geht um Gerechtigkeit, Authentizität und Revolution. „Existenzielle Authentizität; das ist es, was man, wie immer man auch rechnet, nicht imitieren kann“, schreibt Goldstein. Und: „Nur verrückte Handlungen erweisen sich als Gewähr für die Existenz einer alltäglichen ethischen Sphäre und ergänzen deren Erdung durch die Unbegreiflichkeit ihrer Abweichungen.“ Der Essay endet mit einem Zitat von Pessoa, das der Unvollkommenheit der Welt das Wort redet.
Goldstein zu lesen, ist anspruchsvoll, doch überaus lohnend. Man erfährt Erhellendes über Israels komplexe Verfasstheit, über die japanische Samurai-Kultur und den altägyptischen Totenkult, über Literatur aller Schattierungen und immer wieder über das Leben des Autors, das es an Abwechslung nicht fehlen ließ. Was sich aus alledem herausschält, ergibt das Porträt eines faszinierenden Einzelgängers, der mit bohrender Insistenz nach Momenten der Ekstase sucht.
Nach einer Verzückung, wo Wissen und Nichtwissen, Freud und Leid, Materie und Geist, Zeit und Raum verschmelzen und aller Fragerei ein Ende bereiten. Die Kunst kann solche Momente herstellen, wenn sie „zum magischen Voluntarismus mit bestätigten Resultaten ihres Zaubers“ wird. Nicht wenige Seiten von Goldsteins Buch zeugen davon.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 9.9.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung
Aspekte einer geistigen Ehe
Aus dem Russischen von Regine Kühn
Mit einem Nachwort von Ekaterina Vassilieva