Russlanddeutsche

Russlanddeutsche: Schweigen und Scham brechen

Wie Kinder der postsowjetischen Migranten ihrer Familiengeschichte sichtbar machen – und ihre Gegenwart

von Sofia Dreisbach
Russlanddeutsche Podcast X3: Ewige Nomaden?
'Der erste Russlanddeutsche+ und Postsowjet Podcast': Ani, Helena und Lulia bei der Arbeit.

Vor zwei Jahren war es noch einmal da, das Gefühl aus der Kindheit. Die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein. „Das war wirklich verstörend“, sagt Julia Boxler. In diesem Augenblick weiß die heute Fünfunddreißigjährige, dass die Kindheitserinnerung nicht trügt. „Ich habe mich wieder genauso machtlos gefühlt.“

Wie 1996, als Boxler, zehn Jahre alt, mit ihren Eltern und dem älteren Bruder aus Kasachstan nach Deutschland kommt. Es folgen drei Jahre in Übergangslagern, vier verschiedene Stationen. Ihr Vater ist Russlanddeutscher, die Mutter Russin. Eigentlich will die Familie nach Bayern zu Verwandten, aber der Verteilungsschlüssel lässt das nicht zu.

Stattdessen: Sachsen oder Brandenburg. Der Vater entscheidet sich für Brandenburg, weil es näher an Berlin ist. Was Boxler am stärksten in Erinnerung bleibt: die Ohnmacht ihrer Eltern vor der Bürokratie.

23 Jahre später, im Jahr 2019, fühlt sie die Ohnmacht wieder. Bis heute erinnert sie sich an jedes Detail dieses Tages. Diesmal geht es nicht um die eigene Familie, sondern um die einer Freundin, die aus Kasachstan übersiedeln will. Julia Boxler spricht inzwischen perfekt Deutsch, lebt in Berlin, kennt den deutschen Verwaltungsapparat, hat sich schon viele Jahre mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt. Doch das Grenzdurchgangslager Friedland, in dem die Freundin ankommt, retraumatisiert sie.

Nur weil Julia Boxler sich mit einem Beamten gut stellt, auf ihn einredet, argumentiert, darf die Freundin schließlich an ihren Wunschort Berlin weiterziehen, muss ihren Namen, Liza, nicht plötzlich mit s schreiben, ihren Sohn statt Luka nicht Lukas nennen. Diesmal hatte Boxler gewonnen. Doch das Gefühl der Machtlosigkeit, das war wieder da.

Es gab eine Zeit, in der sie damit gehadert hat, dass die Familiengeschichte sie immer wieder einholt. „Manche studieren Astrophysik, und ich beschäftige mich mit mir selbst“, dachte Boxler. „Aber ich quäle mich nicht mehr damit. Ich habe mich damit abgefunden, dass das nie vorbei sein wird.“

Podcasts, die Migrationsgeschichten erzählen

So wie ihr geht es vielen Menschen mit Migrationsgeschichte. In Deutschland leben dreieinhalb Millionen Erwachsene mit postsowjetischem Migrationshintergrund, laut jüngstem Mikrozensus von 2019. Sie sind Russlanddeutsche, sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge oder aus anderen Gründen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Migrierte.

Doch die Dynamiken ändern sich. Während die erste Generation zu großen Teilen sehr zurückgezogen lebt und vieles als gegeben hingenommen hat, wollen diejenigen, die als Kinder oder Jugendliche mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sind, ihre Migrationsgeschichte häufig sichtbarer machen.

„Es brodelte so in einem, und dann trifft man auf Leute, die das auch in sich tragen, und fängt an, sich auszutauschen“, sagt Helena Melikov dazu. Sie ist auch Russlanddeutsche und hat zusammen mit Julia Boxler und Ani Menua den Podcast X3 gegründet, den „ersten Russlanddeutsche+ und Postsowjet Podcast“, wie sie ihn nennen. Russlanddeutsche+ oder auch RD+ ist eine gängige Formel der Community, um möglichst viele Migrationsgeschichten einzuschließen, ebenso wie mit dem Begriff Post-Ost-Generation.

Wie sehr es in ihnen brodelte, zeigt das Tempo, in dem die drei jungen Frauen aus Berlin ihren Podcast auf die Beine gestellt haben: Beim zweiten gemeinsamen Treffen 2019 zeichneten sie schon eine Testaufnahme auf. Die erste Folge erschien dann am 14. Januar 2020, dem russischen Neujahrstag.

Wer die drei Frauen an dem schweren Holztisch in Prenzlauer Berg zusammensitzen sieht, über ihnen hohe Berliner Decken, kann kaum glauben, dass sie sich vor zwei Jahren erst kennengelernt haben. Sie lachen oft und herzlich, kennen sich in- und auswendig. Immer wieder stoßen sie sich gegenseitig auf Geschichten: „Erzähl doch mal, das war doch so krass.“ Vereinzelt ist ein russischer Halbsatz dabei.

Vor der Pandemie haben sie hier auch häufig ihren Podcast aufgenommen, in den Räumen von Melikovs Verlag Shift Books. Immer ohne lange Besprechung vorher, gleich die Mikrofone an, sonst gingen die besten Gespräche schon verloren. Manche Folge, sagen sie lachend, habe in einem Therapiegespräch geendet.

Im Podcast geht es um die eigenen und fremde Migrationsgeschichten, um aktuelle politische Fragen in Osteuropa, häufig besprochen mit Gästen. Die Folgen heißen etwa „Sind wir ewige Nomaden?“, „Mythos russische Seele“ und „Baby, für dich bin ich Russland!“.

Julia Boxler sagt, sie sei in den zehn Jahren, die sie sich intensiv mit ihrer Migrationsgeschichte beschäftigt, zwar schon ein wenig abgestumpft. Aber es sei auch „ein bisschen masochistisch, sich damit ständig zu konfrontieren“.

Immer wieder brechen alte Traumata auf. Immer wieder geht es um die Übergangslager, irgendwo in der Pampa am Stadtrand, um die Ausgrenzung, die anfängliche Sprachlosigkeit. Um die Blicke der Mitschüler, die laut und hinter dem Rücken geäußerten Vorurteile, um die Eltern, denen die Kinder bald bei Telefonaten und Behördengängen helfen mussten.

Von der Kluft zwischen Eltern und Kindern

„Die nächste Generation führt den Kampf auch stellvertretend für die Eltern“, sagt Sergej Prokopkin. Er ist 36 Jahre alt, lebt in Berlin und betreibt auf seinem Instagram-Kanal @s_prokopkin politische Bildungsarbeit. Prokopkin kam 2002 mit 17 Jahren aus Südrussland nach Deutschland, konnte kein Deutsch, ist als bald Volljähriger schnell in die Mühlen des Systems geraten: drei Jahre Ein-Euro-Jobs, später Hartz IV.

Durch eine Stiftung bekam er eine zweite Chance, sie bezahlte einen Sprachkurs, förderte ihn, er machte Abitur, studierte Jura. Seine Eltern hatten sich dagegen schnell angepasst, wie er es nennt, um über die Runden zu kommen: sie Reinigungskraft, er Bauarbeiter.

Prokopkin hadert mit der Kluft, die sich aufgetan hat. „Wir sehen unsere Eltern und wissen, wie es anders gehen könnte. Aber wir wissen auch, dass sie das nicht mehr schaffen würden.“ Es entstehe eine Lücke zwischen seinem Leben und dem seiner Eltern. „Und das schmerzt, das schmerzt enorm.“

Die Bezeichnung Russlanddeutscher nutzt er als „Arbeitsbegriff“. Als Russlanddeutsche werden die Nachfahren von Siedlern aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa bezeichnet, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen des Russischen Reichs niedergelassen hatten. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg wurden sie wegen ihrer deutschen Herkunft verfolgt, deportiert und zu Zwangsarbeit genötigt.

Deutschland nimmt Russlanddeutsche, die ihre Herkunft nachweisen können, als sogenannte (Spät-)Aussiedler auf. Den Begriff Russlanddeutscher hat Sergej Prokopkin erst in Deutschland aufgeschnappt, weil er so bezeichnet wurde. Heute sagt er: „Inzwischen ist das ein Empowermentbegriff im Sinne eines politischen Kampfs. Ich nutze ihn vor allem, um mich mit anderen zu verbünden.“

Das Schweigen brechen

In Berlin finden sich immer mehr Menschen der sogenannten Post-Ost-Generation zusammen, jene, die auf irgendeine Art und Weise Migrationsgeschichte aus dem Osten und der früheren Sowjetunion haben. Was viele über Jahre verdrängt haben oder verheimlichen mussten, ist in diesem Kreis eine Gemeinsamkeit. Prokopkin schreibt in einem Beitrag auf Instagram: „Bildet Banden!“ Ende 2019 gab es ein Initialtreffen. Julia Boxler hatte damals durch Zufall davon erfahren, doch von dem Treffen sind die drei jungen Frauen noch heute beeindruckt.

Ani Menua sagt: „Da war so viel Vertrauen in dieser Runde. Wir kannten uns nicht, und jeder hat extrem persönliche Dinge erzählt.“ Es sprießen seither immer neue Podcasts wie etwa Post Ost Pride, Sto Gramm und Steppenkinder und Plattformen wie Ostklick aus dem Boden, die eines gemein haben: Sie wollen die Themen der Post-Ost-Community sichtbarer machen. Hinzu kommen Dutzende Einzelpersonen wie Sergej Prokopkin, die in den sozialen Medien über ihre Migrationserfahrungen sprechen.

Julia Boxler sagt: „Wissen und Bewusstsein sind zwei verschiedene Dinge. Was für ein Wissen in einer Familie kursiert, ist das eine. Aber wie sich das Bewusstsein dafür verändert, wenn man sich die gesellschaftliche Bedeutung klarmacht, ist das andere.“

Für die jungen Frauen bedeutet die Auseinandersetzung mit der Geschichte jedoch nicht nur, alte Traumata aufzuarbeiten. Es ist für sie auch ein Zeichen der Selbstermächtigung, wie sie es nennen. Das Schweigen kommt, vor allem in russlanddeutschen Familien, oft schon aus der Großelterngeneration.

Erstmals von Zwangsarbeit gehört

Eine Podcast-Folge ist Melikov, Boxler und Menua bis heute besonders in Erinnerung, Nummer 34, über sogenannte Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen. Als Helena Melikov darin spricht, weiß sie nicht einmal vierundzwanzig Stunden, dass ihre Großmutter väterlicherseits von 1941 bis 1943 Zwangsarbeit in Deutschland leisten musste. Erst im Zuge der Recherche fällt der Sechsunddreißigjährigen eine Bemerkung der Eltern ein, die Großmutter sei im Zweiten Weltkrieg in Deutschland gewesen. Sie stutzt. Deutschland, wieso eigentlich Deutschland? Als sie nachfragt, zeigt die Mutter Helena Melikov einen Brief der Großmutter aus dem Jahr 1999.

Ihr Sohn ist da gerade zwei Jahre in Deutschland. Sie selbst listet für den Versuch einer Entschädigungszahlung auf, was ihr damals in diesem Land angetan wurde. Wie sie mit vielen Frauen in Kammern wohnte, wie sie verprügelt, ihr alle Zähne ausgeschlagen wurden, wie sie in Einzelhaft kam.

Es ist nicht zu überhören, wie viel Kraft das Thema abverlangt. Helena Melikov ist fassungslos über die neue Erkenntnis. Julia Boxler und Ani Menua können die Tränen nicht zurückhalten, es wird schwer geatmet und leise geschnieft.

Vier Monate später erzählt Helena Melikov, dass sie Dokumente gefunden hat, welche die Zwangsarbeit belegen. Die Mutter hilft, doch Helena Melikovs Vater tut sich schwer. Sie sagt: „Ich hatte wirklich Angst, ihm die Dokumente zu zeigen, weil er nichts davon wusste.“

Melikov passte den richtigen Moment ab, zeigte sie ihm, war auf alles vorbereitet. Er sagte: Mhm, okay, danke. Und ging weg. Seitdem haben sie nicht mehr darüber gesprochen. Melikov sagt: „Er will da emotional komplett Abstand haben. Ich lasse da jetzt erst mal etwas Gras drüber wachsen.“

Als ‚Russe‘ in Freital gemobbt

Ihr selbst fehlen viele Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Deutschland. Ihre Theorie ist, dass sie vieles verdrängt hat, es einfach zu viel war. Helena Melikov war elf, als sie im Dezember 1997 mit ihrer Familie aus Kasachstan nach Deutschland ging. Die Familie kam nach Freital in Sachsen, eine „sehr deutsche Ecke“, wie sie sagt. „Da wurde man viel als ,Russe' gemobbt.“

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und Geschichte erfolgte bei ihr in Wellen: Auf die Nächte in den Russendiscos in Osnabrück folgten „komplett deutsche“ Zwanziger, sagt Helena Melikov. Jetzt sei die aktive Phase. „Vorher habe ich viel verdrängt. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mich damit auseinanderzusetzen.“

Schon die Familiengeschichten der drei X3-Podcasterinnen zeigen, wie vielfältig die Community ist. Wie oft Begriffe wie Russlanddeutsche zu kurz greifen und wie ähnlich sich Migrationserlebnisse doch wieder sind. Menua ist am vorsichtigsten damit, was sie über sich preisgibt. „Es ist bei jeder von uns anders, worauf wir besonders stark reagieren“, sagt die siebenunddreißigjährige Philosophin und Schriftstellerin. „Für mich ist es wichtig, Grenzen zu wahren.“

Sie abstrahiert von ihren Erfahrungen, bevor sie darüber spricht. Sie war 13 Jahre alt, als die Familie aus Armenien nach Deutschland emigrierte. „Für mich ist das Eingewandertsein grundsätzlich ein Trauma, weil man sehr viel hinter sich lässt“, sagt Ani Menua, die vor zwei Monaten Mutter geworden ist. Zwei Drittel ihres Lebens hat sie in Deutschland verbracht, doch dass sie sich so viel mit dem Vorher beschäftigt, sieht sie als Zeichen des Traumas.

Der Versuch, den Akzent abzutrainieren

Für die allermeisten aus der Post-Ost-Generation sind es nicht nur die Traumata der Migration, mit denen sie immer wieder umgehen müssen. Es ist auch der Versuch, sich den eigenen Akzent abzutrainieren, es als Erfolg zu begreifen, wenn es gelingt. Immer wieder erklären zu müssen, wo denn Kasachstan liege, immer wieder die Aussprache des eigenen Namens korrigieren zu müssen.

Boxler spricht halb ironisch von ihrem „geilen Alman-Namen“, der ihr den Neustart im Gymnasium leichter machte. Gleichzeitig tanzt Berlin zu russischer Musik, sind Tattoos mit den Buchstaben des kyrillischen Alphabets in Mode, posen junge Leute für Fotos in der „Russenhocke“. Die russische Popkultur ist in.

Hin und wieder spielen die drei Podcasterinnen mit den Klischees. Auf dem Foto auf ihrer Website sitzen sie vor dem Dekoregal im Wohnzimmer von Julia Boxlers Eltern, hinter sich einen Zierteller und Matroschkas, vor sich Schichtsalat, gefüllte Eier, Champagner, Mors, den typischen Beerensaft. Ein bisschen Humor, ein bisschen Ernst, vielleicht die Erfolgsmischung der drei Frauen.

Das Haus ihrer Eltern in Brandenburg, ein Einfamilienhaus mit Terrasse und weitem Garten, nennt Julia Boxler liebevoll „meine große Datscha“. Hinter dem Haus stehen Beete und Obstbäume, für die Tomaten war es ein bombastisches Jahr, da wächst schon die zweite üppige Ernte, die Pfirsiche wollten dafür nicht so recht. Boxler ist gern in Zeesen, einem Stadtteil von Königs Wusterhausen, noch häufiger, seit ihr Sohn vor sieben Monaten geboren ist.

Vor den Aufnahmen für den Podcast telefoniert Julia Boxler meistens mit ihren Eltern, dann diskutieren sie auf Lautsprecher, und sie fragt nach Informationen, nach Erinnerungen, nach deren Meinung. „Ich mag es, wenn Sachen aufeinanderprallen, und forciere das manchmal auch in den Gesprächen.“ Sie sei wie eine Weltenwandlerin gewesen, sagt Boxler, aber meint nicht sich im glänzenden dunkelblauen Trainingsanzug, mit zwei großen Ringen an den Händen, auf der Kleinstadtterrasse ihrer Eltern.

Was sie meint, sind ihre Jahre in Kasachstan, die Rückkehr nach langer Zeit 2014, die sie auch in einem einstündigen Film mit sich selbst als Protagonistin verarbeitet hat. Damals pendelte sie für Dienstreisen immer wieder zwischen Berlin und Almaty, ist an dem Hin und Her „fast irre geworden“, wie sie sagt. „Ich habe mich dort sofort wohlgefühlt, als ob das davor das Fremde war. Das war das Schwierige.“

Doch nach zwei Wochen in Deutschland dachte sie auch wieder: „Okay, jetzt geht es wieder zurück in diese verrückte Welt.“ Ihre Eltern haben sie nie in Kasachstan besucht, auch wenn sie ständig telefoniert haben. „Ich habe ihnen das immer vorgehalten“, sagt Julia Boxler, „aber es hat ihnen wohl gereicht, was ich mitgebracht habe.“

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 17.9.2021 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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