Diktaturgeschädigte Jammerlappen
Sasha Marianna Salzmanns Roman zeigt, wie der Zusammenbruch der UdSSR Biografien zerstört hat
Als Sasha Marianna Salzmann 2017 mit dem Roman „Außer sich“ debütierte, war unschwer zu erkennen, was für ein außergewöhnliches Talent sich da zu Wort meldete. Prompt schaffte sie es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises und heimste mehrere Preise ein. Der Erstling zeichnete sich vor allem durch eine Erzählfreude aus, die virulente Themen wie Identität und Geschlechtszugehörigkeit so perspektivenreich und komplex verhandelte, dass nie der Verdacht aufkam, der Text wolle vor allem einen modisch-aktuellen Diskurs bedienen.
Der Nachfolgeroman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ scheint auf den ersten Blick weniger zu riskieren und auf leichtere Zugänglichkeit zu setzen. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass das, was Salzmann zu erzählen hat, dank einer klugen Struktur keine geringere Vielschichtigkeit aufweist, ja vielleicht sogar eine noch größere Souveränität verrät.
Die erzählte Zeit des Romans umfasst rund vier Jahrzehnte, beginnend in den 1970er-Jahren und 2015 endend, als eine Familienfeier die Protagonisten wieder zusammenführt. Vier Frauen sind es vor allem, die im Mittelpunkt stehen: die 1965 geborene Lena, die im ukrainischen Dnipropetrowsk zur Ärztin ausgebildet wird, ihre Freundin Tatjana und deren Tochter Nina sowie Lenas Tochter Edi(ta), eine Journalistin, die mit ihrer Mutter zahlreiche Kämpfe auszufechten hat.
Der allmähliche Verfall der UdSSR
„Im Menschen muss alles herrlich sein“ setzt auf fast gemächliche Weise in den 1970er-Jahren ein, als Lena im ukrainischen Horliwka aufwächst und Dinge erlebt, die ihr weiteres Leben prägen werden. In zarten, mit wagemutig-poetischen Metaphern durchsetzten Bildern taucht Salzmann in eine Kindheit hinab, deren Höhepunkte die Sommeraufenthalte bei der Großmutter in Sotschi bilden.
Nicht minder einfühlsam gelingen ihr die Passagen, als sich Lena in einem Ferienlager von einem Mädchen namens Aljoma, deren Fuß nach einem Autounfall verkrüppelt ist, angezogen fühlt. Dass man viele Seiten später fast beiläufig erfährt, dass Aljoma in die Psychiatrie eingewiesen wurde, ist eine der vielen kleinen, nicht selten tragischen Episoden aus dem Füllhorn an Geschichten, die Salzmanns Roman so reich machen.
Der Zeitrahmen des Buchs umfasst den mählichen Zerfall der Sowjetunion. Vertraut mit Einschränkungen, Gängeleien und Korruption, arrangieren sich Lena und ihre Familie anfangs wohl oder übel mit den Gegebenheiten. Dass Lenas schwerkranke Mutter nach der Behandlung durch eine betrügerische Ärztin, die sich für die falschen Medikamente Geld zustecken lässt, stirbt, gehört zu den zentralen Einschnitten in Lenas Leben. Sie wechselt deswegen ihr medizinisches Fachgebiet und behandelt fortan als Dermatologin solvente Männer, die unter Geschlechtskrankheiten leiden.
Als jedoch die „Zentrifugalkraft der Geschichte“ zu wirken beginnt und das sowjetische Reich zusammenbrechen lässt, entsteht in der Unsicherheit der postsowjetischen Zeit neues Chaos. Lena nutzt die Gelegenheit, ihre Heimat zu verlassen, um sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen.
Nun entfaltet sich der Roman zu einem höchst lebendigen Lehrstück, das veranschaulicht, wie die Menschen in der Sowjetunion der Suggestion erlagen, „in einem Land“ zu leben, „von dem es hieß, es gebe nur den einen Weg, nur eine Möglichkeit“, während in Wahrheit „ihre Realitäten so grundverschieden waren“.
Gleichzeitig demonstriert der Roman, dass mit der Vergangenheit auf höchst unterschiedliche Weise umgegangen wird. Vor allem die aufmüpfige, selbstbewusste Edi kann nichts mit den „diktaturgeschädigten Jammerlappen“ anfangen, die von einem vermeintlich schöneren Gestern träumen und in ihrer Not auf das Bewährte, auf die klassische russische Literatur zurückgreifen.
Suche nach Zuflucht in der Vergangenheit
Der ironisch gefärbte Romantitel, der den Bezirksarzt Astrow aus Tschechows Stück „Onkel Wanja“ zitiert, verweist auf diese Methode, Zuflucht in einer Vergangenheit zu suchen, die für die Gegenwart keine Rezepte mehr parat hat. Mit Tschechow, Gogol und Konsorten ist für die nachrückenden Generationen kaum noch ein Blumentopf zu gewinnen.
Sasha Salzmann ist ein fulminantes Buch geglückt, das vor allem in den Teilen, die in der Ukraine der 1970er- und 1980er-Jahre spielen, vor Erzähllust nur so vibriert. Diskutieren lässt sich darüber, ob da auch die zweite Romanhälfte mithalten kann. Manches wirkt nun zu gerafft, und der jähe Zeitsprung in das Jahr 2015, als Lena ihren fünfzigsten Geburtstag begeht, schafft eine empfindliche Lücke. Wie Sasha Salzmann dann freilich die Charaktere bei Lenas Feier aufeinanderprallen lässt, ist ein Bravourstück.
Dass es weder über die notdürftig zusammengehaltene Sowjetunion noch über die Zeiten danach eine kohärente, eingängige Erzählung gibt, macht der Roman am Ende mit einem Verweis auf physikalische Erkenntnisse deutlich: „Man sieht nie ein vollständiges Bild, und das ist das Wichtigste an der Heisenbergschen Entdeckung: dass es nie eine fassbare Wirklichkeit gibt. Nur den Wunsch, dass sich etwas als Ganzes begreifen und benennen lässt.“
Ist das nicht genau das, was Romane, die diesen Namen verdienen, leisten sollen, Romane wie Sasha Marianna Salzmanns „Im Menschen muss alles herrlich sein“?
Im Menschen muss alles herrlich sein
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 12.10.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung