Die Nato darf „feige“ bleiben
Nach dem Raketeneinschlag: Auf Kurzschlüsse der Schreibtischstrategen folgt das große Schweigen

Der Sturm im Wasserglas hat sich erstaunlich schnell gelegt. Eine Rakete war in Polen niedergegangen, zwei Menschen waren tot, und auf Twitter öffneten die Schreibtischstrategen und Scharfmacher die Luken. Es hieß, die Nato sei „feige“.
Zusammengefasst lautete der Kurzschluss der Eskalierer:
Jeder im Westen weiß, was geschehen ist.
Es war eine russische Rakete.
100 %
Die russische Behauptung, es sei eine ukrainische Abwehrrakete, erinnert an den MH17-Propagandanebel.
Der Nebel wirkt, weil westliche Führer es bequem finden, um ihre Tatenlosigkeit zu verdecken.
Zugespitzt: Der Kreml sorgt für Nebel, und die Appeaser nutzen ihn.
Vertraut nicht den Russen, sie sind als Lügner bekannt.
Es war eine russische Provokation; sie wollen die Nato testen.
Wenn die Nato keine starke Antwort gibt, werden sie weiter eskalieren.
Die Nato ist wieder feige. Sie halten die Wahrheit zurück.
Und nun zur Wahrheit
Inzwischen ist die Wahrheit heraus, es war eine ukrainische Rakete, und keiner der Scharfmacher entschuldigt sich. Übrigens auch nicht die Regierung der Ukraine, die noch sehr lang wider besseres Wissen an der Behauptung festhielt, die Rakete sei von Russland abgefeuert worden.
Es ist aber erlaubt, für deren Wunsch nach mehr und reichweitenstärkeren Waffen Verständnis zu haben. Letztendlich gehen alle Toten in diesem von Russland angezettelten Krieg nicht auf das ukrainische Schuldkonto, sondern auf das des Kreml.
Unsere Eskalierer verdienen jedoch kein Pardon für ihre Schnellschüsse.
Was bleibt?
Wir können aufatmen, dass derartige Scharfmacher Politik und Publizistik in der EU nicht bestimmen; dass Vernunft und Verantwortungsbewusstsein den Impuls beherrschen; dass Fakten geprüft werden und Schlüsse dann gezogen, Entscheidungen dann getroffen werden, wenn ein verlässliches Ergebnis da ist; dass erst gedacht wird, nicht geschossen; dass Kurzschlüsse vermieden werden, durch die die Nato zur Kriegspartei werden und es zu einem Weltkrieg kommen könnte.
Das sollte auch weiterhin Leitschnur sein, besonders bei der Lieferung von Raketen mit größerer Reichweite und bei der Forderung nach einer Flugverbotszone. Die Nato darf, sie sollte „feige“ bleiben.