Mathe, Massel, Menschenrechte
Zum Hundertsten: Die Mathematiker Isaak und Akiwa Jaglom und ihre Geschichte eines glücklichen Überlebens
Moskau im Jahr 1945: Isaak Jaglom hatte die mündliche Verteidigung seiner Dissertation an der Fakultät für Mathematik und Mechanik der Lomonossow-Universität gut überstanden und wartete auf das Urteil der Kommission. Da erschien der Doktorvater, Weniamin Kagan, und stürzte sich beglückwünschend auf seinen besten Schüler, um ihm zur ausgezeichnet bestandenen Verteidigung zu gratulieren. Aber Kagan hatte sich vertan und dem Falschen gratuliert: Das Jackett, das Isaak während seines Vortags getragen hatte, hing inzwischen wieder im Schrank seines Besitzers, Isaaks Bruder Akiwa, der es ihm für den besonderen Anlass geliehen hatten. So ähnlich sahen sich die Jaglom-Zwillinge, dass sich der Professor selbst nach mehreren Jahren noch nicht richtig zurechtfinden konnte.
Die Ähnlichkeiten zwischen Isaak und Akiwa Jaglom, zwei großen Mathematikern, deren Geburtstag sich am 6. März 2021 zum hundertsten Mal jährt, gehen aber weit über Äußerlichkeiten hinaus. Ein Blick auf ihr Leben eröffnet zudem nicht nur ein Fenster auf die Geschichte der Mathematik in der Sowjetunion. Er zeigt zugleich zwei erstaunliche Lebensläufe, die auch zentrale Wegmarken, Gefährdungen, Möglichkeiten und Grenzen jüdischer Biografien in der Sowjetunion zeigen.
Geboren wurden „Isja“ und „Kika“ in Charkiw (Charkow), der damaligen Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik, in eine Familie, die die Revolution zunächst freudig begrüßt hatte. Ihr Vater, Moisej, hatte schon bei den Wahlen zur vierten Staatsduma 1912 für die Bolschewiki gestimmt und schrieb für die jüdische Zeitung der sozialdemokratischen Partei Poale Zion (Arbeiter Zions) Beiträge zur internationalen Politik.
Poale Zion wurde von den Bolschewiki zwar als kommunistische Partei anerkannt, die nach der Revolution im Gegensatz zu anderen Parteien zunächst auch weiter existieren durfte. 1928, zu Beginn des „Großen Umbruchs,“ mit dem Stalin die Kollektivierung und forcierte Industrialisierung einleitete, schlug dann aber auch ihr Ende; sie wurde von der politischen Polizei aufgelöst.
Vor dem Eintritt in die Partei der Bolschewiki, erinnerte sich Moisej später, habe Gott ihn bewahrt. Ihr Onkel Jakow hingegen trat den Bolschewiki bei und machte zunächst auch Karriere als Chefredakteur der Zeitung Trud (1924 – 1929), wo er auch für die Satire zuständig war; später war er Abteilungsleiter am Volkskommissariat für Lebensmittelindustrie. 1938 wurde er verhaftet, zu zehn Jahren Lager verurteilt, tatsächlich aber erschossen.
Geschichte studieren unter Stalin? Das geht gar nicht
1926 zog die Familie nach Moskau. Akiwas Lieblingsfach war zunächst Geschichte. Doch auch dank der subtilen Hinweise des Vaters verstand er bald, dass er Geschichte kaum studieren könne. Die Geschichtsschreibung im Stalinismus war weit entfernt von Wissenschaftlichkeit und gänzlich den politischen und propagandistischen Zielen des Regimes unterworfen. Der Vater versuchte, das Interesse der zunächst widerwilligen Söhne auf Mathematik und technische Fächer zu lenken.
Er selbst hatte 1919 ein in Belgien und Warschau begonnenes Ingenieurstudium in Petrograd abgeschlossen und übte nun gemeinsam mit Kika und Isja das Lösen von mathematischen Aufgaben. Zudem, so Moisej, gebe es derzeit zwar keinen Antisemitismus. Falls es ihn später aber wieder einmal geben sollte, habe man es als Ingenieur doch einfacher denn als Lehrer.
Als das Interesse der 15-Jährigen für Mathematik gerade geweckt war, lernten sie 1936 in der Nachbarschule einen anderen sehr guten Matheschüler kennen – den gleichaltrigen Andrei Sacharow, der später als Physiker und Dissident berühmt wurde. Die Jagloms und Sacharow blieben sich bis zum Ende freundschaftlich verbunden.
Zwei Jahre später gewannen die Brüder gemeinsam den ersten Platz in der Moskauer „Mathematik-Olympiade“ und begannen ihr Studium an der Lomonossow-Universität. Akiwa schrieb sich in die Fakultät für Physik ein, Isaak in der für Mechanik und Mathematik. Beide besuchten aber viele Kurse gemeinsam und zeichneten sich von Anfang an durch sehr gute Leistungen aus.
Untauglich für die Armee, begabt für Mathematik
Dann, am 22. Juni 1941, überfielen die Deutschen die Sowjetunion. Beide Studenten meldeten sich freiwillig zum Einsatz in der Roten Armee. Stark kurzsichtig, wurden die Brüder aber für militärisch untauglich befunden und aussortiert. Stattdessen wurden sie mit ihrer Familie und vielen anderen Moskauern im Herbst 1941 aus dem bedrohten Moskau nach Swerdlowsk (Jekaterinburg) evakuiert, wo sie ihr Studium 1942 an der dortigen Universität abschlossen und schließlich – wieder gemeinsam – am aus Leningrad nach Swerdlowsk evakuierten Geophysikalischen Hauptobservatorium arbeiteten. Erst 1943 trennten sich die Wege Kikas und Isjas erstmals.
Akiwa wurde von dem großen Mathematiker Andrei Kolmogorow nach Moskau geholt und konnte dort am renommierten Steklow-Institut für Mathematik an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR eine Promotion beginnen. Isaak blieb in Swerdlowsk. Aber auch er konnte an der ebenfalls dorthin evakuierten Lomonossow-Universität ein mathematisches Dissertationsprojekt beginnen und dies 1945 – inzwischen wieder in Moskau – abschließen. Anschließend übersetzte er im Verlag für ausländische Literatur fremdsprachige mathematische Fachliteratur und wurde 1948 als Dozent an die Moskauer Universität berufen.
Akiwa Jagloms Entscheidung gegen Atomforschung
Die väterliche Warnung vor einem später vielleicht wiederauflebenden Antisemitismus bewahrheitete sich erstmals in den späten 1940er-Jahren, als das Stalin-Regime eine sich immer weiter verschärfende antisemitische Kampagne unter der Parole des „Kampfs gegen die wurzellosen Kosmopoliten“ führte. Auch an der Moskauer Universität wurden zahlreiche jüdische Professoren entlassen.
Isaak Jaglom war einer von ihnen. In der Kleinstadt Orechowo-Sujewo, 90 Kilometer von Moskau entfernt, konnte er sich an das dortige provinzielle Pädagogische Institut retten und dort bis zu Stalins Tod 1953 ausharren. 1956 etablierte er sich wieder am Moskauer Pädagogischen Institut und habilitierte sich dort 1964.
Akiwa überstand diese Jahre mit mehr Glück. Nachdem er seine Dissertation 1946 abgeschlossen hatte, wurde er von den Physikern und späteren Nobelpreisträgern Igor Tamm und Witali Ginsburg eingeladen, an der Theorieabteilung des Lebedew-Instituts für Physik zu arbeiten.
Zunächst war Akiwa begeistert. Theoretische Physik war zu seiner wissenschaftlichen Leidenschaft geworden. Doch dann erfuhr er, dass er am Lebedew-Institut zu Fragen forschen sollte, die zur Entwicklung der Atombombe wichtig waren. Es folgte eine schwere Entscheidung gegen seine Neigung und für seine ethischen Überzeugungen: Er schlug das Angebot aus.
Damit begann zugleich seine lange, fast ein halbes Jahrhundert währende Verbindung mit dem Labor für atmosphärische Turbulenz am Institut für Theoretische Geophysik der Akademie der Wissenschaften, dessen Leiter er in den frühen 1960er-Jahren werden sollte.
1955 wurde Akiwa habilitiert und übernahm zusätzlich eine Professur am Institut für Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik der Lomonossow-Universität. Eine wichtige, 1952 von ihm veröffentliche Arbeit erschien erst in deutscher („Einführung in die Theorie der stationären Zufallsfunktionen“) und dann in englischer Übersetzung in den USA. Für Akiwa schien nun fast alles gut zu laufen.
Folgenreiches Engagement für Menschenrechte
Aber mit dem Ende der Chruschtschowschen Liberalisierung und dem Beginn der Dissidenten- und Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion ab Mitte der 1960er Jahre begann auch für die Jaglom-Brüder eine neue Zeit. Die Jugendfreunde Andrei Sacharows engagierten sich als Unterstützer von Dissidenten und Menschrechtsaktivisten.
Als im Februar 1968 der Mathematiker und Dissident Alexander Jessenin-Wolpin – Sohn des Dichters Sergei Jessenin – zwangsweise in eine Psychiatrie eingeliefert wurde, formte sich dagegen sofort Protest unter seinen Kollegen. Isaak und Akiwa waren Mitunterzeichner des offenen „Briefs der Neunundneunzig“, mit dem tatsächlich weit mehr als hundert sowjetische Mathematiker der Moskauer Universität am 9. März 1968 die sofortige Freilassung Jessinin-Wolpins forderten. Die Repressionen ließen nicht lange auf sich warten.
Beide Jagloms verloren ihre Posten. Isaak wurde vom Moskauer Pädagogischen Institut entlassen und musste sich danach als Lehrer am Metallurgischen Abendinstitut Moskau verdingen. Akiwa verlor seine Professur an der Lomonossow-Universität, konnte aber seine Stelle am Labor für atmosphärische Turbulenz aber halten.
Auch die 1970er- und frühen 1980er-Jahre blieben für beide schwierig. So konnte Isaak aufgrund antisemitischer Einstellungen seine Bücher nicht mehr im renommierten Nauka-Verlag publizieren.
1974 fand er zwar eine Anstellung an der Universität Jaroslawl, knapp 300 Kilometer von Moskau entfernt; wurde aber auch dort entlassen, nachdem er sich Anfang der 1980er-Jahre positiv über Sacharow geäußert hatte. Zugleich wurde ihm die allgemeine Lehrerlaubnis entzogen. Akiwa gelang es nicht mehr, ein zweibändiges Werk in der Sowjetunion zu veröffentlichen; es erschien dafür 1987 als „Correlation Theory of Stationary and Correlated Random Functions“ im Ausland.
Anerkennung für Akiwa in den USA
1988 starb Isaak Jaglom mit 68 Jahren. Seine Gesundheit war zuletzt angegriffen. Für Akiwa begann jedoch noch ein weiterer Lebensabschnitt, der ihn nach dem Ende der Sowjetunion in die USA führte. Noch 1988 wurde ihm von der American Physical Society der Otto-Laporte-Preis verliehen „für seinen grundlegender Beitrag zur statistischen Theorie der Turbulenz und zur Untersuchung der ihr zugrunde liegenden mathematischen Struktur.“
1992 folgte er seinen Kindern in den Westen und wurde Research Fellow am Department of Aeronautics and Astronautics am Massachusetts Institute of Technology. Die MIT Press hatte schon 1971 und 1975 sein mit Andrei Monin 1965 und 1967 veröffentlichtes zweibändiges Werk "Statistical Fluid Mechanics" in Übersetzung veröffentlicht. Er starb 86-jährig im Jahr 2007. Die Lewis-Fry-Richardson-Medaille der European Geosciences Union „für seine herausragenden und bahnbrechenden Beiträge zur Entwicklung statistischer Theorien der Turbulenz, atmosphärischen Dynamik und Diffusion, einschließlich spektraler Techniken, stochastischer und Kaskadenmodelle“ konnte ihm 2008 nur noch posthum verliehen werden.
Akiwa Jagloms Arbeiten gelten auch heute noch als wichtige Handbücher. Isaak Jaglom hat sich vor allem als Autor vielgelesener pädagogischer Werke zur Mathematik und insbesondere Geometrie einen bleibenden Namen gemacht.
Im Rückblick sehen wir also ein sehr gemischtes Bild. Die Biografien der beiden Jaglom-Brüder sind gezeichnet von den Narben ihrer Zeit. In anderer Hinsicht wurden sie aber auch durch einige Strömungen erst hochgetragen.
Es waren zunächst steile Karrieren, die im Zarenreich mit seinen vielen institutionalisierten Einschränkungen für Juden kaum vorstellbar gewesen wären. Die sowjetische Förderung gerade der technischen und naturwissenschaftlichen Forschung tat ein Übriges. Aber der Rat des Vaters an die Söhne, sich in einem „unpolitischen“ und vermeintlich auch von Antisemiten weniger angreifbaren Feld zu betätigen, hat sich nur als bedingt richtig erwiesen, denn auch als Mathematiker wurden sie in der Nachkriegssowjetunion – zumal als integre und menschenrechtlich engagierte Persönlichkeiten – verschiedenen Repressionen ausgesetzt und hatten unter Einschränkungen und Benachteiligungen zu leiden.
Vor allem aber ist es vielleicht eine Geschichte auch des Überlebens. Die Kurzsichtigkeit der Zwillinge rettete sie 1941 vor dem Kriegsdienst und dem damit verbundenen wahrscheinlichen „Heldentod“. Und der Umzug der Jagloms 1926 von Charkiw nach Moskau kam nicht nur dem Holodomor wenige Jahr zuvor, der die damalige ukrainische Hauptstadt schwer traf und zehntausende Opfer forderte. Er verhinderte auch, dass die Leben der Familie Jaglom vorzeitig endeten in der Maschinerie des nationalsozialistischen Völkermords, den die Deutschen von 1941 an über die westliche Sowjetunion brachten. Vielleicht kann manchmal gerade das Nicht-Geschehene am wichtigsten sein – und vielleicht gerade aus deutscher Perspektive.