Nawalny

Nawalnys Vorgänger: Davids gegen Goliath

Wer sich wie Nawalny gegen den Staatskoloss stellt, wird aufgerieben – das hat in Russland Tradition

Aus der Sammlung des Staatlichen Religionsmuseums: Awwakum auf dem Scheiterhaufen von Pjotr Mjassojedow aus dem Jahr 1897

Der Oppositionelle Alexei Nawalny hat sich sehenden Auges in die Klauen des russischen Leviathans begeben. Er wird sicher bis Herbst 2023 in Haft bleiben, wahrscheinlich werden aber weitere Verurteilungen mit erheblich längeren Gefängnisstrafen dazukommen. Dass ein Einzelner sein persönliches Wohlergehen für ein gefährliches politisches Engagement opfert, ist in Russland ein bekanntes kulturelles Muster.

Der Protopope Awwakum (1620 – 1682) protestierte gegen Kirchenreformen und endete auf dem Scheiterhaufen. Alexander Radischtschew (1749 – 1802) prangerte die Leibeigenschaft an und vergiftete sich selbst. Alexander Herzen (1812 – 1870) kritisierte die Autokratie und ging freiwillig ins Exil. Alexander Solschenizyn (1918 – 2008) dokumentierte den Gulag und wurde aus der Sowjetunion ausgewiesen. In all diesen Fällen stand nicht die Kultivierung eines Opferstatus im Vordergrund, sondern die Überzeugung, dass das eigene Leben hinter der größeren Wahrheit zurückzustehen habe.

Werke des Antichristen: Petrowitsch Awwakum

Das 17. Jahrhundert war in Russland ein Zeitalter der Umbrüche. Das Zarenreich wurde von Aufständen erschüttert, eine Kirchenreform spaltete die Gesellschaft. Awwakum hatte sich in aller Entschiedenheit gegen Veränderungen des orthodoxen Ritus gewandt und sie als Werk des Antichristen gedeutet. Dabei legte er sich nicht nur mit dem Patriarchen, sondern auch mit dem Zaren selbst an.

Er wurde nach Sibirien verbannt und dort wiederholt eingekerkert und gefoltert. Als er dem Monarchen in einem besonders scharf formulierten Schreiben die Hölle androhte, wurde er bei lebendigem Leib verbrannt.

Awwakum hat sein kirchenpolitisches Engagement in einem Text festgehalten, dessen literarische Qualitäten von Turgenjew, Tolstoi und Leskow hoch geschätzt wurden. Awwakum stellt sein eigenes Leben als Martyrium dar, das den biblischen Mustern von Hiob, Lazarus und letztlich Christus selbst folgt. Er schildert, wie er Wunder wirkt und Kranke heilt.

Man sollte Awwakum allerdings keine Realitätsverzerrung vorwerfen. Der Protopope war überzeugt, dass seine Biografie bereits vom göttlichen Autor geschrieben worden war und dass er diesen Entwurf mit seinem Leben nur ausfüllte. Dieses Modell erfüllte ihn mit einer unerschütterlichen Heilsgewissheit, die sein Leiden zum Nachweis für die Richtigkeit seiner Position erhob.

In den Suizid getrieben: Alexander Radischtschew

Alexander Radischtschew gehört zu den Wegbereitern der Aufklärung in Russland. In seiner „Reise von Petersburg nach Moskau“ (1790) schilderte er die prekäre Lage der Leibeigenen, die von Willkür, Gewalt und Grausamkeit geprägt war. Der literarische Bericht über diese Missstände enthält verschiedene Exkurse. In einem Kapitel fordert Radischtschew die Abschaffung der Zensur, in einem anderen sieht er sich in einem Traum selbst auf dem Thron, wo ihm eine Pilgersfrau, die sich als „die Wahrheit“ zu erkennen gibt, die Augen öffnet: Seine Kleider sind blutbefleckt, an seinen Händen klebt Menschenhirn, die Füße stecken im Morast.

Natürlich konnte dieses Werk nicht offiziell erscheinen. Radischtschew gab seine „Reise“ anonym im Selbstverlag heraus und verschickte das gedruckte Buch an seine Freunde. Katharina die Große ließ den Verfasser verhaften und vor Gericht stellen. Ein ursprüngliches Todesurteil wurde in eine zehnjährige Verbannung nach Sibirien umgewandelt. Nach seiner Rückkehr wurde Radischtschew an den starren Strukturen der Zarenherrschaft irre und nahm sich verzweifelt das Leben.

Kampf gegen den Zaren: Alexander Herzen

Alexander Herzen genoss als unehelicher Sohn eines Adligen eine ausgezeichnete Bildung, blieb aber selbst von der Hofgesellschaft ausgeschlossen. In einer durchaus romantisierenden Selbstsicht schrieb Herzen 1850 in einem Brief an den Revolutionär Giuseppe Mazzini: „Seit meinem dreizehnten Lebensjahr bis heute habe ich einer einzigen Idee gedient und bin unter einer einzigen Fahne marschiert – Krieg gegen alle auferlegte Autorität, gegen jede Form der Be­schränkung der Freiheit, im Namen der absoluten Unabhängig­keit des Einzelnen.“

Bereits als junger Mann hatte Herzen wegen regierungskritischer Umtriebe einige Jahre als Kanzlist in administrativer Verbannung verbracht. 1847 entschloss er sich zur Emigration und arbeitete als freier Publizist zunächst in der Schweiz und später in London.

Herzen führte einen erbitterten Kampf gegen den autoritären Zaren Nikolaus I. Der „oberste Feldwebel“ erscheint in Herzens Darstellung nachgerade als Verkörperung des Bösen. Mit dem Tod des Zaren im Jahr 1855 kam Herzen allerdings der wichtigste Gegner abhanden. Die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 ließ ihm wenig Raum für Fundamentalkritik. In seinen letzten Lebensjahren bewunderte Herzen vor allem Giuseppe Garibaldi, der ihm als Inbegriff des charismatischen Tatmenschen erschien.

Der Kampf gegen die Autokratie machte Herzens ganzen Lebenssinn aus, den er auch seinen Kindern weitergeben wollte – allerdings ohne Erfolg. Fjodor Dostojewski kommentierte den Selbstmord von Herzens Tochter Lisa maliziös mit den Worten, dass der Aufstand gegen das Zarentum für Herzen ein Religionsersatz gewesen sei. Seine Kinder seien ohne den orthodoxen Glauben aufgewachsen und stünden nun nach dem Scheitern des väterlichen revolutionären Programms vor dem Nichts.

Im Archipel Gulag: Alexander Solschenizyn

Alexander Solschenizyn wuchs als überzeugter Kommunist auf, wurde wegen abschätziger Bemerkungen über Stalin verhaftet und verbrachte anschließend acht Jahre im Gulag. Durch seine schonungslose Darstellung der sowjetischen Straflager in der Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ war Solschenizyn im Jahr 1962 schlagartig berühmt geworden. 1970 erhielt er für die „ethische Kraft“, mit der er die „unveräußerlichen Traditionen der russischen Literatur weitergeführt“ habe, den Literaturnobelpreis.

Allerdings weigerte sich Solschenizyn, den Preis in Stockholm persönlich entgegenzunehmen, weil er zu Recht fürchtete, ins Exil gezwungen zu werden. Er sammelte unentwegt Augenzeugenberichte von ehemaligen Häftlingen und veröffentlichte 1973 in Paris seine monumentale „künstlerische Untersuchung“ mit dem Titel „Der Archipel Gulag“. Im selben Jahr forderte er in seinem „Brief an die sowjetische Führung“ eine Erneuerung des gesellschaftspolitischen Projekts in Russland.

Er kritisierte dabei auch den Westen, der in eine Sackgasse geraten sei. Ebenso wenig könne aber der Sowjetkommunismus einfach weitergeführt werden. Unerträglich sei nicht das autoritäre System, sondern die ideologische Lüge, die grassierende Gesetzlosigkeit und die bürokratische Willkür.

Das Politbüro beschloss daraufhin, Solschenizyn zu verhaften und nach Sibirien zu verbannen, wo es keine westlichen Journalisten gebe. Allerdings kam in letzter Minute ein Angebot von Bundeskanzler Willy Brandt, man wolle Solschenizyn in Deutschland aufnehmen. Kurzerhand wurde der unbequeme Schriftsteller ausgebürgert und in ein Flugzeug gesetzt.

Solschenizyn war überzeugt, dass er eine historische Mission für sein Vaterland erfülle. Er setzte seine Lebensenergie für den geschichtlich begründeten Nachweis der richtigen Gesellschaftsform für Russland ein. Mit der Romanserie „Das rote Rad“ legte er eine monumentale Darstellung der Jahre des Ersten Weltkriegs und der Revolutionen in Russland vor. Er zeichnete die falschen Weichenstellungen in der Moderne nach und forderte eine moralische Erneuerung Russlands in einem patriotischen Geist. In seinen letzten Lebensjahren erblickte Solschenizyn in Putin den Garanten dieser Vision und nahm aus dessen Hand einen Staatspreis entgegen.

Keine Alternative: Alexei Nawalny

Alexei Nawalny schließt an das russische Kulturmodell des einsamen Publizisten an, der allein und unerschrocken den Staatskoloss bekämpft. Nawalnys Energie speist sich aus der Überzeugung, dass es für ihn keine Alternative zum politischen Engagement gibt. Ein Rückzug ins Privatleben hätte in der Tat die Aufgabe seines Lebensprojekts – des Kampfs für ein gerechtes Russland – bedeutet.

Eine solch exklusive Selbstmotivation hatte auch seine Vorgänger beseelt. Wie Nawalny mussten sich auch Awwakum, Radischtschew, Herzen und Solschenizyn ihre Publikationsforen energisch selbst schaffen – am Rand oder ganz außerhalb der Legalität eines Unrechtssystems. Ihre Werke bedienten nicht die traditionellen Genres, sondern eröffneten neue künstlerische Perspektiven: Awwakum schrieb die erste russische Autobiografie, Radischtschew definierte den Reisebericht neu, Herzen verfasste elegante politische Streitschriften, Solschenizyn erweiterte die psychologische Introspektion in der realistischen Erzählprosa.

Alle verstanden sich als die wahren russischen Patrioten, die gegen einen korrupten Machthaber aufbegehrten. Sie verfügten über ein Netzwerk von Gleichgesinnten und Sympathisanten, das sie mit ihren Schriften kontinuierlich belieferten. Für Solschenizyn und Nawalny spielt vor allem die westliche Öffentlichkeit eine zentrale Rolle: Die Aufmerksamkeit der ausländischen Medien stellt den einzigen Schutz vor der Willkür der Behörden dar.

Gerade weil Nawalny ein Meister in der Dramaturgie von Videoclips ist, weiß er genau, wie kurzlebig die Gunst der User im In- und Ausland ist. Deshalb hat er nun den Einsatz drastisch erhöht. Allerdings bezahlt er – wie auch seine Vorgänger – für sein Engagement in einer teuren Währung: mit sich selbst.

Dieser Beitrag ist ursprünglich an 19.3.2021 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

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