„Transkarpatien ist verloren“

Krieg und Orbans Rhetorik bringen die ungarische Minderheit in der Ukraine in Nöte

von Ivo Mijnssen
Transkarpatien

Wenn Istvan Sajtos den ledernen Brustpanzer über sein Kettenhemd stülpt und seinen Schimmel Osiris besteigt, wird er vom modernen Ungarn zum mittelalterlichen Reiterkrieger. Zusammen mit zwei anderen Steppenkämpfern schießt er hoch zu Ross Pfeile und ficht Schwertduelle aus. „Ich bin ein adliger Kämpfer“, erklärt der 48-Jährige seine Kunstfigur, „ein freier Soldat, einer unserer Vorfahren, die im Jahr 1000 den ungarischen Staat gründeten.“

Die Ritter-Show findet im ostungarischen Dorf Karos vor dem „Museum der Landnahme“ statt, verfolgt von ungarischstämmigen Kindern und Jugendlichen aus den Nachbarländern. In der Nähe liegen Gräber aus der Zeit Arpads, des Stammesführers der aus dem Ural und dem Gebiet der heutigen Ukraine zugewanderten Magyaren, die im Jahr 895/896 in das Karpatenbecken einfielen. Das Gebiet, das heute in Ungarn, der Ukraine, der Slowakei und Rumänien liegt, gilt den Ungarn als Wiege der Nation.

Bis heute leben in den Nachbarländern große ungarische Minderheiten. Deren Unterstützung stellt für Budapest eine verfassungsrechtliche Pflicht dar – und genießt unter Viktor Orban als „Nemzetpolitikai“ höchste Priorität. Die großen Cars, in denen die jungen Besucher nach Karos gereist sind, gehören ebenso zu dieser patriotischen Offensive wie Istvan Sajtos' Darbietung: „Die Globalisierung lässt nationale Werte immer mehr außer Acht“, sinniert er. „Wenn ich da etwas an die nächste Generation weitergeben kann, lohnt sich das allemal.“

Spannungen mit der Ukraine

Die Nachbarn sehen die Aktivitäten Budapests deutlich skeptischer. In den bilateralen Beziehungen bleibt der Status der ungarischen Minderheit ein Reizthema. Provokationen gab es von allen Seiten. Doch Orban hat den Vertrag von Trianon, der 1920 die Länder der Stephanskrone unter verschiedenen Staaten aufteilte, zur alles überstrahlenden identitätsstiftenden nationalen Tragödie erhoben. Ungarns Regierung fordert zwar keine Anpassung der Staatsgrenzen, deren Verlauf sie vor dreißig Jahren anerkannt hat. Auf der Ebene der Symbolpolitik orientiert sich das Land aber sehr wohl an revisionistischen Ideen.

Das Verhältnis zur Ukraine ist deshalb nicht erst seit Putins Einmarsch im Februar angespannt. Orbans ambivalente Haltung seither hat die Beziehungen noch einmal verschlechtert: Zwar hat er die Invasion verurteilt und die laut ihm „katastrophalen“ Sanktionen gegen Moskau widerwillig mitgetragen. Doch wie 2014, als er die Strafmaßnahmen als „Schuss ins eigene Knie“ bezeichnete, propagiert er auch heute eine defaitistische Haltung. Der europäische Zwerg sanktioniere den russischen Riesen, sagte Orban Anfang Woche in Berlin, „der Zwerg stirbt“.

Er sieht die Gesamtstrategie des Westens als gescheitert. Die EU müsse sich aus dem Krieg heraushalten und „zwischen Russland und der Ukraine stehen“, verkündete er im Juli bei seiner Rede in Tusnadfürdö – an einem Festival, das einst für den Austausch mit der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen gegründet wurde.

Ungarn: Trojanisches Pferd Putins?

Diese Neutralität fällt mit einer Relativierung russischer Kriegsverbrechen, einer Limitierung der Unterstützung für die Ukraine auf humanitäre Aspekte und viel Verständnis für die „Sicherheitsansprüche“ Moskaus zusammen. Kiew sieht die Ungarn deshalb als trojanisches Pferd Putins. Ein Sprecher des Außenministeriums warf Orban sogar „russische Propaganda“ vor.

Aus Budapester Sicht ist die Zurückhaltung in der Ukraine-Politik allerdings rational, denn die Regierung denkt strikt innenpolitisch. Neben günstigen Energielieferungen aus Moskau priorisiert sie den Schutz der ungarischen Minderheit in der ukrainischen Grenzregion Transkarpatien. „Wir können keine Entscheidungen treffen, die ungarische Siedlungen oder Menschen zu Zielen machen“, lautet Orbans Begründung dafür, dass sich Ungarn aus dem Krieg heraushält.

Transkarpatien: Illoyal gegenüber Kiew?

Statt sie zu schützen, hat Orban mit seiner Schaukelpolitik zwischen Ost und West die Minderheit in Transkarpatien aber in eine heikle Lage manövriert: Sie steht im Verdacht der Illoyalität zum ukrainischen Staat, dem sie sich offenkundig wenig zugehörig fühlt. Wichtige Exponenten haben das Misstrauen zusätzlich geschürt. So erklärte der Vizerektor der von Ungarn finanzierten Hochschule in Berehowe (ungarisch Beregszasz) gegenüber der New York Times, Moskau wolle mit dem Krieg nur die russischsprachigen Menschen in der Ukraine schützen.

Im Transkarpatien-Haus von Kisvarda, inmitten von Hilfsgütern für die Flüchtlinge aus dem Nachbarland, empfängt uns der Leiter Laszlo Bodrog. In Ungarns Grenzgebieten unterstützen fünf solche Institutionen die Minderheiten mit Kultur-, Vernetzungs- und Bildungsprogrammen. Budapest alimentiert die Häuser mit Steuergeldern. Laut Außenminister Peter Szijjarto betrugen die Gesamtausgaben für die „Nemzetpolitikai“ allein in der Ukraine zwischen 2011 und 2020 umgerechnet 210 Millionen Franken.

Der unabhängige, aber Fidesz-nahe Lokalpolitiker Bodrog hat eine eigene Perspektive auf den Karpatenbogen. Er sieht ihn als einst homogenes, ungarisch geprägtes Gebiet, fragmentiert durch die politischen Umwälzungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch in seiner Familie habe es viele Verbindungen über die Grenze gegeben, die mit der Eingliederung Transkarpatiens in die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg durchtrennt worden seien. „Das war eine Ungerechtigkeit, über die man im Kommunismus nicht reden durfte.“

Dass Ungarn Teile des Gebiets zwischen 1938 und 1944 nicht zuletzt durch seine Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland „zurückholte“, hält der 53-jährige Bodrog für kein entscheidendes Argument. „Transkarpatien gehörte davor jahrhundertelang zum ungarischen Königreich.“ Die lokale slawische Bevölkerung bestehe zudem nicht aus Ukrainern, sondern aus Rusinen. Diese verstehen sich als eigene Nation und werden in Ungarn, der Slowakei und Rumänien als Minderheit anerkannt. Kiew verweigert ihnen dieses Recht.

Bodrog verweist darauf, dass Kiew Budapest 1992 versprach, der ungarischen Minderheit Autonomierechte einzuräumen. Die Frage, ob sich diese auf Belange der Kultur und der nationalen Symbole beschränken oder auch die Schaffung eines eigenen Autonomiegebiets umfassen sollten, ist bis heute umstritten. Politische Bewegungen, die ein solches Territorium forderten, sind allerdings spätestens seit Russlands Krim-Annexion 2014 marginalisiert.

Streit um ungarische Pässe für Ukrainer

Die Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre konzentrierten sich deshalb auf den Bildungssektor und die Staatsbürgerschaft. Budapest vergibt seit 2011 großzügig Pässe an Angehörige der Minderheit in den Nachbarländern – 94 000 in die Ukraine bei 124 000 Anträgen alleine bis 2015. Angesichts dessen, dass sich dort 2001 bei der letzten Volkszählung 150 000 Menschen als ethnische Ungarn bezeichneten, ist das ein erheblicher Anteil.

Budapest fördert illegale Praktiken, da die Ukraine keine doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt, diese aber auch nicht aktiv bestraft. Der politische Flurschaden ist dennoch angerichtet: „Die Passvergabe hat die Beziehungen vergiftet“, räumt selbst Laszlo Bodrog ein.

2017 verabschiedete die Ukraine ein neues Bildungsgesetz. Dessen Ziel bestand darin, die verfassungsrechtlich verankerte Staatssprache Ukrainisch zu stärken und die Verwendung des Russischen in den Schulen zu begrenzen. Es war aber so unpräzise formuliert, dass es auch andere Sprachen betraf. Damit wäre die Verwendung des Ungarischen nach der vierten Klasse beschränkt worden, was den Anstrengungen Budapests zuwiderlief, ein ungarischsprachiges System bis zur Hochschulreife aufrechtzuerhalten. 2020 überarbeitete Kiew als Folge internationaler Kritik das Gesetz und gestaltete die Verwendung der Sprachen flexibler.

Obwohl bis heute nicht in Kraft, hatte dieses Gesetz verheerende Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen. Beide Seiten wiesen Diplomaten aus, und Ungarn blockierte teilweise Kiews Annäherung an die Nato. Der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko schlachtete das Thema in seinem Wahlkampf aus, den er unter dem Motto „Armee. Sprache. Glaube“ führte.

Rechtsextreme Splittergruppen des Landes agitierten gegen die ungarische Minderheit, wobei Experten auch russische Provokationen vermuten. So griffen polnische Neonazis 2018 ein ungarisches Kulturzentrum in Transkarpatien mit einem Molotowcocktail an. Sie sagten aus, ein AfD-Parlamentsmitarbeiter habe sie dafür bezahlt. Dieser verfügte über enge Beziehungen zum russischen Ultranationalisten Alexander Dugin und starb 2021 in Moskau unter mysteriösen Umständen.

Misstrauen zwischen Kiew und Budapest

Heute herrsche eine misstrauische Stille zwischen den Hauptstädten, sagt Dmitro Tuschanski. „Es gibt keinen Dialog mehr. Wenn ich in Kiew über die ungarische Minderheit rede, halten sie mich für Orbans Spion. In Budapest gelte ich als ukrainischer Nationalist.“ Dabei ist der Leiter des Institute for Central European Strategy das typische Produkt eines Grenzlands: verheiratet mit einer Ungarin, Sohn russisch- und ukrainischsprachiger Eltern, mit jüdischen und polnischen Wurzeln. Als Treffpunkt wählt Tuschanski passenderweise ein ungarisches Restaurant in der Gebietshauptstadt Uschhorod (Ungvar).

Tuschanski vermeidet einseitige Schuldzuweisungen, hat aber dennoch eine klare Meinung. Beide Seiten hätten in den vergangenen Jahren das schwierige Verhältnis politisch instrumentalisiert. Provokativ trete jedoch vor allem Orban auf, findet der 35-Jährige: „Seine Rhetorik und Manipulation wirken kontraproduktiv.“ Er entfremde die Minderheit vom Staat, in dem sie lebe. Da diese zudem fast ausschließlich ungarische Medien konsumiere, übernehme sie unkritisch Positionen, die teilweise nicht von jenen des Kremls zu unterscheiden seien: „Dass die Ukraine kein richtiges Land ist, gehört in Ungarn zum Mainstream.“

Dabei zeigen Umfragen von Tuschanskis Institut, dass in Transkarpatien ein deutlich größerer Bevölkerungsanteil als im Rest des Lands die ungarische Unterstützung für die Minderheit als vorteilhaft für die Entwicklung der Region bewertet. Mit ihrer lavierenden Haltung droht Ungarns Regierung jedoch, diesen Goodwill zu verspielen. „Orban sorgt dafür, dass gute Dinge den Ukrainern plötzlich verdächtig erscheinen.“

Von Kiew vernachlässigte Minderheit

Dass Ungarn seiner Minderheit überhaupt so stark unter die Arme greifen muss und diese auf Distanz zur Ukraine bleibt, hat jedoch mit der Vernachlässigung durch Kiew zu tun. Transkarpatien ist eine der unterentwickeltsten Regionen des Lands.

Die Minderheit schrumpft seit vielen Jahren. Tuschanski macht die schlechten sozialen Bedingungen dafür verantwortlich. „Die gleichzeitige Vergabe von EU-Pässen verstärkt diese Entwicklung.“ Bereits 2017 kam eine von der ungarischen Regierung finanzierte Studie zum Schluss, dass sich noch 130 000 Menschen als Angehörige der ungarischen Minderheit identifizieren, ein Rückgang um 20 000 gegenüber der Volkszählung 16 Jahre zuvor.

Nun vertieft der Krieg das Problem: Tuschanski schätzt, dass wegen der Fluchtbewegung nach der Invasion noch 70 000 bis 100 000 ethnische Ungarn in der Ukraine verbleiben. Laszlo Bodrog geht sogar von nur 60 000 aus. Jene, die noch da sind, klagen zudem, dass Flüchtlinge aus der Ostukraine in die Dörfer ziehen, was die Angst vor dem eigenen Verschwinden noch bestärkt.

„Transkarpatien ist für die Ungarn verloren“, schließt Bodrog düster. Die Pflege der Folklore und Ritterturniere in ostungarischen Museen sind jedenfalls kein Ersatz für eine überlebensfähige Minderheit.

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