Was machen die USA in der Ukraine?

Zu Günther Auth: „Ukraine: Deutsche Doppelmoral?“ und Fiona Hill „Wladimir Putin blufft nicht“

Anders als US-Sicherheitsexpertin Fiona Hill vermag ich nicht zu beurteilen, wie gefährlich, brutal, hemmungslos, verrückt oder was sonst Wladimir Putin ist, auch nicht, unter welchen innenpolitischen Zwängen er agiert. Alle Informationen diesbezüglich, die mir zugänglich sind, riechen mehr oder minder deutlich nach der einen oder anderen Ausrichtung – je nachdem. Klar hingegen ist, was die Amerikaner bzw. die Nato seit dem Kollaps der Sowjetunion wollten und wollen – nach ihren eigenen Aussagen.  Hier einige ausführliche Anmerkungen unter Bezugnahme auf Informationen „straight from the horse's mouth“.

Als 1991 die Sowjetunion aufhörte zu existieren, standen USA und Nato ziemlich plötzlich ohne großen Feind da, dessen vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung all die immensen Rüstungsausgaben weiter rechtfertigen konnten. Tauben im Kongress verlangten zum festlichen Anlass eine üppigere Friedensdividende zum Wohl des eigenen Landes und Präsident George H.W. Bush (der Herr Vater) wollte nur noch eine „base force“ von 1,6 Millionen Truppen aufrecht erhalten und es mangelte an klaren Vorgaben seiner Administration in Sachen Truppenstärke, -aufbau und Zielorientierung.

Weit und breit kein potenter Kandidat für den Posten eines neuen universellen Schreckgespenstes zu sehen. Was also tun? In die Offensive gehen, die Chancen nutzen zur Stärkung der Vereinigten Staaten, welche die neue Situation bot, die aber kaum jemand so recht wahrhaben wollte!

Die größte Schwierigkeit dabei war, so klagt Zalmay Khalilzad rückblickend, das dem vorhergehenden Kalten Krieg beherrschende Bedrohungsdenken und damit Rechtfertigungsdenken zu überwinden und die neuen Möglichkeiten aufzugreifen, „to shape the world.“ (1) Die Perspektiven der Vereinigten Staaten sollten neu entworfen werden. Das besorgte Khalilzad in Kooperation mit unzähligen Funktionsträgern in und außerhalb des Pentagons und des State Departments in einem Strategiepapier, dessen ursprüngliche Fassung mit dem 18. Februar 1992 datiert ist. Diese als Wolfowitz-Doktrin benannte Defence Planning Guidance wurde am 7. März 1992 der New York Times zugespielt und passagenweise veröffentlicht. Das Dokument entfachte eine aufgeregte öffentliche Auseinandersetzung um amerikanische Außen- und Verteidigungspolitik und wurde weithin als geradezu „imperialistisch” abgelehnt. Warum?

Es beschrieb unter anderem eine unilateralistische Außenpolitik und befürwortete vorgreifende (preemptive) militärische Interventionen, um potenzielle Gefährdungen durch andere Nationen zu unterbinden und aufstrebende Diktatoren daran zu hindern, Supermachtstatus zu erreichen. So laut war der öffentliche Aufschrei, dass das Papier schleunigst überarbeitet werden musste, was unter der Leitung von Verteidigungsminister Dick Cheney höchst persönlich geschah und sich in einer am 16. April 1992 vorgestellten „entschärften” Fassung präsentierte.

So hieß es zum Beispiel in der ursprünglichen Fassung zum Supermachtstatus (mit klarer Zielrichtung: Russland):

„Unser erstrangiges Ziel ist es, das Wiedererstehen eines neuen Widersachers zu verhindern, sei es auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion oder sonst irgendwo, der eine Gefahr in der Größenordnung derjenigen bilden könnte, wie die ehemalige Sowjetunion sie darstellte. Dies ist eine beherrschende Überlegung unter der neuen regionalen Verteidigungsstrategie und erfordert, dass wir uns anstrengen, jedwede feindselige Macht daran zu hindern, eine Region zu beherrschen, deren Ressourcen ausreichen würde, einen globalen Machtfaktor zu bilden.“ [Eigene Übersetzung]

(„Our first objective is to prevent the re-emergence of a new rival, either on the territory of the former Soviet Union or elsewhere, that poses a threat on the order of that posed formerly by the Soviet Union. This is a dominant consideration underlying the new regional defense strategy and requires that we endeavor to prevent any hostile power from dominating a region whose resources would, under consolidated control, be sufficient to generate global power.“)

Und der Autor des Papiers bemerkt ergänzend zu diesem Aspekt:

„Die DPG [Defense Planning Guidance] wollte das Entstehen von Zweipoligkeit, eine andere globale Rivalität wie im Kalten Krieg, Multipolarität, einer Welt mehrerer Großmächte wie sie vor den Weltkriegen bestand, ausschließen. Der Schlüssel hierzu war, eine feindselige Macht daran zu hindern, eine wichtige Region (critical region) zu beherrschen, deren Ressourcen, industrielle Kapazitäten und Bevölkerungszahl diese Macht zu einer globalen Herausforderung machen könnte.“ [Eigene Übersetzung]

(„The DPG wanted to preclude the emergence of bipolarity, another global rivalry like the Cold War, or multipolarity, a world of many great powers, as it existed before the two world wars. To do so, the key was to prevent a hostile power from dominating a ‚critical region,‘ defined as having the resources, industrial capabilities and population that, if controlled by a hostile power, would pose a global challenge.“)

Amerika zuoberst und keiner vergreife sich an der bestehenden politisch-ökonomischen Weltordnung: „Die USA müssen die notwendige Führungsstärke zeigen, um eine neue Ordnung zu errichten und zu schützen, die verspricht, potenzielle Konkurrenten zu überzeugen, dass sie keine größere Rolle anstreben oder eine aggressivere Haltung einnehmen sollten, um ihre legitimen Interessen zu schützen. In Nichtverteidigungsbereichen müssen wir die Interessen der fortgeschrittenen Industrienationen ausreichend berücksichtigen, um sie davon abzuhalten, unsere Führung herauszufordern oder zu versuchen, die etablierte politische und wirtschaftliche Ordnung zu stürzen. Wir müssen den Mechanismus aufrechterhalten, um potenzielle Konkurrenten davon abzuhalten, eine größere regionale oder globale Rolle auch nur anzustreben.“ [eigene Übersetzung]

(„The U.S. must show the leadership necessary to establish and protect a new order that holds the promise of convincing potential competitors that they need not aspire to a greater role or pursue a more aggressive posture to protect their legitimate interests. In non-defense areas, we must account sufficiently for the interests of the advanced industrial nations to discourage them from challenging our leadership or seeking to overturn the established political and economic order. We must maintain the mechanism for deterring potential competitors from even aspiring to a larger regional or global role.“)

Die USA hält sich für verantwortlich dafür, dass überall eingeschritten wird, wo ihre Interessen oder die ihrer Alliierten bedroht sein könnten:
„Wiewohl die USA nicht zum allzuständigen Weltpolizisten werden können, bewahren wir die vorrangige Verantwortung für den Umgang mit solchen ausgewählten Missständen, die nicht nur unsere Interessen, sondern auch die unserer Verbündeten oder Freunde bedrohen oder die die internationalen Beziehungen ernsthaft erschüttern könnten.“ [eigene Übersetzung]

(„While the U.S. cannot become the world's policeman, by assuming responsibility for righting every wrong, we will retain the preeminent responsibility for addressing selectively those wrongs which threaten not only our interests, but those of our allies or friends, or which could seriously unsettle international relations.“)

Die „entschärfte” Version ist eher noch spitzer insofern als sie sich ausdrücklich dagegen ausspricht, die Wahrung wichtiger amerikanischer Interessen allein internationalen Mechanismen zu überantworten, welche durch Staaten mit anderen Interessen blockiert werden können. Gemeint ist natürlich der UN-Sicherheitsrat. Die neue Passage lautet: „... neither can we allow our critical interests to depend solely on international mechanisms that can be blocked by countries whose interests may be very different than our own.”

Und schließlich die massive Breitseite gegen alles was aus der damals zerschlagenen Sowjetunion und ihren verselbständigten Resten womöglich noch erwachsen könnte. Damals konnte nicht einmal die CIA wissen, wie lange der versoffene Jelzin seinen Ausverkaufskurs an den Westen beibehalten würde.

„Wir erkennen weiterhin an, dass die konventionellen Streitkräfte der Staaten, die früher die Sowjetunion bildeten, gemeinsam das größte militärische Potenzial in ganz Eurasien haben; und wir verkennen nicht die Risiken für die Stabilität in Europa, die von einer nationalistischen Gegenreaktion in Russland oder Bemühungen zur Wiedereingliederung der neuen unabhängigen Republiken Ukraine, Weißrussland und möglicherweise anderer in Russland ausgehen... Wir müssen uns auch bewusst sein, dass der demokratische Wandel in Russland nicht unumkehrbar ist und dass Russland trotz seiner gegenwärtigen Schwierigkeiten die stärkste Militärmacht in Eurasien und die einzige Macht der Welt mit der Fähigkeit, die Vereinigten Staaten zu zerstören, bleiben wird. [eigene Übersetzung]

(„We continue to recognize that collectively the conventional forces of the states formerly comprising the Soviet Union retain the most military potential in all of Eurasia; and we do not dismiss the risks to stability in Europe from a nationalist backlash in Russia or efforts to reincorporate into Russia the newly independent republics of Ukraine, Belarus, and possibly others... We must, however, be mindful that democratic change in Russia is not irreversible, and that despite its current travails, Russia will remain the strongest military power in Eurasia and the only power in the world with the capability of destroying the United States.“)

Die (damals) endgültige Fassung des Defense Planning Guidance vom 16.4.1992 umfasst 97 Seiten, in denen massenhaft Belege für die aggressiv-dominante Ausrichtung der US-Außenpolitik begraben liegen.

Die damalige Wolfowitz-Doktrin mit der ihr zu Grunde liegenden DPG von 1992 wurde keineswegs eingestampft nach 1999. Die meisten ihrer Inhalte speisten die außenpolitischen Aufführungen sowohl der Clinton-Administration als auch die von George W. Bush (der Sohn).

Bereichert seit 2001 um die Direktiven zum weltweiten war on terror lebt sie als Bush-Doktrin fort, und was seit 30 Jahren in der Ukraine läuft, zeigt unmissverständlich ihre fortdauernde Geltung für das, was Uncle Sam in fernen Landen zu tun für berechtigt, ja geradezu verpflichtet hält.

Ein paar Kostproben aus dem fact sheet des U.S. Department of Defense zur kürzlich dem Congress zugeleiteten (und natürlich geheimen) „2022 National Defense Strategy (NDS)“ mögen das bestätigen. Defense priorities sind u. a.:

  1. Verteidigung des Heimatlands angesichts der wachsenden Multi-Domain-Bedrohung durch die VR China („Defending the homeland, paced to the growing multi-domain threat posed by the PRC“)
  2. Abschreckung von strategischen Angriffen gegen die Vereinigten Staaten, Verbündete und Partner („Deterring strategic attacks against the United States, Allies, and partners“)
  3. Abschreckung von Aggression bei gleichzeitiger Bereitschaft, sich bei Bedarf in Konflikten durchzusetzen, Priorisierung der PRC-Herausforderung im Indopazifik, dann der Russland-Herausforderung in Europa („Deterring
    aggression, while being prepared to prevail in conflict when necessary, prioritizing the PRC challenge in the Indo-Pacific, then the Russia challenge in Europe.“)

Diese Prioritäten sollen umgesetzt werden durch:

(a) Integrierte Abschreckung wird durch kampftaugliche Kräfte ermöglicht, die durch eine sichere und wirksame nukleare Abschreckung gestützt werden. („Integrated deterrence is enabled by combat-credible forces, backstopped by a safe, secure, and effective nuclear deterrent.“)

(b) Kampagnen werden die Abschreckung stärken und es uns ermöglichen, Vorteile gegen die gesamte Bandbreite der Erzwingungsmaßnahmen der Wettbewerber zu erlangen. Die Vereinigten Staaten werden Streitkräfte einsetzen, umfassendere Bemühungen des Ministeriums synchronisieren und die Aktivitäten des Ministeriums mit anderen Instrumenten der nationalen Macht in Einklang bringen, um akute Formen des Zwangs seitens der Konkurrenten zu untergraben, die militärischen Vorbereitungen der Konkurrenten zu erschweren und gemeinsam mit Verbündeten und Partnern unsere eigenen Fähigkeiten zur Kriegsführung zu entwickeln.

(„Campaigning will strengthen deterrence and enable us to gain advantages against the full range of competitors’ coercive actions. The United States will operate forces, synchronize broader Department efforts, and align Department activities with other instruments of national power, to undermine acute forms of competitor coercion, complicate competitors’ military preparations, and develop our own warfighting capabilities together with Allies and partners.“)

Aus alldem, denke ich, sollte sich die Antwort auf die naheliegende Grundfrage von alleine ergeben: Was zum Teufel haben die Amerikaner in der Ukraine verloren – und nicht erst seit Februar 2022 oder 2014, sondern seit 1991? Ja, und auch worum es in diesem Konflikt eigentlich geht.

Die Devise aus der Zeit der Vietnam-Kriegs ist nach wie vor aktuell: Ami Go Home! Dann lässt sich vieles viel leichter bewerkstelligen.

Martin Hutter, Südafrika, via E-Mail

(1) Zalmay Khalilzad: Was the Iraq War Conceived in a Secret 1992 Document? The 1992 Defense Planning Guidance's Ties to the 2003 Iraq Invasion. The National Interest, April 18, 2016.

Zalmay Khalilzad, der für US Undersecretary of Defence for Policy, Paul Wolfowitz, und seinen Stellvertreter, Scooter Libby, arbeitete, entwarf die ursprüngliche Version eines Strategiepapiers, die Defense Planning Guidance for the 1994–99 fiscal years.

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