Gaspreisschock abfedern, Energiewende beschleunigen
Was ist schuld an hohen Preisen für Gas: geopolitischen Spannungen oder die Klimapolitik?
Russlands Krieg in der Ukraine und die Unterbrechung der russischen Gasexporte nach Europa haben eine Energiekrise ausgelöst – mit Preisspitzen, die seit 1973 nicht mehr erreicht wurden. Und bevor sich die Lage verbessert, wird sie noch schlimmer: Die russischen Erdgaslieferungen nach Europa werden vor dem Winter wohl weiter eingeschränkt oder gar gekappt, und auch die Sanktionen gegen Ölexporte könnten sich bald auf die Energievorräte auswirken.
Diese Krise ist gleich doppelter Natur: Erstens muss Europa in den nächsten Wintern dringend warm und funktionsfähig gehalten werden, und zweitens müssen wir den Übergang hin zu sauberen Energien beschleunigen. Viele sehen hier einen Konflikt zwischen kurzfristigen und langfristigen Aspekten.
Aber die richtige Reaktion auf die unmittelbare Energiekrise wird auch dazu beitragen, das umfassendere Klimaproblem zu bewältigen. Die Politiker müssen den Schock abfedern und gleichzeitig die Energiewende beschleunigen.
Natürlich wird es für die europäischen Länder, die am stärksten von russischem Gas und Öl abhängig sind, auch am schwersten, in den nächsten Monaten die Strom- und Wärmeversorgung zu sichern. Die Gasreserven sind nur zu 65 Prozent gefüllt, und durch den russischen Würgegriff wird es schwierig und teuer, vor dem Winter das Ziel der Europäischen Union von 80 Prozent zu erreichen.
Die entscheidende Frage für die Industriestaaten ist, ob sie durch den Winter kommen, ohne ihre großen Gasverbraucher stillzulegen. Die Antwort ist wahrscheinlich ja – jedenfalls unter der Veraussetzung, dass Europa (wie von der EU vorgeschlagen) grenzüberschreitende Energiesparsolidarität zeigt und alle anderen Energiequellen so stark wie möglich nutzt.
Was treibt die Energiekosten?
Dass hohe Preise die Grenznachfrage (darunter auch die der Privatverbraucher) zerstören, stellt die Politiker vor eine schwierige Wahl. Im Gegensatz dazu, wie es oft in den Medien heißt, besteht diese Wahl aber nicht zwischen Klimawandel und Volksaufständen. Niemand bezweifelt, dass Europa in den nächsten paar Jahren mehr Erdgas und Kohle verbrennen und den verletzlichen Gemeinschaften und Industriesektoren dabei helfen muss, höhere Energiekosten abzufedern. Was zählt, ist, wie die Politiker diese Aufgabe angehen.
Werden fossile Energien subventioniert, indem die Energiepreise an der Zapfsäule oder am Gaszähler gesenkt werden, würde dies nur die Preisinflation verschärfen und letztlich das Geld der Steuerzahler an Gas- oder Ölproduzenten weitergeben. Die Bedürftigsten mit Geld zu unterstützen ist eine gute Idee, aber Anreize zum allgemeinen Energiesparen abzuschaffen, eine sehr schlechte.
Diese Spannung steht im Mittelpunkt der Debatten, die momentan in ganz Europa geführt werden – von lokalen Behörden bis zu den höchsten Entscheidungsinstanzen in Brüssel. Während einige Europäer die heutige Energiepreisinflation mit dem Krieg in der Ukraine verbinden, glauben andere, schuld daran sei der Kampf gegen den Klimawandel. Beispielsweise sieht die überwiegende Mehrheit der Italiener den Grund für die Energiekrise in geopolitischen Spannungen, während ein erheblicher Teil der Deutschen und Polen die Klimapolitik dafür verantwortlich machen. Viel wird davon abhängen, welche Seite diesen Kampf um die Herzen und Köpfe gewinnt.
Europas Entscheidung wird wichtige Auswirkungen darauf haben, ob wir in der Lage sind, die globale Erwärmung auf 1,5° Celsius zu begrenzen. Können die europäischen Politiker ihre Wähler davon überzeugen, die richtigen strategischen Langfristentscheidungen mitzutragen, können sie sowohl die Energiekrise der nächsten Winter bewältigen als auch die Energieeffizienz in beispiellosen Maße erhöhen.
Grüne Energieinfrastruktur aufbauen
Auf diese Weise könnte sich die EU effektiv als eine der führenden Volkswirtschaften beim grünen Wandel positionieren, wettbewerbsfähig mit China werden, und zeigen, das für Wohlstand und Wohlfahrt nicht unbedingt fossile Energieträger verbrannt werden müssen. Umgekehrt wird Europa, wenn es in Panik gerät, weiter fossile Energien subventioniert und langfristig weiter in die Gasinfrastruktur investiert, eine historische Gelegenheit verpassen.
Selbst wenn erneuerbare Energien mittelfristig eine stabile und erschwingliche Energieversorgung sichern, werden andere Hindernisse auftauchen. Wir brauchen ausreichend günstige Energie – sowohl um alles anzutreiben, was elektrifiziert werden kann, als auch, um die anderen Sektoren, Produkte und Aktivitäten mit emissionsfreien Kraftstoffen zu versorgen. Daher müssen wir die neue grüne Energieinfrastruktur so schnell und kostengünstig wie möglich aufbauen.
Aber „schnell und günstig“ steht nicht immer im Einklang mit Sicherheits- oder Abhängigkeitsbedenken. Das neue Konzept des „Friend Shoring“ – also den Handel auf befreundete Staaten zu beschränken – bedeutet, dass Europa, um seine Versorgung zu sichern, alle wichtigen Teile seiner Energieinfrastruktur von Verbündeten und freundlich gesinnten Partnerländern beziehen muss. Aber obwohl es letztlich möglich ist, durch „Friend Shoring“ und den Aufbau grüner Infrastruktur im Inland so gut wie autark zu werden, ist es kurzfristig nicht die günstigste oder schnellste Möglichkeit.
Europa muss sich stärker auf Nachbarn und weltweite Partner einlassen, um grüne Industriebereiche zu vergrößern und die Grenzkosten grüner Technologien zu verringern. Die europäischen Wähler werden schelle, günstige, saubere und sichere Energie fordern, aber sie kurzfristig zufrieden zu stellen ist unmöglich. Erneut sind wir bei harten politischen Entscheidungen. Kreative politische Lösungen können helfen; aber die Politiker müssen sich für eine Strategie entscheiden und dann die Öffentlichkeit mit an Bord holen. Dies ist das Mindeste, was die Europäer von ihren Staatschefs fordern können.
Bo Lidegaard ist Mitgründer, Partner und Forschungsleiter bei Kaya Advisory. Aus dem Englischen von Harald Eckhoff / Copyright: Project Syndicate 2022