Das grüne Gold der Ukraine
Die EU sollte der Ukraine helfen, ihr grünes Energiepotenzial auszuschöpfen. Das nutzt auch ihr
Der Abschluss des Baus von Nord Stream 2 durch die Ostsee schafft eine Reihe von geoökonomischen und sicherheitspolitischen Herausforderungen – nicht nur für Osteuropa. Im Sommer 2021 gab die US-Administration von Joe Biden überraschend ihre Einwilligung zur Fertigstellung. Damit könnte eine mögliche Zulassung und Zertifizierung der Pipeline durch die relevanten europäischen Behörden die baldige Inbetriebnahme der Unterwasser-Gasröhre bedeuten.
Dies wirft Fragen über die künftigen Beziehungen der EU zu Kiew sowie zur Rolle der Ukraine sowohl als Transit- und Speicherland für Erdgas als auch als potenzieller alternativer Energieexporteur auf. Russland wird eine eventuelle Inbetriebnahme der umstrittenen Pipeline nicht nur als kommerzielle und technologische Errungenschaft, sondern auch als geopolitischen Sieg verbuchen. Denn Nord Stream 2 beseitigt die verbleibende geoökonomische Hebelkraft, welche die Ukraine als Transitland für sibirisches und zentralasiatisches Gas auf dem Weg in die EU hatte.
Russlands einstmalige hohe energiewirtschaftliche Abhängigkeit von der Ukraine wurde mit der Inbetriebnahme der ersten Nord-Stream-Pipeline 2011 bis 2012 bereits deutlich verringert. Im Ergebnis verschlechterten sich die russisch-ukrainischen Beziehungen 2013 rapide.
Mit der Annexion der Krim und der Intervention in der Ostukraine begann Russland im Jahr 2014 die Ukraine so zu behandeln, wie es der Kreml gegenüber Moldowa und Georgien schon viele Jahre zuvor getan hatte. Mit der Inbetriebnahme der Turk-Stream-Pipeline im Schwarzen Meer 2020 und der Fertigstellung von Nord Stream 2, die durch die Ostsee verläuft, im Jahr 2021 schließt Russland seine energiewirtschaftliche Entflechtung von der Ukraine ab. Damit hat Putin womöglich demnächst freie Hand, seine Aggression gegen Russlands vermeintlichen „Bruderstaat“ fortzusetzen.
Wie können EU und USA der Ukraine helfen?
Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie die EU und die USA der Ukraine zu Hilfe kommen und gleichzeitig langfristige europäische Energieinteressen wahrnehmen können:
Die Ukraine ist ein wichtiger Partner des Westens. Im Vergleich zu vielen anderen postsowjetischen Republiken ist sie zu einer relativ freien und pluralistischen Demokratie geworden. Auch wenn die Ukraine noch kein vollständig liberaler und funktionierender Verfassungsstaat ist, so ist sie doch offener, prowestlicher und demokratischer als das autoritäre Russland und Weißrussland.
Die Ukraine war bei ihrer Entstehung als unabhängiger Staat 1991 die drittgrößte Atommacht, die damals über mehr Kernwaffen verfügte als Frankreich, Großbritannien und China zusammengenommen. 1994 erklärte sich die Ukraine bereit, alle ihre Sprengköpfe abzugeben und dem Atomwaffensperrvertrag als Nichtnuklearwaffenstaat beizutreten.
Zwanzig Jahre später griff Russland als ein Garant des Nichtverbreitungsregimes sowie offizieller Atomwaffenstaat die Ukraine an. Damit untergrub Moskau 2014 die gesamte Logik des internationalen Systems zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Seither schafft der russisch-ukrainische Konflikt internationale Risiken, die weit über Osteuropa hinausgehen.
Vor diesem Hintergrund ist die Stärkung der nationalen Sicherheit und insbesondere des Energiesektors der Ukraine eine politische Verantwortung des Westens und sollte weit oben auf seiner Agenda stehen. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie die EU und die USA der Ukraine zu Hilfe kommen und gleichzeitig langfristige europäische Energieinteressen wahrnehmen können. Brüssel sollte alle ihm möglichen rechtlichen Instrumente nutzen, um die geoökonomischen Auswirkungen von Nord Stream 2 und die Instrumentalisierung der Pipeline für Russlands hybriden Krieg gegen die Ukraine zu verhindern.
Eine der Möglichkeiten für den Westen, der Ukraine zu helfen, besteht darin, die erheblichen Reserven des Lands in puncto grüner Energie auszuschöpfen. Dies gilt etwa im Hinblick auf blauen und grünen Wasserstoff sowie Windkraft. Das dahingehende ukrainische Potenzial wurde bereits im Green New Deal der EU und im deutsch-amerikanischen Green Fund für die Ukraine erkannt. Auf diese Weise kann nicht nur die Ukraine als geoökonomischer Akteur in Osteuropa gestärkt werden, sondern es kann auch der wachsenden Nachfrage nach grüner Energie in Europa Rechnung getragen werden.
In Infrastruktur und Wasserstoff investieren
Das staatliche ukrainische Gasunternehmen Naftogaz hat in den letzten Jahren umfangreiche Reformen vorgenommen. Es hat sich erfolgreich von einem notorisch korrupten Abschöpfer öffentlicher Finanzen zu einem Vorzeigeunternehmen in Sachen Unternehmensführung gewandelt. Um die Anpassung und die Modernisierung der beträchtlichen ukrainischen Kapazitäten zu gewährleisten, sind erhebliche Auslandsinvestitionen erforderlich.
Eine Modernisierung, Erweiterung und Umstellung der bestehenden Gastransport- und Speicherinfrastruktur in der Ukraine ist dringlich. Neue Anlagen für die Produktion von grünem und blauem Wasserstoff sowie von erneuerbaren Energien müssen geplant und gebaut werden. Um rasche Fortschritte zu erzielen, müssen sowohl staatliche als auch private Investoren tätig werden und das notwendige Finanzvolumen sowie Know-how bereitstellen. Diese Investitionen ergäben nicht nur wirtschaftlich und ökologisch Sinn. Das grüne Gold der Ukraine würde auch negative Auswirkungen von Nord Stream 2 in der östlichen Nachbarschaft der EU verringern.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 15.11.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.