Undankbarer Westen, Gorbatschow verbittert

Für Frieden und Freundschaft statt Feindseligkeit und Einseitigkeit gegenüber Russland

Vor 30 Jahren: Am 9. November 1990 vereinbaren Präsident Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl in Bonn den „Generalvertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit".

Vor genau 80 Jahren, am 22. Juni 1941, trat die deutsche Wehrmacht mit verbündeten Truppen, rund drei Millionen Mann, auf breiter Front zum Angriff auf die Sowjetunion an – ohne Kriegserklärung und trotz eines Nichtangriffspakts. Wenn der Ausdruck „Überfall“ irgendwo angemessen ist, dann hier.

Dass das „Unternehmen Barbarossa“ zu diesem Zeitpunkt gestartet wurde, hatte durchaus militärstrategische Gründe. Hitler wollte Großbritannien die Hoffnung auf eine Entlastung im Osten nehmen und es so zum Frieden zu seinen Bedingungen zwingen – oder, sollte es, was sich schon abzeichnete, zum Kriegseintritt der USA kommen, sich eine mittelfristig nicht zu erschütternde Machtbasis in Kontinentaleuropa schaffen.

Gleichzeitig diente der Angriffskrieg gegen die Sowjetunion indessen dem langfristigen rassenimperialistischen Ziel der, wie es in der NS-Terminologie hieß, Eroberung von „Lebensraum“, der Schaffung eines riesigen deutschen Kolonialreichs in Osteuropa. Die Völker der Sowjetunion sollten versklavt und zu zig Millionen planmäßig dem Hungertod ausgesetzt werden. Das Kriegsvölkerrecht war in diesem Gemetzel vom ersten Tag an außer Kraft gesetzt.

Wir konnten in diesen Tagen dankenswerterweise in den Medien hören und lesen, welche ungeheuren materiellen Zerstörungen und Menschenverluste die Völker der Sowjetunion, insbesondere Russen, Weißrussen und Ukrainer, erlitten haben. Die heute angenommene Zahl von 27 Millionen Gefallenen und Ziviltoten scheint schwer vorstellbar.

Am Ende waren auch die deutschen Verluste – mehr als sechs Millionen Kriegs- und Kriegsfolgetote, Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen Ostprovinzen – beträchtlich, und auch sie gehen vorwiegend auf das Konto jener verbrecherischen Clique, die sich mit Unterstützung der etablierten Rechten und wichtiger Teile der deutschen Oberklasse in den Besitz der Staatsmacht gebracht hatte.

„Diesmal hat Russland die Welt gerettet“

Es waren die Soldaten der Sowjetarmee, die auf ihrem Territorium die Kriegswende erkämpften, lange bevor die Westalliierten mit der Invasion in der Normandie den letzten Akt des Dramas einleiteten. Meine Mutter, die die Jahre ab 1942 als politischer Flüchtling im neutralen Schweden lebte, erzählte mir, wie ein gut betuchter, offenbar wohlhabender älterer Herr, als sie beide den Zeitungsaushang mit der Nachricht vom Abwehrsieg der Sowjets in Stalingrad betrachteten, zu ihr gesagt hätte: „Diesmal hat Russland die Welt gerettet!“ Um das zu erkennen, musste man kein Gefolgsmann des Stalinschen Tyrannenregimes sein, nicht einmal ein Gegner der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.

Zu dem erstaunlichen Geschehen schon der frühen Nachkriegszeit gehört die Offenheit und Freundlichkeit, mit der die einfachen Menschen in der UdSSR deutschen, auch bundesdeutschen Besuchern begegneten, eine Haltung, die Angehörige der damals älteren Generationen, darunter nicht wenige Kriegsteilnehmer, tief beeindruckte und teilweise zu Tränen rührte.

Heute: Feindseligkeit gegen Russland

In der Tat gibt es neben der unauslöschlichen Erinnerung an den Vernichtungskrieg auch eine andere, weit zurückreichende Traditionslinie deutsch-russischer Beziehungen: der menschlichen und kulturellen Begegnungen, der wirtschaftlichen Kooperation und sicherheitspolitischer Arrangements, die zu manchen Zeiten entscheidend dazu beigetragen haben, den Frieden in der nördlichen Hemisphäre zu erhalten.

Michail Gorbatschow, der mutige Überwinder der Ost-West-Konfrontation, ist heute tief verbittert darüber, wie die Zugeständnisse der damals noch sowjetischen Seite vom Westen beantwortet oder eben nicht beantwortet wurden. Die bemerkenswerteste sowjetische Konzession, die Hinnahme der Nato-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands, wird erst begreiflich, wenn man die Charta von Paris vom November 1990 dagegenhält, die eine Überwindung beider Blöcke und eine ganz neue gesamteuropäische Sicherheitsstruktur andeutete.

Inzwischen leben wir in einem neuen Kalten Krieg zwischen der Nato auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite – zusätzlich zu den diversen gefährlichen Krisenherden in anderen Teilen der Welt und zusätzlich zu dem neuen Supermächte-Konflikt zwischen den USA und China. Wir wissen aus Befragungen, dass die Mehrzahl der Deutschen gute Beziehungen zu Russland wünscht, aber nur eine Minderheit hat erkannt, wie zugespitzt die Lage inzwischen faktisch ist.

Bei der meist sehr kritischen, teilweise feindseligen Positionierung der veröffentlichten Meinung Deutschlands zum heutigen Russland fällt schon auf den ersten Blick die atemberaubende Einseitigkeit auf, mit der die inneren Verhältnisse wie die äußere Politik des großen Nachbarn im Osten dargestellt und kommentiert werden.

Ich nehme an, die meisten von uns hätten gegenüber heutigen russischen Realitäten so manches Kritisches vorzubringen. Aber, um ein wesentliches Beispiel zu nennen: Nicht Putin hat die Oligarchen-Wirtschaft und die Korruption geschaffen; er hat sie vorgefunden – zusammen mit der sozialen Katastrophe der Jelzin-Ära, und er profitiert im Hinblick auf sein Ansehen bis heute davon, dass er wenigstens wieder eine berechenbare Staatsmacht installiert hat, die für regelmäßige Auszahlung von Löhnen gesorgt hat.

Putin hat in seinen ersten Jahren auch eine Reihe konstruktiver, an den Westen und namentlich an die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Vorschläge für eine gesamteuropäische Zusammenarbeit im Sinne von Gorbatschows Formel vom Gemeinsamen Haus Europa gemacht, einschließlich einer paneuropäischen Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok. Auch Mainstream-Politiker räumen heute ein, dass auf diese Angebote nicht konstruktiv reagiert worden ist.

Das Verrücken der Nato-Ostgrenze von der Elbe nicht nur an die Oder, sondern an den Bug und die Donau war aus Sicht der beitrittswilligen Staaten aufgrund ihrer historischen Erfahrungen verständlich, aus russischer Sicht aber inakzeptabel, mehr noch die Absicht (2007) des damaligen US-Präsidenten George W. Bush jr., auch der Ukraine und Georgien den NATO-Beitritt zu ermöglichen – damals immerhin maßgeblich am deutschen Widerstand gescheitert. Russland ist heute auf seinen territorialen Bestand um die Mitte des 17. Jahrhunderts reduziert, und nicht nur die politische Führungsschicht, die Masse des Volkes hat sich vom Westen gedemütigt gefühlt.

Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik

Ja, die Annexion der Krim durch Russland war eine völkerrechtswidrige Aktion, die durch den Hinweis auf den Nato-Krieg gegen Serbien und andere Aktionen der westlichen Seite nicht legitimiert wird. Aber sie ist ein Schritt in einer Kette von Ereignissen in einer seit der Unabhängigkeit politisch und kulturell tief gespaltenen Ukraine.

Statt Konfliktlösungen und Abrüstungsschritten erleben wir heute Programme massiver Aufrüstung auf allen Ebenen der Bewaffnung. Das einzige wirkliche Abrüstungsabkommen, der INF-Vertrag von 1987, der mit den atomaren Mittelstreckenraketen eine ganze Waffengattung aus Europa verbannte – alles andere waren (durchaus begrüßenswerte) Rüstungskontrollabkommen –, wurde inzwischen gekündigt. Anders als vor 1990, da der Warschauer Pakt in Europa konventionell überlegen war, und die USA diesen Zustand durch ihre globale atomare Schlagkraft überkompensieren wollten, ist heute die Nato konventionell überlegen.

Wobei der Ausdruck „konventionell“ nicht deutlich macht, dass es sich auch in diesem Bereich inzwischen um hypermoderne, hoch technologische Systeme handelt. Unter dem Strich ist konventionelle Rüstung relativ teurer als atomare, und so wird Russland nahezu genötigt, seine Atomrüstung voranzutreiben, jedenfalls im gedanklichen Rahmen der überkommenen sicherheitspolitischen Logik.

Selbstverständlich lässt sich die Entspannungspolitik, die sich seit der Doppelkrise um Berlin und Kuba 1961/62, als die Welt in den atomaren Abgrund blickte, schrittweise entfaltete, nicht einfach auf die heutige Realität übertragen, aber eine wesentliche Erkenntnis bleibt: Sicherheit gibt es im Zeitalter der Atombombe nur noch als gemeinsame Sicherheit.

Wir brauchen eine Neue Entspannungspolitik Jetzt! Ein solcher Ansatz ist nicht darauf gerichtet, den jeweiligen innergesellschaftlichen Ist-Zustand zu verfestigen. Entspannung soll mit dem Abbau zwischenstaatlicher Konflikte und Verhärtungen vielmehr den Weg zu substanzieller Abrüstung ebnen und gleichzeitig die Entfaltung innerstaatlicher sozialer und politischer Emanzipationsbewegungen hier wie dort erleichtern.

Am Anfang der Entspannungspolitik der 1960er- bis 80er-Jahre stand die simple Erkenntnis, dass man versuchen muss, die Welt mit den Augen des potenziellen Kontrahenten zu betrachten – nicht um dessen Sichtweise einfach zu übernehmen, sondern um zu begreifen, warum er denkt, wie er denkt, und handelt, wie er handelt. Selbst daran mangelt es heute in eklatantem Maß.

Ich bin beruflich auf Nüchternheit getrimmt. Ich hoffe, Sie haben trotzdem gespürt, dass mir Verständigung und Freundschaft unseres Deutschlands mit Russland ein Herzensanliegen ist. Nie wieder gegeneinander!

Dieser Beitrag ist der Text einer Rede, die Peter Brandt auf der Kundgebung „Nie wieder gegeneinander – Gemeinsam für Frieden“ am 22. Juni 2021 in Bremen gehalten hat.

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