Ukraine: Hat recht, wer laut ist?
Unbehagen angesichts der aggressiven Rhetorik über eine befürchtete russische Invasion in der Ukraine
Die Sache mit den „Beweisen“ hat die USA und den Westen schon einmal in einen Krieg geführt, dessen Ergebnis sehr unbefriedigend ausgefallen ist. Es war der 5. Februar 2003, Angela Merkel war da noch nicht im Amt, als US-Außenminister Colin Powell der Welt „Fakten“ und „gesicherte Erkenntnisse“ vortrug. Mit der Behauptung, Irak besitze Massenvernichtungswaffen, rechtfertigte er das, was wenig später beginnen sollte: den Einmarsch im Irak und den Sturz von Saddam Hussein. Die Welt in der Region ist seither eine andere, aber keine bessere.
Nun hat Powells Nachfolger Antony Blinken, der Welt erklärt, er verfüge über Beweise, dass Moskau „bedeutsame aggressive Züge gegen die Ukraine“ zu unternehmen plane. Schon verbreiten die US-Medien neben Fotografien Informationen von Geheimdiensten, wonach der Kreml Panzer und anderes schweres Gerät entlang der ukrainischen Grenze massiere und Anfang des kommenden Jahrs mit bis zu 175 000 Soldaten die Ukraine an drei Fronten angreifen wolle. Europäische Berichterstatter übernehmen diese Befürchtung.
Manchenorts ist die Rede davon, dass der russische Präsident Wladimir Putin die USA und die EU testen wolle. Davon war schon zu Beginn der Flüchtlingskrise an der polnischen Grenze die Rede, im Verlauf des „aus Moskau und Minsk organisierten Flüchtlingsdramas“, wie eine bildstarke Boulevardzeitung schrieb. Wladimir Putin zeige Olaf Scholz „mithilfe seines Diktatoren-Freundes Alexander Lukaschenko (67, Belarus) das Besteck“. Die EU werde „an der Außengrenze von Minsk-Diktator Lukaschenko und dessen Paten im Kreml, Wladimir Putin (69) mit Migranten attackiert“.
Auch eine seriösere süddeutsche Zeitung kommentierte: „Die EU braucht eine starke Antwort auf Lukaschenko. Und auf Wladimir Putin.“ Denn in Brüssel glaubten viele, „dass Europa systematisch ‚getestet‘ werden soll und dass hinter diesem Test vor allem Wladimir Putin steckt“. Auch eine Hamburger Wochenzeitung sah damals „Krisenverursacher und Brandbeschleuniger in Minsk und Moskau“.
Nach den Migranten die Invasion
Inzwischen sind die Migranten Geschichte, in der Gegenwart droht Krieg: Amerikanische Thinktanks und Zeitungen orakeln seit Wochen über eine „Invasion der Ukraine“, in Foreign Affairs erwartet Melinda Harings, „dass Putin die Ukraine erneut angreift, bald“.
In Deutschland ist dieser Tage die Überschrift zu lesen: „Biden will Putin von Angriff auf Ukraine abhalten.“ Die Sache scheint klar zu sein: Putin plant eine Invasion der Ukraine.
Nicht alle sind so forsch. Julia Latynina kommentiert die russischen Ziele in der Nowaja Gaseta folgendermaßen (in der Übersetzung von dekoder.org): „Alles, was passiert, ist ein Bluffen.“
Dass Putin zocke, halten selbst amerikanische Experten für möglich. Aber nur ein bisschen. Vielleicht sei es so, meinen die ehemaligen US-Diplomaten Daniel Fried, John E. Herbst, Alexander Vershbow, dass Putin hoffe, die Westpolitiker ohne den Einsatz von Gewalt zu erschrecken und damit zu erreichen, dass sie die ukrainische Führung überreden, ihre Träume von einer euroatlantischen Integration aufzugeben „und Russlands Diktat zu akzeptieren“.
Aber für noch wahrscheinlicher gilt ihnen offenbar die Invasion. Um Putin einen „schnellen Sieg“ zu verwehren, bedürfe es der Abschreckung: Sanktionen, Beendigung von Nord Stream 2, Einfrieren der „Offshore-Konten von Putin und seinen Spießgesellen“. Auch sei zu erwägen, das nächste Treffen von Putin und Biden sowie die Gespräche über Strategische Stabilität und Cybersicherheit auszusetzen. Sprich: kein Dialog.
Das allerdings scheint auch Latyninas Linie zu sein: „Es ist immer noch derselbe hybride Krieg. Eine Nötigung zum Dialog. Eine Reaktion auf die Sanktionen. Eine Reaktion auf das Vorhaben, künftig auf russisches Öl und Gas zu verzichten. Auf den Vertrag zwischen den USA und der Ukraine. Auf die Weigerung der Ukraine, die Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu den Bedingungen des Kreml zu akzeptieren. Und es ist eine Reaktion auf die sinkenden Umfragewerte und auf den gescheiterten Versuch, Europa mithilfe Lukaschenkos zu erpressen.“
„Nötigung zum Dialog“! Als hätte sich Dialog in der Vergangenheit nicht als hilfreich erwiesen. (Ich erspare uns den Hinweis auf Willy Brandt.) Dass die Waffen sprechen, vermögen Gespräche zu verhindern, dazu sollte es keiner Nötigung bedürfen. Was kommt denn, wenn nicht mehr geredet wird? Was ist die Alternative? Die Alternative ist das, was jene angeblich befürchten, die Dialog für verfehlt halten: Krieg.
Latynina kann ihre harte Haltung in der Zeitung des Nobelpreisträgers Dmitri Muratow allerdings nur durchhalten, weil sie davon ausgeht, dass Putin dem Teufel an der Wand niemals folgen würde. Putin, behauptet sie, werde keinesfalls in die Ukraine einfallen, einen „echten Krieg“ habe der immer tunlichst vermieden.
Und weshalb? „Wahrscheinlich, weil sich der Kreml im Grunde des tatsächlichen Zustands der russischen Kriegstechnik bewusst ist“, so Latynina. Sollten die ostukrainischen Gebiete tatsächlich erobert werden, so Latynina, „könnte man nicht legal an Russland angliedern“. Wahrscheinlicher aber erscheinen ihr offenbar Bilder von toten Soldaten, die Angriffen von Bayraktar-Drohnen aus türkischer Produktion und unbemannten US-Kampfflugzeugen zum Opfer fielen und die Schwäche der russischen Armee offenbarten; das hätte katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung.
Unglücklicherweise sieht Latynina trotz dieser Argumente – Putin blufft, er wird nicht angreifen – nur zwei Möglichkeiten, wie die „USA und Europa“ reagieren könnten. Die erste nennt sie „sich einschüchtern lassen und einen Dialog beginnen“. Offenbar empfiehlt sie aber ihre zweite Option: „klarmachen, dass die Ukraine im Fall eines vom Kreml begonnenen Kriegs so viel militärische Unterstützung erhält wie nötig, um einen Sieg Russlands zu verhindern“.
Eine Lösung wird das schwerlich sein. Eher klingt das nach „Pistole auf die Brust“-Politik, und solche Erniedrigungen kommen im Kreml schlecht an. Putin müsse sich bewegen, heißt das gleichwohl unbeirrt. Ausschließlich er.
Das kann nur fordern, wer den Beginn der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen 2014 sieht, in der Annexion der Krim. „Dieses Narrativ ist falsch“, schreibt jedoch der renommierte Journalist Andreas Zumach in der tageszeitung taz. Und fächert noch einmal die Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen seit den 1990ern auf (was hierzulande vielfach mit einem Augenverdrehen quittiert wird). Um es zusammenzufassen: Die Mutter des Konflikts sei die Osterweiterung der Nato.
Zumach ist für Verständigung, für Dialog. Seine ersten „hilfreichen Deeskalationsschritte“ lauten: sofortige Wiederbeitritt zum „Open Skies-Abkommen“ und vertrauensbildende Maßnahmen im Luftraum sowie „die Einstellung der militärischen Unterstützung Russlands für die Separatisten im Donbas und der USA für die Regierung der Ukraine sowie der Rückzug aller Truppen beiderseits der Grenze“.
Um Ausgleich und Dialog hat sich auch die scheidende Bundeskanzlerin stets bemüht. Auf ihrer Verabschiedung beim Großen Zapfenstreich hinterließ Angela Merkel einen Satz, den jeder Mensch auf sein Leben beziehen kann: „Ich möchte dazu ermutigen, auch zukünftig die Welt immer auch mit den Augen des anderen zu sehen, also auch die manchmal unbequemen und gegensätzlichen Perspektiven des Gegenübers wahrzunehmen, sich für den Ausgleich der Interessen einzusetzen.“ Wir beziehen dieses Wort in dieser Krise auf Russland.