Russlands düstere Zukunft
Was Russland zu gewärtigen hat: Sieben Merkmale der anbrechenden Epoche
Wahrscheinlich werden Historiker dereinst die acht Jahre zwischen 2014 und 2022 als eine Art Übergangsperiode in der Evolution der europäischen Politik des 21. Jahrhunderts bezeichnen. Viele der Prozesse und Tendenzen, die 2014 in Gang gekommen waren oder sich erst abzeichneten, erhielten ihre endgültige Gestalt und Verfestigung acht Jahre später. Zurückblickend lässt sich erkennen, dass die dramatischen und für viele überraschenden Ereignisse von 2014 letztlich nur einen vorübergehenden Waffenstillstand zwischen Moskau und den westlichen Hauptstädten schufen, in dem sich das zu diesem Zeitpunkt bestehende wacklige Kräftegleichgewicht und die auf beiden Seiten geringe Bereitschaft zu einer sofortigen weiteren Eskalation widerspiegeln.
Nachdem ein vorübergehender Waffenstillstand installiert war, begannen beide Seiten mit der Vorbereitung auf eine neue Runde der Konfrontation. Weder die turbulente vierjährige Präsidentschaft Donald Trumps in den USA noch der dramatische EU-Austritt Großbritanniens, nicht die chronische Krise im Nahen Osten oder das sich fortsetzende Erstarken der globalen Position Pekings verhinderten diese Vorbereitung, ja nicht einmal die weltweite Coronavirus-Pandemie.
Russland setzte die forcierte Modernisierung seiner Streitkräfte fort, initiierte ein Importersatzprogramm, häufte Devisenreserven an, weitete die Handelsbeziehungen mit China aus und vertiefte die politische und militärtechnische Zusammenarbeit mit den Partnern in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).
Der Westen arbeitete die Formate und Mechanismen des Sanktionsdrucks aus, verstärkte die Ostflanke der Nordatlantischen Allianz (Nato), steigerte das Koordinierungsniveau der Politik innerhalb derselben und innerhalb der Europäischen Union, verstärkte die militärtechnische Unterstützung für die Ukraine und attackierte Russland konsequent auf unterschiedlichen internationalen Plattformen – von der UN-Generalversammlung bis zum Treffen der Außenminister des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
War die neuerliche Eskalation vermeidbar?
War der neuerliche, noch gewaltigere Konflikt unvermeidlich? Im Verlauf der acht Jahre einer relativen Ruhe gab es mehrmals den Versuch, den vorübergehenden Waffenstillstand in einen stabilen und beständigen Frieden umzuwandeln. Diplomaten, internationale Experten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf beiden Seiten arbeiteten beharrlich an einer Lösung dieser schwierigen Aufgabe. Zahlreiche vernünftige Vorschläge wurden ausgearbeitet – die Ukraine, aber auch allgemeinere Probleme der europäischen Sicherheit betreffend.
Leider wurde nicht einer dieser Vorschläge auch nur angehört, geschweige denn für Verhandlungen angenommen. Die Kluft zwischen Russland und dem Westen vertiefte sich stetig, die Spannungen um die Ukraine erhöhten sich. Schließlich wurde der achtjährige Waffenstillstand im Februar 2022 durch die diplomatische Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk im Donbass durch Moskau und den Beginn der russischen Militäroperation auf dem Gebiet der Ukraine gesprengt.
Der Konflikt trat erneut in eine akute Phase ein, allerdings auf einem grundsätzlich anderen Niveau. Die Übergangszeit endete mit einer neuen Krise mit unvermeidlichen und unumkehrbaren Konsequenzen nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen insgesamt.
Kalter Krieg, gestern und heute
Es wäre wohl nicht ganz korrekt, eine direkte Analogie zwischen der anbrechenden politischen Realität des Jahrs 2022 und der Zeit des Kalten Kriegs in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu ziehen. Sehr wahrscheinlich erwarten uns sogar düsterere und gefährlichere Zeiten als jene, die auf Perestroika und das Neue Denken sowie den endgültigen Zerfall des sozialistischen Systems und der Sowjetunion folgten.
In den Jahren des Kalten Kriegs, vor allem nach der Kuba-Krise vom Oktober 1962, waren sich beide Seiten sehr gut der jeweiligen roten Linien bewusst und versuchten, sie möglichst nicht zu überschreiten. Heute werden rote Linien nicht mehr als wirklich rot anerkannt, und die wiederholten Erklärungen solcher Linien werden auf der anderen Seite als Bluff und leere Rhetorik wahrgenommen.
In den Jahren des Kalten Kriegs bestand zwischen den beiden militärpolitischen Blöcken in Europa ein stabiles Gleichgewicht. Heute ist die Nato in den meisten militärtechnischen Parametern erheblich stärker als Russland, sogar wenn man das Potenzial des Moskauer Bündnispartners Minsk einrechnet.
In den Jahren des Kalten Kriegs blieb zwischen dem Westen und der UdSSR, bei allen bestehenden Widersprüchen und Differenzen, der gegenseitige Respekt gewahrt, es gab sogar ein gewisses Vertrauen, das auf Vorhersehbarkeit der Beziehungen hoffen ließ. Heute ist von Respekt keine Rede mehr, schon gar nicht von Vertrauen, und die Beziehungen sind in eine Phase der Unberechenbarkeit eingetreten.
Diese Unberechenbarkeit erlaubt es nicht, abschließend zu beurteilen, wie die neue europäische Realität in den kommenden Jahren aussehen könnte, umso weniger in den kommenden Jahrzehnten. Das hängt ab vom Ausgang der russischen Militäroperation, von der Art und den Resultaten des bevorstehenden ukrainischen „politischen Transits“, von der Stabilität der antirussischen Einheit des Westens, von der Dynamik des allgemeinen Kräfteverhältnisses in der Welt, von der Schwere der allgemeinen Probleme, die sich beiden Seiten stellen und von vielen anderen Faktoren.
Einige vorläufige Prognosen bieten sich gleichwohl an:
1. Der Oberbösewicht ist wieder Russland
Erstens hat Russland anscheinend ungewollt die Rolle Chinas als internationaler Oberbösewicht übergenommen. Natürlich wird die Eindämmung der chinesischen außenpolitischen Ambitionen für Washington und seine europäischen Partner nicht von der Tagesordnung verschwinden, aber diese Aufgabe wird einstweilen in den Hintergrund treten.
Zumal Peking in der ukrainischen Frage eine äußerst vorsichtige, um nicht zu sagen distanzierte Haltung eingenommen hat und die Achtung der Prinzipien der Souveränität und territorialen Unversehrtheit aller Staaten, einschließlich der Ukraine, unterstreicht. Verändern könnten das gegenwärtige System der Prioritäten des Westens allenfalls die offensichtlichen und unzweideutigen Versuche Chinas, das Taiwan-Problem auf militärischem Weg zu entscheiden; aber solche Versuche sind in der nächsten Zukunft schwer vorstellbar.
2. Moskau hat letzte Fürsprecher verloren
Zweitens sind Moskau im Westen keine Verbündeten oder wenigstens anteilnehmende Beobachter mehr geblieben. Wenn es nach 2014 in Europa noch bedeutsame Kräfte gab, die sich dafür einsetzten, Russlands Interessen zu berücksichtigen und den Druck auf den Kreml mit einem möglichen Entgegenkommen von Seiten der EU und der Nato abzufedern, so sind sich jetzt sogar Politiker wie die Vorsitzende der ultrarechten französischen Partei „Rassemblement National“, Marine Le Pen, oder der tschechische Präsident Miloš Zeman einig in der Verurteilung des russischen Handelns. Was die USA angeht, so ist jetzt in Washington der antirussische Konsens noch stärker als er es im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts je war.
3. Einschränkung des Dialogs
Drittens erwartet Russland eine unabwendbare und wahrscheinlich langewährende Unterbrechung des politischen Dialogs auf höchstem Niveau. In absehbarer Zukunft werden im Kreml wohl kaum die Präsidenten, Premierminister, Kanzler und Außenminister Schlange stehen, um die russische Führung zu treffen. Die zahlreichen Besuche westlicher Regierungschefs in Moskau im Vorfeld der Krise sind als außenpolitische Fehlschläge zu werten – die russische Seite hat sich in keinem Punkt umstimmen lassen, ein politisch- diplomatischer Kompromiss war nicht zu erreichen.
Ein zumindest partieller politischer und diplomatischer Boykott vonseiten des Westens scheint sehr wahrscheinlich. In einigen Fällen wird er durch die Einschränkung der Arbeit der diplomatischen Vertretungen, die Abberufung der Botschafter und sogar (nach dem Vorbild der Ukraine) den Abbruch der diplomatischen Beziehungen ergänzt werden.
4. Teures Wettrüsten, Ende der Rüstungskontrolle
Viertens steht Moskau ein langes und sehr kostspieliges Wettrüsten bevor. Die Ereignisse auf dem Gebiet der Ukraine stellen den Westen vor die Aufgabe, seine ökonomischen und technologischen Vorteile maximal zu nutzen, um das russische Militärpotenzial mit der Zeit zu entwerten – und zwar sowohl das atomare als auch das konventionelle.
Zwar ist es noch zu früh, den Tod der Rüstungskontrolle insgesamt zu konstatieren, doch der Wettlauf mit Moskau in den unterschiedlichen qualitativen Rüstungsparametern wird sich in nächster Zukunft verstärken. Unter den heutigen Gegebenheiten ist es kaum vorstellbar, zu den Verhandlungen über ein Moratorium der Nato-Erweiterung zurückzukehren oder auch zu anderen juristisch verbindlichen Garantien für der russische Sicherheit.
5. Ziel von Wirtschaftssanktionen
Fünftens wird Russland für lange Zeit ständiges und vorrangiges Objekt westlicher Wirtschaftssanktionen sein. Der Sanktionsdruck wird aller Voraussicht nach allmählich, aber konsequent wachsen.
Es wird einige Zeit brauchen, sich vollständig von der gegenwärtigen Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu befreien, aber wenn der Westen diesen Weg erst einmal eingeschlagen hat, wird er kaum mehr davon abgehen. Dem Stopp von Nord Stream 2 wird die Reduzierung der Ankäufe russischen Gases folgen, das durch andere Pipelines geliefert wird, sogar wenn andere Quellen fossiler Energie erheblich teurer werden. Das gilt auch für andere Rohstoffe und Weltmärkte, auf denen Russland immer noch eine wichtige Position einnimmt.
6. Isolation im Hochtechnologiebereich
Sechstens wird Russland konsequent von den bestehenden oder gerade entstehenden globalen Entwicklungsketten verdrängt, die den Übergang der Weltwirtschaft in ein neues technologisches System bestimmen. Zu diesem Zweck ist man bestrebt, die Teilnahme russischer Wissenschaftler an internationalen Forschungsprojekten zu begrenzen und Hindernisse für die Arbeit von Joint-Ventures im Bereich der Hochtechnologie und für den Technologie-Export aus Russland (und den Import nach Russland) zu schaffen. Dies führt zu einer beständigen Reduzierung der technologischen Zusammenarbeit des Westens mit Moskau, was wiederum die technologische Abhängigkeit Russlands von China erhöht.
7. International geächtetes Land
Siebtens wird sich zwischen Moskau und dem Westen ein erbitterter Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen in der übrigen Welt entfalten, vor allem in den Ländern des globalen Südens. Um Russland endgültig in ein „geächtetes“ Land zu verwandeln, muss der Westen sein Narrativ des russisch-ukrainischen Konflikts zu einem globalen, universalen Narrativ machen. Zu diesem Zweck werden Anstrengungen unternommen, dieses Narrativ in Süd- und Süd-Ost-Asien, im Nahen Osten, in Afrika und Lateinamerika zu fördern.
Russland wird als ein Land dargestellt, das den fundamentalen Normen des internationalen Rechts den Kampf angesagt hat und die Grundsätze nicht nur der europäischen, sondern der globalen Sicherheit zerstört. Das strategische Ziel wird die größtmögliche Isolierung Russlands sein, was Moskau die Möglichkeit nimmt, seine außenpolitischen, ökonomischen und anderen Verbindungen zu diversifizieren und wenigstens teilweise den Schaden zu kompensieren, den der Abbruch der Zusammenarbeit mit dem Westen verursacht hat.
Was kann Moskau entgegensetzen?
Wird Moskau diesem Druck über längere Zeit standhalten? Kann es Alternativen für ein effektives Gegenspiel finden, das eine Gegenbedrohung schafft und die westlichen Opponenten herausfordert? Kann Russland seine heutige Position im Welthandel, in den wichtigsten internationalen Organisationen und in den bilateralen Beziehungen mit seinen Schlüsselpartnern stärken? Wird es in der Lage sein, vom Westen unabhängige Ressourcen für seine wirtschaftliche und soziale Modernisierung zu finden und zu realisieren? In der „neuen Realität“ des Jahres 2022 haben alle diese für Moskau nicht sehr neuen Fragen besondere Aktualität.
Im letzten Vierteljahrhundert hat das politische und sozialökonomische System Russlands, bei allen seinen zahlreichen Mängeln, einen hohen Grad an Standhaftigkeit und Resistenz bewiesen. Aber mit Herausforderungen solchen Ausmaßes wie die gegenwärtige Krise war das Russland Wladimir Putins bisher nicht konfrontiert.