Russland und Nato: Denk-Mauern überwinden

Nach dem diplomatischen Blitzkrieg: Russland kann den Stillstand auflösen. Einige Vorschläge

Russland Suche nach Weg aus Sackgasse
Nichts ist unmöglich: Andrei Kortunov rät Russland zu Rationalität statt Revanchedenken.

Nur wenige Beobachter konnten über die Ergebnisse der jüngsten Gespräche zwischen Russland und dem Westen überrascht sein. Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten wiesen darin Russlands Forderungen zurück, die Türen der Nato für neue europäische Mitglieder zu schließen und ihre militärische Infrastruktur auf den Stand am Ende des 20. Jahrhunderts zurückzusetzen. Eine Reihe strategischer, politischer, juristischer, ideologischer und sogar psychologischer Hindernisse hält die Nato zurück, Russlands harte Forderungen zu erfüllen.

Welche nächsten Schritte sollte Moskau also nun gehen, da sein vorsätzlicher diplomatischer Blitzkrieg zu nichts geführt hat? Russische Experten haben eine Fülle an Vorschlägen, wie man sich gegen den unnachgiebigen Westen behaupten sollte: Dazu gehört, neue Raketensysteme in der unmittelbaren Nachbarschaft von Nato-Mitgliedsstaaten aufzustellen, militärische Bedrohungen gegenüber der USA in Kuba und Venezuela aufzubauen, die Präsenz russlandfreundlicher privater Militäreinheiten in unstabilen afrikanischen Regionen zu erhöhen, die militärische Zusammenarbeit mit China zu intensivieren und die Propaganda- und Cyber-Attacken auf den Westen auszuweiten.

Es gibt überdies Aufforderungen, den Westen an der diplomatischen Front zu bestrafen. Russland könnte zum Beispiel von der Charta von Paris für ein neues Europa von 1990 zurücktreten oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und den Europarat verlassen. Es könnte die Nato-Russland-Grundakte von 1997 aufkündigen, die selbsternannten separatistischen Republiken Donezk und Luhansk offiziell anerkennen, die russisch-amerikanischen Verhandlungen zur Reduzierung strategischer Waffen aussetzen oder eine Vielzahl ähnlicher Schritte einleiten.

Die Umsetzung einiger dieser Vorschläge würde zweifellos neue ernsthafte Sicherheitsbedrohungen für Russlands westliche Kontrahenten erzeugen. Aber es ist unklar, wie sie Russlands eigene Sicherheit verbessern würden. Die Konfrontation in Europa und in anderen Teilen der Welt weiter zu schüren, erhöht hingegen das Risiko einer frontalen militärischen Kollision, die in einem nuklearen Krieg enden könnte. Globale Sicherheit – oder ihre Abwesenheit – kann in der modernen Welt nicht isoliert betrachtet werden.

An die eigene Sicherheit denken statt an Revanche

Russland muss deshalb Prioritäten aufstellen. Es kann entweder versuchen, dem aus seiner Sicht widerspenstigen und heuchlerischen Westen maximalen Schaden zuzufügen und damit Revanche zu nehmen für die Niederlagen und einseitigen Entscheidungen der 1990er-Jahre. Oder es kann versuchen, seine eigene Sicherheit so gut es geht zu stärken – inmitten der Begrenzungen durch die aktuelle geopolitische Situation.

Um einen Weg aus der Sackgasse der kompromisslosen Haltungen auf beiden Seiten zu finden, schiene es zunächst vernünftig, den Themenkomplex amerikanischer und russischer strategischer Waffen von den Streitpunkten um die europäische Sicherheit zu trennen. Verhandlungen zwischen Moskau und Washington über nukleare Sachverhalte folgen ihrer eigenen Logik und Dynamik. Sie sind zu wichtig für beide Seiten und die internationale Gemeinschaft, um sie mit irgendwelchen anderen Problemen zu verbinden, auch nicht mit der Sicherheit in Europa. Russland und der Westen haben ihre nuklearen Programme über Jahrzehnte von anderen Aspekten ihrer Beziehung getrennt und es hat keinerlei Sinn, dieses Prinzip nun zu überdenken.

Obwohl Russland und der Westen erkennen, dass die gegenseitige Abneigung tief reicht und die Positionen zur europäischen Sicherheit Welten voneinander getrennt sind, können beide doch spezifische Maßnahmen ergreifen, um die Konfrontation stabiler und berechenbarer zu machen. Indem sie sich mit der Tatsache abfinden, dass ihre fundamentalen Differenzen nicht überbrückt werden können, sollten beiden Parteien empfänglicher sein für Schritte, welche die Situation unter bessere Kontrolle bringen.

Jegliche vertrauensbildende Maßnahme, so bescheiden sie auch sein möge, würde helfen, die unberechenbare Situation an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine zu stabilisieren. Denkbar wäre eine Pufferzone an der Kontaktlinie zwischen Russland und der Nato, in der militärische Aktivitäten limitiert werden. Ebenso hilfreich wäre die Wiederaufnahme der Arbeit im Nato-Russland-Rat, in die eine militärische Komponente aufgenommen würde, indem etwa der Vertrag über den Offenen Himmel von 1992 wiederbelebt wird. Damit hätte Russland viel erreicht – vorausgesetzt es ist nicht das wirkliche Ziel Moskaus, die strategische Unsicherheit aufrecht zu erhalten und am Rand eines Kriegs zu taumeln.

Erster Schritt: Fokus neu setzen

Wenn Moskau als wesentliche Bedrohung seiner Sicherheit ansieht, dass die Nato ihre militärische Infrastruktur näher an Russlands westliche Grenzen schiebt, dann wäre es sinnvoll, sich eher auf genau diese Infrastruktur zu konzentrieren als auf die theoretische Möglichkeit einer Nato-Expansion. Dabei darf man nicht vergessen, dass die institutionelle Ausweitung der Nato in Richtung Osten nicht zu den kurz- oder mittelfristigen Zielen in Brüssel zählt. Jedenfalls kann ein Land mehr als vierzig Jahre lang Nato-Mitglied sein, wie das Beispiel Frankreich zeigt, ohne sich an den militärischen Einheiten der Organisation zu beteiligen.

Spezifische Punkte einer geografischen Ausweitung der Nato könnten im Rahmen eines neuen Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (CFE 2) ausgehandelt werden, der für Moskau und Brüssel rechtlich bindend sein würde. Der erste CFE-Vertrag von 1990 war damals ein historischer Durchbruch, der es möglich machte, das Ausmaß der Konfrontation in Zentraleuropa deutlich zu reduzieren.

Natürlich kann ein CFE 2 nicht einfach die Kopie eines mehr als 30 Jahre alten Vertrags sein, denn sowohl die geopolitische Situation als auch die Militärtechnik haben sich seither dramatisch verändert. Einen neuen Vertrag vorzubereiten, wird ernsthafte Anstrengungen von allen Unterzeichnern erfordern, aber es wäre machbar, wenn alle Parteien den politischen Willen dazu aufbringen.

Russland sollte auch mit anderen Nachbarn zusammenarbeiten, die eine Nato-Mitgliedschaft ins Auge gefasst haben. In Russland wird oft behauptet, dass die Ukraine und Georgien „in die Nato hereingezogen werden“. Das impliziert, die betreffenden Länder würden sich gerne widersetzen, aber unter dem Druck aus Brüssel wären sie gezwungen, schließlich nachzugeben. Tatsächlich könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein als diese Behauptung.

Es waren und sind die früheren Sowjet-Republiken, die sich über Jahre verzweifelt darum bemüht haben, Teil der Nato-Sicherheitsgemeinschaft zu werden. Während der Westen in irgendeiner Weise auf diesen Druck reagieren muss, ist er sich dennoch im Klaren darüber, dass die neuen Mitglieder die Organisation wahrscheinlich schwächen würden. Daher sollte sich Moskau darauf fokussieren, alternative Sicherheitsmechanismen für diese Staaten zu entwickeln, um deren Interesse an der begehrten Nato-Mitgliedschaft zu reduzieren.

Ukraine und das Minsker Abkommen

Bezogen auf die Ukraine ist es schwer für Russland, Kiew zur völligen Einhaltung des Minsker Abkommens zu zwingen, dessen Ziel ein Ende des Konflikts in der Ostukraine ist. Ohne die Streitfragen vom Tisch zu nehmen, wäre es doch hilfreich, sich auf die ersten drei Punkte des Abkommens zu konzentrieren. Sie rufen dazu auf, die Situation an der Kontaktlinie im Donbass zu stabilisieren (Erfüllen der Waffenstillstandsvereinbarung, Rückzug schwerer Waffen, Stärkung der OSZE-Mission).

Dies wäre ein wichtiger Faktor, die Spannungen zu reduzieren, insbesondere im Donbass, aber auch in den russisch-ukrainischen Beziehungen insgesamt. Dieses Herangehen schlösse mögliche Verhandlungen zwischen Russland und dem Westen über den Umfang und – noch wichtiger – die Details westlicher Militärhilfe an die Ukraine nicht aus.

Einige Experten sind der Meinung, dass Moskaus unnachgiebige, radikale und unflexible Forderungen an die USA und seine Nato-Partner eine Art Schocktherapie waren. Nach ihrer Ansicht war die Absicht dahinter, die Aufmerksamkeit des Westens auf legitime russische Sicherheitsinteressen zu lenken, die lange Zeit vom Westen nahezu ignoriert worden waren. Wenn das Russlands Ziel war, ist es erreicht worden: Moskaus Stimme ist laut und klar vernommen worden.

Eine Schocktherapie allein aber wird die zahlreichen Beschwerden nicht heilen können, welche die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen plagen. Eine lange Reihe konservativer Behandlungen ist hier angebracht. In der Medizin hat eine „konservative Behandlung“ vor allem das Ziel, die Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten zu verhindern – in Erwartung einer vollständigen Genesung oder der Verlangsamung der Krankheit bis zu einem Punkt, an dem kein weiteres Eingreifen mehr nötig ist. Diese Art der Behandlung erfordert üblicherweise Bettruhe und minimale körperliche Anstrengung.

Dieser Beitrag ist in englischer Sprache auf der Webseite des Carnegie Moscow Center erschienen. Übersetzung: Klaus Grimberg.

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