Dunkle Wolken am Himmel
Rüstungskontrolle: Nach den USA will auch Russland aus dem Open-Skies-Vertrag aussteigen
Am 15. Januar 2021 hat das russische Außenministerium die Absicht bekannt gegeben, den Vertrag über den Offenen Himmel (OHV) zu verlassen. Sobald die Kündigung formell zugestellt wird, verbleiben sechs Monate, bis der Austritt wirksam wird. Russland folgt damit den USA, die unter der Trump-Administration am 22. November 2020 – gegen den Einwand europäischer Verbündeter – aus dem OHV ausgetreten sind.
Der Vertrag erlaubt kooperative Beobachtungsflüge über den Hoheitsgebieten der 33 Vertragsstaaten im OSZE-Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok. Er bezweckt, die Einhaltung von Rüstungskontrollvereinbarungen zu verifizieren und die Transparenz militärischer Aktivitäten auch in Krisenzeiten zu gewährleisten.
Mit dem Austritt Russlands hätte der OHV seinen strategischen Zweck verloren. Die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur, die schon lange erodiert, würde eines ihrer letzten Instrumente verlieren, die direkte militärische Kontakte und Vertrauensbildung ermöglichen. Die Instabilität in Europa würde zunehmen.
Die Trump-Administration hat den Austritt der USA aus dem OHV mit russischen Implementierungsdefiziten begründet. Moskau habe unzulässige Flugstreckenbegrenzungen über Kaliningrad und in einem schmalen Streifen an den Grenzen Georgiens vorgenommen. Doch hatten auch die USA russische Flüge über Alaska und den pazifischen Inseln eingeschränkt.
Zwar teilten die Nato-Verbündeten die Bedenken Washingtons, machten jedoch keinen substanziellen Vertragsbruch geltend. Die Bemühungen Deutschlands, Frankreichs und anderer Alliierter, die USA im OHV zu halten, blieben erfolglos.
Russlands Argumentation
Auf das europäische Interesse, den Vertrag weiterhin gemeinsam mit Russland zu implementieren, hat Moskau ambivalent reagiert. Dort scheinen zwei Interessengruppen zu konkurrieren. Die eine beansprucht für Russland, stets auf strategischer Augenhöhe mit den USA zu agieren und keine ungleichen Verträge zu tolerieren. Den Nato-Verbündeten seien bis zu 42 Beobachtungsflüge pro Jahr über Russland erlaubt, während es selbst nicht über den USA fliegen dürfe. Die andere Gruppe wollte den OHV weiter implementieren und sich auf die Sicherheitskooperation mit Europa konzentrieren.
Dafür sollten zwei Bedingungen gewährleistet werden: Erstens müssten die anderen Vertragsstaaten russische Beobachtungsflüge ohne Einschränkungen, also auch über US-Stationierungskräften zulassen. Zweitens sollten sie zusichern, an die verbündeten USA keine Erkenntnisse weiterzugeben, die aus der Nutzung von Sensoren während der Beobachtungsflüge über Russland gewonnen wurden.
Beide Forderungen hat Russland bei zwei OHV-Konferenzen im Juli und Oktober 2020 sowie bei der Flugquotenverteilung für das Jahr 2021 mit Nachdruck vertreten. Die Vertragspartner haben dem inhaltlich nicht widersprochen, unterstrichen aber, dass dies schon aus dem Vertragstext und den Folgebeschlüssen der OH-Beratungskommission (OSCC) hervorgehe. Gleichwohl bekannten sich alle 33 Vertragsstaaten dazu, den OHV weiter zu implementieren.
Keine Daten an Nichtvertragsstaaten
Doch am 11. Dezember 2020 leitete die russische Delegation der OSCC einen Beschlussentwurf zu, der den bisherigen Wortlaut der OSCC-Entscheidung zum Schutz sensibler Daten revidieren sollte. Es solle erklärt werden, dass unter keinen Umständen Daten an Nichtvertragsstaaten weitergegeben werden dürfen, die bei OH-Flügen gewonnen werden. Die Absicht der zuständigen OSCC-Arbeitsgruppe, den Entwurf routinemäßig am 25. Januar 2021 zu behandeln, wertete Moskau als unzureichende Reaktion der Vertragspartner.
Mit einer Note Verbale vom 22. Dezember 2020 forderte Außenminister Lawrow die anderen Vertragsstaaten ultimativ auf, dem russischen Entscheidungsvorschlag bis zum 1. Januar 2021 zuzustimmen und entsprechende rechtsverbindliche Zusicherungen zu geben. Anderenfalls müsse Russland die Vertragskündigung einleiten.
In einer gemeinsamen Antwort vom 30. Dezember erklärten die Außenminister von 16 Vertragsstaaten, darunter Deutschland und Frankreich, den OHV in vollem Umfang implementieren und offene Fragen in den zuständigen Arbeitsgruppen lösen zu wollen. Zudem verwiesen sie darauf, dass das russische Interesse bereits durch den Vertragstext und die relevanten OSCC-Beschlüsse gewahrt sei. Doch boten sie an, das russische Anliegen auf einem vorgezogenen Treffen im Januar zu diskutieren. Ein Ultimatum lehnten sie allerdings ab.
Nimmt Russland Europa ernst?
Eine einvernehmliche politische Erklärung wäre noch immer möglich. In Moskau hat sich jedoch offenbar das Lager durchgesetzt, das der politischen „Augenhöhe“ mit den USA mehr Bedeutung beimisst als der Sicherheitskooperation mit den Europäern. Diese scheint es nicht als eigenständige politische und militärische Größe wahrzunehmen, sondern nur als Profiteure der militärischen Macht der USA.
Russland begibt sich somit der Chance, sich als Rüstungskontrollmacht zu präsentieren, von der US-Politik unter Präsident Trump abzusetzen und unter Beweis zu stellen, dass die Sicherheitskooperation mit Europa in diesem Segment auch ohne die USA funktionieren kann. Damit brüskiert Moskau diejenigen in Europa, die für Rüstungskontrolle und Sicherheitskooperation eintreten. Die Skepsis unter den Europäern gegenüber der Sicherheitskooperation mit Russland dürfte zunehmen.
Der künftige US-Präsidenten Joe Biden wird sich durch die jüngste Moskauer Volte nicht beeindrucken lassen. Denn der Wiedereintritt in den OHV hat für ihn weder Priorität, noch dürfte er im Senat die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit erzielen.
Dass Moskau kurz vor seiner Amtsübernahme die Atmosphäre trübt, bevor er seine erklärte Absicht umsetzen kann, zur Sicherheitskooperation und Rüstungskontrolle zurückzukehren, ist unklug. Denn zumindest die Verlängerung des Vertrags über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen (New START), der anderenfalls am 5. Februar 2021 ausläuft, liegt auch im Interesse Moskaus.
Die abrupte Abkehr vom OHV hat der russische Präsident bereits in seiner Erklärung vom 17. Dezember angedeutet. Eine Revision dieser Entscheidung kann daher nicht mehr durch Routineverfahren in der OSCC erreicht werden, sondern nur durch das Engagement auf höchster Regierungsebene. Dies verlangt vor allem deutschen und französischen Führungswillen.
Dieser Beitrag ist in leicht modifizierter Form auch bei SWP aktuell der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin erscheinen.