Putin hat Europas Fundament zerstört

Europa muss die Ukraine militärisch unterstützen – gegen Putins Völkermord, für unsere Freiheit und Zukunft

Putins Zerstörung
"Es geht Putins Russland darum, ein Programm der Vernichtung der Ukraine umzusetzen." Felix Ackermann

Die deutschen Debatten über die Erhöhung der Vorauszahlungen für die laufenden Mietnebenkosten wirken wie die Diskussionen in einer Wohngemeinschaft, in der sich alles um die Befindlichkeiten der Bewohner dreht. Dabei steht zur selben Zeit im selben Gebäude eine ganze Wohnung in Flammen. Diese liegt unmittelbar hinter der polnischen Wohneinheit auf der rechten Seite des östlichen Flurs. Dort hatte der russische Nachbar von gegenüber 2014 zunächst rechtswidrig einen Raum abgetrennt, um ihn illegal für seine Einwohner zu nutzen.

Im Februar 2022 legte er zusätzlich einen Großbrand, nachdem sich die ukrainische Bewohnervertretung nicht bereit erklärt hatte, die Verwaltung der Wohnung dem russischen Nachbarn zu überlassen. Obwohl sie bereits in Flammen steht und mehrere Einwohner starben, leitet dieser Nachbar jeden Tag aufs Neue Öl in den Brandherd, sodass die ukrainischen Feuerwehrleute den Brand derzeit noch immer nicht voll kontrollieren.

Ein großer Teil der Bewohnerschaft der ukrainischen Wohnung musste in ein anderes Zimmer oder vor der Rauchentwicklung in andere Wohnungen des Hauses fliehen. Für den Fall, dass die Hausgemeinschaft die ukrainische Feuerwehr weiterhin bei den Löscharbeiten unterstützt, droht der russische Nachbar unverhohlen mit der Zündung radioaktiver Sprengladungen, die weitere Teile unseres Hauses unbewohnbar machen würden.

Die europäische Hausordnung

Die Groß-WG namens Bundesrepublik Deutschland befindet sich im Zentrum des Hauses, das wir unter dem Namen Europa kennen. Das Bild eines „Gemeinsamen Hauses Europa“ habe nicht ich ausgedacht. Es wurde als Zukunftsvision gemalt von Michail Gorbatschow und geht noch zurück auf den Helsinki-Prozess. Er hatte in den 1970er-Jahren in der Hochphase des Kalten Kriegs ein Fundament für Frieden in Europa gelegt, in dem sich zwei Atommächte feindlich gegenüberstanden und tagtäglich mit der Auslöschung des Gegenübers drohten.

Das Haus umfasst nicht allein den westlichen Teil des geografischen Europas, der sich als Europäische Gemeinschaft zusammengeschlossen hatte und aus der später die Europäische Union hervorging. Vielmehr umschließt das gedachte gemeinsame Haus Europas neben den heutigen EU-Staaten auch Russland, die Ukraine, Belarus, Moldau, die Staaten des südlichen Kaukasus, und die Nachfolgestaaten Jugoslawiens ein. Das Zusammenleben in diesem Haus steht auf zwei Fundamenten – zum einen Regeln, auf die sich alle Einwohner in einer Art Hausordnung geeinigt hatten, zum anderen auf Institutionen, die ihre Einhaltung überwachen. Die zehn Grundprinzipien dieser Hausordnung sind eigentlich Grundregeln des Zusammenlebens, die uns selbstverständlich erscheinen:

  1. Souveränität als Grundprinzip des Zusammenlebens
  2. Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt
  3. Unverletzlichkeit zwischenstaatlicher Grenzen
  4. Das Prinzip territorialer Integrität
  5. Im Fall des Ausbruchs von Streitigkeiten eine friedliche Konfliktbearbeitung
  6. Die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer
  7. Die Menschenrechte und Grundfreiheiten sind Geschäftsgrundlage
  8. Die einzelnen Völker sind gleichberechtigt und bestimmen selbst über ihre Zukunft
  9. Die Staaten kooperieren miteinander
  10. Völkerrechtliche Verpflichtungen werden eingehalten

Die Überwachung der Hausordnung

Diese Prinzipien wurden im November 1990 von allen Mitgliedern des Helsinki-Prozesses feierlich in einer Pariser Charta bekräftigt – auch von Michail Gorbatschow, der als Staatsoberhaupt der Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt zugleich für Russland, die Ukraine und viele andere Teilrepubliken unterschrieb, die erst ein Jahr später als Nationalstaaten entstanden. Das zweite Fundament machen die Institutionen aus, die wir im Haus Europa gemeinsam mit Russland und der Ukraine und nach dem Ende des Kalten Kriegs geschaffen haben, um die Einhaltung der Hausordnung zu überwachen.

Das ist zum einen die 1995 geschaffene Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie soll im Fall von Streitigkeiten zwischen Hausbewohnern schlichten. Und als regulär tagende Eigentümerversammlung wurde im selben Jahr der Europarat ins Leben gerufen. Bei groben Verstößen einer Wohnungsgemeinschaft gegenüber ihren Mitbewohnern können sich diese an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg wenden. Diese Organisationen und ihre Regeln wurden nicht gegen Russland auf den Weg gebracht, sondern von Anfang an von Russland mitgetragen und gestaltet.

Der bis heute nicht gelöschte Großbrand am Ende unseres Korridors belegt eindeutig, dass beide Fundamente nicht tragen: Da die OSZE stets nach dem Prinzip der Einstimmigkeit handelt, konnte sie nach 2014 allein die Einhaltung des Abkommens von Minsk überwachen und melden, wenn es zu Handgreiflichkeiten zwischen den Nachbarn entlang der Kontaktlinie kam. 2022 spielt die OSZE gar keine Rolle mehr, da sie ohne Zustimmung von Russland keine Friedensmission entsenden kann.

Als unmittelbare Reaktion auf den Angriff auf den Nachbarstaat hatte der Europarat im März dieses Jahres die Mitgliedschaft Russlands suspendiert. Russland kam kurz darauf mit einem eigenen Austritt dem Ausschluss aus dem Europarat zuvor. Damit unterliegen die Einwohner der russischen Wohnung im gemeinsamen Haus Europa nicht mehr der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Russland missachtet die Hausordnung

Die Ursache für den Brand liegt aber weder in den Schwächen des Fundaments noch in der Art wie die ukrainische Wohneinheit ihren Alltag gestaltet. Sie liegt darin, dass ein Hausbewohner bewusst vor unseren Augen die Hausordnung verletzt, das Leben der Nachbarn gezielt aufs Spiel setzt und dabei auch einen Großbrand des Hauses in Kauf nimmt. Dieser Hausbewohner ist die Russische Föderation unter Führung von Wladimir Putin. Das Bild vom gemeinsamen Haus Europa wurde aber von der Wirklichkeit der vergangenen Monate gesprengt. Ein vollumfänglicher Angriffskrieg, in dem ganze Großstädte zerstört werden, ist etwas anderes als ein Wohnungsbrand. Es sind inzwischen Zehntausende Ukrainerinnen und Ukrainer infolge des russischen Angriffs gestorben. Die Zahl der Binnenflüchtlinge in der Ukraine beträgt etwa 7 Millionen Menschen, mehr als 5 Millionen Geflüchtete leben heute in anderen Staaten.

Während wir in unserer gut geheizten WG über erhöhte Vorauszahlungen für die Nebenkosten diskutieren, lassen russische Ämter Kinder aus dem besetzten Osten der Ukraine deportieren und von russischen Eltern adoptieren, um sie zu Russen umzuerziehen. Während in Deutschland immer wieder Mitbewohner vorschlagen, mehrere Zimmer der ukrainischen Wohnung dem russischen Brandstifter zu überlassen, um ihn vom Nachgießen von Öl abzuhalten, kämpfen die Menschen in der Ukraine physisch um die Existenz ihres Staats, ihrer Nation. Es geht um nichts weniger als die Zukunft ihres Zuhauses und ihrer Kinder, denn sie wissen nach fast sieben Monaten Angriffskrieg, dass sich dieser Krieg gegen nichts anderes als ihre Existenz als Ukrainerinnen und Ukrainer richtet.

Brandstifter Putin verübt Völkermord

Der Brandstifter Putin hat das Nachbarland mit Ansage angegriffen. In seinen Geschichtsstunden behauptete er noch drei Tage vor der Ausweitung der russischen Kampfzone in der Ukraine in Leugnung der Wirklichkeit und der Hausordnung, die Ukraine habe keine eigenständige Geschichte, und damit auch kein Recht auf Eigenstaatlichkeit.

Diese Behauptungen sind Teil einer menschenverachtenden Ideologie, die heute über die Kanäle der russischen Staatspropaganda verbreitet wird. Ihr Kern erklärt, warum die systematische Anwendung von Gewalt gegenüber Zivilisten – etwa in der belagerten Stadt Mariupol – wichtige Voraussetzungen des Straftatbestands des Völkermords erfüllen.

Denn dieser Krieg ist keine Reaktion auf einen Konflikt mit dem Nachbarn gegenüber. Er ist keine Reaktion darauf, dass sich mehrere Einwohner im selben Korridor des gemeinsamen Hauses einem Sicherheitsdienst namens Nato angeschlossen haben. Es ist weder eine Überreaktion noch fahrlässige Brandstiftung, sondern ein minutiös geplanter Amoklauf, der sich gegen die Existenz der benachbarten Wohngemeinschaft als solcher richtet.

Dieses offenkundige Kriegsziel sprengt das Bild des gemeinsamen Hauses. Denn es geht Putins Russland nicht darum, die eigene Wohnung zu vergrößern oder gegen die Ausweitung der Nato vorzugehen, sondern im Kern versucht es seit sieben Monaten trotz militärischer Rückschläge ein Programm der Vernichtung der Ukraine umzusetzen. Deshalb ist es richtig, nicht nur von einem Angriffskrieg zu sprechen, sondern von einem Vernichtungskrieg.

Das gemeinsame Fundament ist zerstört

Die russischen Raketen, die seit März ohne erkennbaren militärischen Nutzen ukrainische Wohngebäude, Kraftwerke und Schulen zerstören, schlagen nicht in einer entfernten Wirklichkeit ein. Sie haben das gemeinsame Fundament unseres Zusammenlebens in Europa längst zerstört. Teile des gemeinsamen Hauses sind bereits heute unbewohnbar. Und auch wenn Russland infolge des historischen Bruchs mit den gemeinsam aufgestellten Regeln nicht mehr Mitglied des Europarats ist, verbleibt es in Europa, in unserem gemeinsamen Haus.

Wie umgehen mit dem kriminellen Brandstifter und Mörder aus der Nachbarschaft, der weiterhin im eigenen Haus wohnt, wenn es keine Möglichkeit gibt, die zuvor gemeinsam aufgestellten Regeln durchzusetzen? Wir müssen uns Gedanken über die Konstruktion unseres Hauses machen.

Doch vor einer zukünftigen Wiederherrichtung der zerstörten Ukraine und einer Sanierung des in seinen Fundamenten erschütterten Hauses Europa, bleibt noch immer der Brand zu löschen. Wir diskutieren heute Möglichkeiten der Brandbekämpfung und dafür ist es wichtig, weitere Unterschiede zwischen einem Wohnungsbrand und einem konventionellen Angriffskrieg zu benennen.

Russland überfiel die Ukraine mit über 120 000 Soldaten und Tausenden Panzern, setzt bis heute täglich Raketen und Artilleriebeschuss gegen zivile Ziele ein. Bei den Zerstörungen der ukrainischen zivilen Infrastruktur der vergangenen Tage kommen derzeit sogenannte Kamikazedrohnen aus dem Iran zum Einsatz. Die Ukraine wehrt den Angriff seit dem 24. Februar 2022 nicht mit Löschwasser ab, sondern mit zehntausenden Soldaten, mit Panzerfäusten, Panzern, Artilleriefeuer und Luftabwehrsystemen.

Es ist schwer, über die weitere Unterstützung des militärischen Kampfs um das Überleben in gemütlichen und immer noch gut geheizten Räumen zu sprechen, weil wir in unserer WG alle übereinstimmen, dass wir Gewalt ablehnen. Mehrere Generationen Linker haben den Wehrdienst in der Bundeswehr verweigert. Und nicht nur Linke haben sich Zeit ihres Lebens gegen Krieg in jeglicher Form eingesetzt. Viele erinnern sich an den Kampf gegen die Stationierung neuer Atomwaffensysteme in der Bundesrepublik. Eine gepflegte Form des Antimilitarismus ist ein wichtiger Konsens, der alle politischen Strömungen in unserer WG verbindet: Wir sind gegen jegliche Form von Gewalt.

Das ist eine zentrale gesellschaftliche Strategie, mit den Folgen eines Angriffs- und Vernichtungskriegs umzugehen, der von der deutschen Gesellschaft ausging und der mehrere Dutzend Millionen Opfer in ganz Europa forderte. Wir haben unsere Lektionen als Wohngemeinschaft und Gesellschaft gelernt und sind deshalb gegen Krieg als solchen.

Doch erinnern wir uns auch daran, wie der von unseren Vätern und Großvätern geführte Krieg zu Ende ging? Ja, in vielen deutschen Städten sind die weitgehenden Zerstörungen von Industrieanlagen und Zentrum ein sichtbares Zeichen, dass der nach außen gerichtete Krieg in eine radikale Form der Zerstörung Deutschlands mündete. Doch haben wir neben den zerstörten Wohnungen und Häusern sowie der Ankunft der Flüchtlinge aus den Ostprovinzen auch abgespeichert, dass es die Panzer und Millionen Soldaten der Alliierten waren, die das Ende des Nationalsozialismus erzwangen?

Obwohl die meisten von uns nicht dabei waren, können wir uns in unserer gemütlichen deutschen WG-Atmosphäre inmitten des Hauses Europa genau an eine historische Situation erinnern, in der nicht nur Nachbarwohnungen in Flammen aufgingen, sondern deren Einwohner gezielt ermordet wurden, weil sie Juden, Roma, Russen, Ukrainer, Belarusen und Polen waren. Und wir wissen auch, dass es sinnlos gewesen wäre, mit dem Deutschen Reich unter der Führung von Adolf Hitler über eine Kapitulation zu verhandeln, bevor die Wehrmacht militärisch geschlagen war.

Verhandeln mit einem Amokläufer unmöglich

Aus diesem historischen Verweis resultiert nicht, dass Wladimir Putin der Adolf Hitler des 21. Jahrhunderts ist. Ich rufe weder zur Zerstörung Russlands auf noch mobilisiere ich zum Dritten Weltkrieg. Ich verweise nur darauf, dass wir als deutsche Gesellschaft im Grunde genommen wissen, dass es nicht möglich ist, mit einem Massenmörder zu verhandeln, der sich gerade noch mitten in einem Amoklauf befindet. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung und die Europäische Union sich nicht nur symbolisch geschlossen hinter die Ukraine als Staat und Gesellschaft stellen, sondern sie in ihrem Überlebenskampf auch finanziell und militärisch unterstützen.

Das Bild vom gemeinsamen Haus Europa erklärt, warum es gerade in Zeiten der gezielten Bekämpfung eines Großbrands auch darum geht, ein Übergreifen des Feuers auf andere Wohnungen zu verhindern. Gerade wenn wir Angst davor haben, dass der Brand sich in unserem Korridor weiter ausbreitet, müssen wir die Brandbekämpfung voranbringen.

Letztlich geht es in der Ukraine heute auch um unsere eigene Freiheit und Zukunft. Deshalb müssen wir die Ukraine in ihrem Abwehrkampf weiter konsequent unterstützen. Der kalkulierte Massenmord gegen die Einwohner der Wohnung am Ende des Korridors gleich hinter der polnischen Wohnung richtet sich auch gegen die Hausgemeinschaft, ihre Regeln und das Fundament unseres Hauses.

Auf diesem Fundament entstand 1990 unsere Wohngemeinschaft, die Bundesrepublik Deutschland, in Folge des Zwei-plus-Vier-Vertrags, mit dem erst 45 Jahre nach Ende der Kampfhandlungen der Zweite Weltkrieg formell beendet wurde. Die Sicherheitsarchitektur, die Russland heute mit Drohnen, Marschflugkörpern und Artilleriebeschuss zerstört, entstand als Reaktion auf die Katastrophe, die von Berlin aus zur Zerstörung Europas und zur Selbstzerstörung des Deutschen Reichs geführt hatte.

Der Text basiert auf einem Diskussionsbeitrag beim Politischen Salon im Schuhmacher-Museum der Stadt Hagen. Er ist am 21.10.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.

Nichts verpassen!

Tragen Sie sich hier ein für unseren wöchentlichen Newsletter: