Ohne Russland keine friedliche Zukunft
Im Interview: Matthias Platzeck über die Notwendigkeit einer neuen Ostpolitik
Tatiana Firsova: In Ihrem im Sommer erschienenen Buch fordern Sie „eine neue Ostpolitik“. Was ist die Kernbotschaft? Warum gibt es diese Politik zurzeit nicht?
Matthias Platzeck: Wenn ich die zweite Frage beantworten könnte, wäre ich sehr glücklich. Ein erster entscheidender Impuls für mein Buch kam durch unseren Bundespräsidenten vor ungefähr zwei Jahren in Moskau. Frank-Walter Steinmeier zeigte sich damals tief besorgt über die Gefahr einer zunehmenden Entfremdung unsere beiden Völker und darüber, dass die deutsche Geschichte uns lehrt einer solchen Gefahr nicht tatenlos zuzusehen.
Diese Entfremdung kann man mit Händen greifen. Es gibt bei uns kaum fundierte Kenntnisse und bisweilen wenig Interesse dafür zu verstehen, weshalb die russische Sichtweise auf Politik und Gesellschaft sich so anders präsentiert und darstellt als die mittel- und westeuropäische oder amerikanische Perspektive. Ich bedauere sehr, dass auch bei vielen jüngeren Politikern das Interesse an Russland nachlässt und in der Folge auch die Kenntnisse über dieses Land und die russische Sprache weiter schwinden.
All diese Entwicklungen haben fatale Konsequenzen. Je weniger man über Verhaltensweisen, Kultur, Historie, Mentalitäten des anderen weiß, umso mehr können Vorurteile und Stereotypen wirken und umso mehr ersetzen aufgeregte Emotionen eine realistische Einschätzung der politischen und wirtschaftlichen Sachverhalte. Das macht mir Sorgen.
Sorgen weshalb konkret?
Die Frage ist doch: Wo stehen wir in 15 oder 20 Jahren auf unserem Globus. Dann werden sich zwei Zentren gebildet haben. Die Gegend um China mit Japan, Vietnam und Korea wird zweifellos eine wirtschaftliche Führungsrolle auf diesem Erdball übernehmen. Nordamerika, wahrscheinlich mit Kanada, vielleicht mit Mexiko wird weiterhin ein eminent starkes Zentrum bilden, wenn es um Finanzströme, Digitalisierung und militärisches Potential geht.
Das sind zwei Pole auf dieser Welt. Und dann bleibt die offene Frage für diese Entwicklung: Bildet sich ein dritter Pol aus? Wer bildet dieses dritte Kräftezentrum und wie wird es sich konfigurieren? Es liegt natürlich auf der Hand, dass dieses dritte Kräftezentrum Europa sein könnte. Die Frage ist zu beantworten: Schafft das eine Europäische Union gleichsam im Alleingang oder brauchen wir ein Zusammenwirken, insbesondere mit dem größten Land Europas, der Russischen Föderation?
Und, brauchen wir sie?
Als Ingenieur blicke ich ziemlich nüchtern auf die Welt. Wenn ich mir ansehe, was wir in den nächsten Jahrzehnten vor uns haben – Mobilitätswende, Energiewende, Digitalisierung, Klimawandel bekämpfen… Das sind Vorhaben, die auf klar vorgegebenen wirtschaftlichen Grundlagen basieren. Dazu gehören natürlich auch viele unterschiedliche Rohstoffe. Wie werden wir beispielsweise die Energiewende und die Digitalisierung schaffen ohne seltene Erden, ohne seltene Metalle?
Wir haben die nicht in Europa. Die Russische Föderation verfügt darüber sehr wohl. Für mich ist die Frage: Sind wir da weitsichtig genug? Sind wir strategisch genug oder lassen uns von Tagesereignissen leiten, wenn wir sagen: Die Russen gefallen uns nicht, sie machen eine Politik, die uns nicht passt. Oder lassen wir zu, dass Russland sich immer mehr China zuwendet?
Das halte ich für falsch. Wenn man davon ausgeht, dass wir aufeinander angewiesen sind, dann müssen wir nach gemeinsamen politischen Ansätzen suchen. Schauen wir auf die Vorväter der deutschen Ostpolitik, Egon Bahr zum Beispiel: Wenn ich mir vergegenwärtige, wie diese klugen und mutigen Politiker in Zeiten gehandelt haben, als es schier unüberbrückbare Systemgegensätze gab, davon können wir viel lernen.
Was denn?
Nehmen wir nur mal die Menschenrechte, in der Sowjetunion unter Breschnew konnte man das Wort wahrscheinlich nicht mal buchstabieren. Und trotzdem ist es den politisch Verantwortlichen damals auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gelungen über diese gravierenden Unterschiede hinweg eine verbindende Ebene zu finden, um Verträge abzuschließen und Partnerschaften im Rahmen des Möglichen zu entwickeln. Und heute soll das nicht gelingen? Das will mir nicht in den Kopf.
Warum kann sich gerade Ihre Partei in der Ostpolitik so wenig profilieren? Warum gibt es dort keine Menschen mehr wie Egon Bahr oder Willy Brandt?
Die beiden bewiesen Weitsicht. Sie haben damals sehr viel an die mittlere und ferne Zukunft gedacht. Heute scheint mir Politik generell etwas kurzatmig. Vieles fußt auf Stereotypen und vorgefassten Urteilen: Das Böse kommt aus Russland, das Gute aus den USA – letzteres in den vergangenen vier Jahre vielleicht weniger stark, aber bald wieder. So ist die Welt aber eben nicht nur.
Vieles an der russischen Politik ist wahrlich zu beklagen, das ist wirklich nicht das System, in dem ich leben möchte. Aber wer Russland wegen des wahrscheinlichen Tiergartenmords verurteilt, muss auch ein Wort über unsere amerikanischen Verbündeten verlieren, die völkerrechtswidrig seit vielen Jahren mit Drohnen Menschen umbringen, mittlerweile einige tausend. Sie tun das zum Beispiel in Pakistan, in Jemen, im Irak und anderswo, in Ländern, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben, mit denen sie völkerrechtlich kein Kriegszustand haben.
Wenn wir unsere Grundsätze und Regeln ernst nehmen, müssen wir dieselben Maßstäbe ansetzen. Sie können das gut bei der Türkei beobachten. Ich weiß, dass wir die Türkei bei der Regelung von Flüchtlingsfragen brauchen. Aber Erdoğan hat wahrscheinlich mehr Journalisten im Gefängnis als Putin in seiner gesamten Amtszeit hat verhaften lassen. Wir beklagen das, schauen aber am Ende dann doch meist weg, weil wir wissen, dass wir ihn brauchen.
Sie beklagen, dass Ihrer Partei in Bezug auf Russland die politische Expertise fehlt. Stattdessen macht sich die AfD dort breit. Sehen Sie hier eine Gefahr?
Als es im Bundestag um den Vorsitz der parlamentarischen Freundschaftsgruppe zwischen Deutschland und Russland ging, hat sich keine demokratische Fraktion beworben. Scheinbar fand man das nicht wichtig. Und dann ist das Amt in die Hände der AfD geraten. Natürlich hat das negative Folgen: Mit denen will möglichst niemand nach Russland reisen. Und dadurch kommt noch weniger Kontakt zustande. Das ist keine gute Entwicklung.
Ich glaube, dass es nicht nur eine Gefahr für die deutsch-russischen Beziehungen ist, sondern auch für Deutschland selbst: Das Thema Russland intensiviert die bestehenden Spannungen zwischen Ost und West.
Das sehe ich auch so. Laut Umfragen wünschen sich etwa 70 bis 80 Prozent der Deutschen bessere, intensivere partnerschaftliche Beziehung zu den Russen. Das ist in Ostdeutschland stärker ausgeprägt als in Westdeutschland. Ich möchte vermeiden, dass die Menschen, denen an Russland liegt, nur die AfD als politischen Ansprechpartner sehen.
Es gibt zurzeit so viele Hürden in der Politik in Bezug auf Russland (Krim-Annexion, die Vergiftung von Alexey Nawalny, Cyberspionage). Welche sind Ihre Meinung nach die wichtigsten?
Ich weiß nicht, ob diese Fragen wirklich der Kern oder nur ein Ausdruck eines darunterliegenden Problems sind.
Bei den genannten Sachfragen, begonnen mit der Krim-Annexion, sind Sanktionen verhängt. Wenn wir heute mehr als ein halbes Jahrzehnt zurückschauen, hat sich nichts zum Positiven geändert, aber viel Negatives verstärkt und bewirkt. Wir sehen inzwischen einen politischen Scherbenhaufen in unseren Beziehungen, wir haben eine deutlich höhere Eskalationsgefahr im militärischen Bereich als etwa vor sieben, acht Jahren.
In Russland haben wir eine spürbare antiwestliche Stimmung, die sich gleichzeitig auch ein Stück nationalistischer zeigt. Die Wirtschaft hat gelitten, in Deutschland, in Russland und in ganz Europa. Auch für die Ukraine hat sich nichts ins Positive verändert. Die Krim ist weiterhin annektiert. Wenn man das betrachtet, dann muss man sich doch fragen: Ist das der richtige Weg? Führt der uns weiter oder in eine Sackgasse?
Lawrows Rede in diesem Jahr bei den Potsdamer Begegnungen des Deutsch-Russischen Forums hatte eine Tonlage, die mir Sorgen macht. Das war Klartext: Sagt uns bald, ob ihr noch mit uns wollt, etwas von uns wollt, oder nicht; ansonsten können wir uns möglicherweise weitere Versuche des Dialogs sparen.
Ich hatte in den letzten Jahren so eine Rede nicht gehört. Das lässt mich nicht gerade ruhiger schlafen. Da ist nicht einmal mehr eine diplomatische Floskel zu hören.
Sie meinen also, dass all diese Hürden in den Beziehungen eigentlich Symptome sind und keine Ursachen?
Die Ursache lässt sich in einem Satz zusammenfassen, den Putin 2001 vor dem deutschen Bundestag ausgesprochen hat: Schafft eine Sicherheitsarchitektur, die uns auf Augenhöhe einbezieht. Das war der Kernwunsch seines damaligen Auftritts.
Sechs Jahre später, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, haben viele überrascht gesagt: Warum hält Putin jetzt eine solche Wut-Rede? Aber das war nichts weiter als ein Resümee: Was ist aus dem Vorschlag vor sechs Jahren geworden, gemeinsam mit dem Westen eine neue Sicherheitsarchitektur zu gestalten? Nichts außer einem amerikanischen Raketenschirm und einer Erweiterung der Nato. Was bleibt uns anderes als den Ton und den Kurs zu ändern?
Ich halte diese Entwicklung für ein eminentes Versäumnis. Wenn wir diese Versäumnisse nicht aufarbeiten, dann werden wir weitere Konflikte wie diejenigen auf der Krim, in der Ostukraine oder mit Georgien erleben.
Das zu lösen wird schwierig, dazu brauchen wir vielleicht ein zweites Helsinki. Für unseren Kontinent, für die Zukunft des Friedens auf unserem Kontinent ist Russland ein fundamental wichtiger Faktor. Ob wir wollen oder nicht, gut ein Drittel des europäischen Kontinents ist nun mal Russland. Und ich wundere mich, dass dies so wenig Beachtung findet.
Immerhin sagte die Kanzlerin im vergangenen Jahr in Moskau, dass die Kernfragen der Menschheit in näherer Zukunft – Klimawandel, Flüchtlingsbewegungen, Abrüstung, Terrorabwehr und noch ein paar anderen Punkte – ohne oder gegen Russland nicht lösbar sind. Das wird klar erkannt, schlägt sich aber derzeit nicht erkennbar in politischen Strategien und Modellen nieder.
Ich möchte noch mal zu „Symptomen“ zurückkommen. Der Fall Nawalny markierte einen neuen Tiefpunkt in der Beziehung zwischen nicht nur Deutschland und Russland sondern auch der EU und Russland. Wie sehen Sie diesen Fall?
Ich bin froh, dass Herr Nawalny auf dem Weg der Besserung zu sein scheint. Es war ein Anschlag auf Leben und Gesundheit eines Menschen, und das bedarf gründlicher Aufklärung.
Russland hat kein offizielles Ermittlungsverfahren eröffnet. Alle diese Fragen könnten nur durch die russische Seite beantwortet werden, aber Russland liefert keine Information. Wieso?
Ich habe mir abgewöhnt über die Dinge zu reden, über die ich zu wenig weiß. Und für diese Vorgänge, wo noch dazu wahrscheinlich einige Geheimdienste ihre Hände drin haben, habe ich keine Möglichkeit einer realistischen Einschätzung. Ich kann nur sagen – ich weiß es nicht. Ich finde aber, sie müssen aufgeklärt werden – am besten gemeinsam.
Ein Kapitel in Ihrem Buch heißt „Dialog auf der Augenhöhe“. Wo sehen sie die Felder, wo man zu einem solchen Dialog kommen kann?
Wenn wir glauben, dass wir einander in der Zukunft brauchen, dann liegen Felder der Zusammenarbeit förmlich auf der Hand. Die Corona-Krise zum Beispiel hat weltweit für ähnliche Herausforderungen gesorgt. Da wäre es sinnvoll, Strategien abzugleichen, um zu sehen, was geklappt hat und was nicht.
Wir haben die Entwicklung neuer Wirtschaftsfelder im Bereich der Energiewende, der Mobilität, der Wasserstoffwirtschaft. Da gibt es große Schnittmengen zwischen Russland und Deutschland, wo wir gemeinsam arbeiten könnten – und auch müssten, wenn wir den Klimawandel bekämpfen wollen.
Beim Thema kulturelle Arbeit hatten wir trotz der schwer belasteten Verhältnisse auch in den vergangenen Jahren immer wieder wirkliche Highlights. Es wäre auch an der Zeit, dass wir endlich Visaerleichterungen für den Jugendaustausch schaffen. Dafür setzt sich auch die neue Initiative „Jugendwerk“ ein.
Gleichzeitig gibt es seit Jahren die Stiftung „Deutsch-Russischer Jugendaustausch“. Besteht da nicht die Gefahr, dass diese beide Initiativen sich gegenseitig behindern?
Ich bin sehr froh, dass sich Menschen zu dieser Initiative zusammengefunden haben. Die Unterschriftliste zeigt, dass es ein ganz ausgeprägter Wille ist, den Draht zur russischen Föderation und zum russischen Volk nicht zu verlieren. Was die Stiftung Jugendaustausch in Hamburg angeht: Man darf sich natürlich nicht gegenseitig behindern. Aber in welche Bahn man das lenkt, wie man das miteinander organisiert, da wollen wir als Deutsch-Russisches Forum versuchen zu unterstützen.
Und wie lautet Ihr Appell an die deutsche Regierung und den Außenminister Maas im Bereich Ostpolitik, und was erwarten Sie diesbezüglich von Europa?
Der deutsche Außenminister braucht von mir mit Sicherheit keinen Rat. Ich wünsche mir wie alle im Deutsch-Russischen Forum vereinten Mitstreiter, dass wir weiter Wege suchen, um das ausgesprochen schlechte Verhältnis zu unseren russischen Nachbarn zu verbessern. Da hat jeder seinen Beitrag zu leisten und möglichst auch ohne Provokationen. Sicher wird sich nicht kurzfristig aus so schweren Spannungen eine politische Partnerschaft entwickeln lassen, aber wir können über eine friedliche sachbezogene Koexistenz und gute Kontakte unserer Menschen vielleicht auf einen Weg gelangen, der irgendwann später vielleicht auch zu einer Partnerschaft führt.
Ich sage das, weil ich zutiefst überzeugt bin, dass wir uns brauchen. Mich leitet der Satz von Egon Bahr: „Ohne oder gegen Russland wird es keine friedliche Zukunft auf unserem Kontinent geben.“ Wer sich von diesem Satz leiten lässt, der kann gar nicht anders, als sich mit allem Engagement für gute Beziehungen unserer Länder in einem gemeinsamen Europa einzusetzen.