Matrjoschka des Kriegs
„Weltkrieg in Stücken“: Im Ukrainekrieg verdichtet sich das neueste Stadium des Neoimperialismus zur Weltkrise
Historische Ereignisse lassen uns Altes neu sehen. Kälter und erschrockener lese ich vor einem Treffen mit Maxim Kantor erneut in dessen Roman „Rotes Licht“ Szenen wie die von einem mit gefesselten Händen erschossenen ukrainischen Zivilisten, der als Faschist diffamiert wird.
Wie konnte der markante Maler und Romancier schon Jahre vor Butscha so etwas schreiben? Er sei in Gegenden gewesen, in denen der Gewaltherrscher im Kreml zuvor morden, plündern und vergewaltigen ließ, und übernahm es in seinem Epos für den 2014 begonnenen Angriff auf die Ukraine. Stets erhielten die Kriegsverbrecher im Kreml Auszeichnungen.
Es gab Zeiten, in denen der „große Gopnik“ (Viktor Jerofejew) mit anderen Mitteln in der Ukraine mehr erreicht hätte, aber hier gilt, was Sebastian Haffner über den Tiefpunkt unserer Geschichte schrieb: „Aber seine Mordlust war stärker als seine gewiss nicht geringe Fähigkeit zum politischen Kalkül.“
Einen Krieg, der die Sehnsucht nach dem russischen Imperium nährt, sah ich bereits 2016 in meiner Reportage von der Front, und als einen der Konflikte, die bis zum Atomkrieg eskalieren können, taucht er in meinem Buch „An den Rändern Europas“ (2021) auf. Deshalb erwartete ich eine Ausweitung der Kampfzone, aber nicht in dem am 24. Februar 2022 erfolgten Ausmaß. Der Diktator will eine neue Weltunordnung.
Viele Kriege trägt dieser Krieg in sich, wie eine Matrjoschka ineinander verschachtelte Puppen. Er ist der bislang größte der Kriege im postsowjetischen Raum, wo es keinen einzigen Tag Frieden gab, was die Sehnsucht nach der Nato nährt, deren Osterweiterung gleichzeitig antiwestliche Tendenzen in Russland stärkte. Nicht nur Jugoslawien ging in Zerfalls- und Aufteilungskriegen unter, sondern zeitlich gedehnt bis heute die Sowjetunion mit hunderttausenden Toten, Millionen Vertriebenen, zerstörten Städten und auf lange Sicht ruinierten zwischenstaatlichen Beziehungen. Sind wir Zeitzeugen eines neuen achtzigjährigen Kriegs?
Es ist ein indirekter Kampf zwischen Russland und dem Nato-Westen. Wie als Großbritannien 1940, vor dem finanziellen Zusammenbruch stehend, von Roosevelts USA mit einem Lend-Lease-Programm unterstützt wurde, geschieht es wieder. Ob es aber erneut gelingt, eine breite Koalition, diesmal mit China, zu schmieden, muss offenbleiben, vieles deutet auf eine Spaltung der Welt.
Allerdings greift der Faschismus-Stalinismus-Vergleich zu kurz. Einen Mix aus unterschiedlichen Gesellschaftsformationen konstatierte bereits der Historiker Wolfgang Ruge 1990 für die Sowjetunion: Ineinander verflochten sich staatsmonopolistische, militärfeudale und sklavenhalterische Strukturen und zerstörten den Traum von Gerechtigkeit. Das neue Russland hat keine progressive Ideologie, sondern eine Giftmischung aus allem Reaktionären – vom Stalinismus bis hin zum orthodoxen Klerikalfaschismus. Maxim Kantor erzählte von seinen Begegnungen mit Eric Hobsbawm, mit dem er am Beginn seiner Arbeit am „Roten Licht“ öfters sprach. Das Neue ist, so der Jahrhunderthistoriker, dass einst feudaler Besitz ins Nationale überging.
Nun erfolgt dieser Prozess umgekehrt. Aus der Nomenklatura erwuchs die neue Klasse der Neofeudalen. Das gilt für alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion, auch für die Ukraine.
Diese erlebte immer wieder demokratische Aufbrüche, aber die oligarchische Struktur blieb. Präsidenten kamen und gingen, die Oligarchen blieben; so änderte sich die Forbes-Liste der Milliardäre in der Ukraine kaum.
Die entfesselten Märkte brachten vielerorts Potentaten hervor. Kein Ende der Globalisierung droht, aber sie mutiert so gierig, dass ein autoritäres Zeitalter heraufziehen könnte. Dennoch gelten heute Solidarität mit und mehrsträngige Unterstützung der Ukraine, die trotz alledem das Humane verteidigt.
Damit sind nicht alle Puppen des Kriegs in der Ukraine skizziert; die größte, alles umhüllende Matrjoschka ist der „Weltkrieg in Stücken“ (Papst Franziskus), andere Teile findet man im Jemen oder im Kongo und wahrscheinlich in der Verschärfung der Klimakatastrophe. Im Ukrainekrieg verdichtet sich das neueste Stadium des Neoimperialismus zu einer Weltkrise, deren Überwindung Voraussetzung für den Fortbestand der Menschheit ist.
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"Populismus im Süden"
August 2022, Nr. 190