Kein Vertrauen in Russland
Pflicht des Kriegsopfers zu Verhandlungen? Das Völkerrecht verlangt das nicht. Antwort auf Reinhard Merkel
Die Frage, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beendet werden kann, bewegt weltweit die Gemüter. Eine Verhandlungslösung wird zwar von beiden Seiten des Konflikts nicht kategorisch ausgeschlossen, allerdings mit Vorbedingungen verknüpft, die bis auf Weiteres eine Einstellung der Kampfhandlungen illusorisch erscheinen lassen.
Die unterschiedlichen Ausgangspositionen der beiden Kriegsparteien sollten klar ausgesprochen werden: Für Russland scheint eine Verhandlungslösung nur denkbar zu sein, wenn seine Kriegsziele einer Demilitarisierung und „Denazifizierung“ der Ukraine erreicht worden sind und seine Gebietserweiterung durch die versuchte Annexion der ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson ebenso wenig infrage gestellt wird wie seine Herrschaft über die bereits 2014 annektierte Krim.
Für die Ukraine geht es dagegen genau darum, diese russischen Kriegsziele nicht zu akzeptieren, ihre territoriale Souveränität wiederherzustellen und zugleich die Voraussetzungen für eine Ahndung von russischen Kriegsverbrechen und anderen Verstößen gegen das Völkerrecht sowie den Wiederaufbau des Landes zu schaffen.
Für Drittstaaten wie die Bundesrepublik Deutschland stellt sich die Frage, wie viel Einfluss auf die Kriegsparteien genommen werden kann, um eine Verhandlungslösung zu erreichen. Die Beantwortung dieser Frage hängt in politischer Hinsicht von den Erfolgsaussichten entsprechender diplomatischer Initiativen ab. Sie steht aber auch in einem rechtlichen Kontext. Das Völkerrecht garantiert nicht nur der Ukraine und ihren verbündeten Staaten das Selbstverteidigungsrecht gegen den russischen Angriffskrieg. Es verbietet auch eine Anerkennung von territorialen Veränderungen, die unter Verletzung des Annexionsverbots, einer Norm des zwingenden Völkerrechts, herbeigeführt worden sind.
Pflicht zu Verhandlungen?
Gibt es aber über diese Ausgangspunkte hinaus eine Pflicht auch des Opfers eines Angriffskriegs, eine Verhandlungslösung zu suchen? Und steht eine solche Pflicht auch Teilen der ukrainischen Kriegsziele entgegen, insbesondere im Hinblick auf die Beendigung der russischen Besetzung der Krim? In diese Richtung hat in dieser Zeitung am 28. Dezember der Hamburger Rechtsphilosoph und Strafrechtler Reinhard Merkel argumentiert.
Auch wenn Merkel die Völkerrechtswidrigkeit des russischen Angriffskriegs anerkennt, fordert er von der Ukraine, „Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden“. Zudem mahnt er, dass ein Versuch der Ukraine, die Krim mit militärischen Mitteln zurückzuerobern, „einen neuen Krieg“ darstellen würde.
Ich stimme aus vielfachen Gründen mit der Stoßrichtung von Merkels Text nicht überein, von denen ich mich hier auf drei Punkte konzentrieren möchte: die unklare Verortung des Textes zwischen Völkerrecht und politischer Ethik, seine Position zur Zukunft der Krim und seine Lesart der Friedensorientierung der Völkerrechtsordnung.
Merkel: Mal so, mal so
Erstens: Merkels Text changiert zwischen rechtlichen Argumenten auf der einen und Bezugnahmen auf Gesichtspunkte der Moral und der politischen Ethik auf der anderen Seite. Merkels Text sucht die Kategorien des Völkerrechts immer wieder gezielt durch eine Bezugnahme auf von ihm als unumstößlich postulierte Positionen der politischen Ethik zu unterlaufen. Umgekehrt lädt er die politische Ethik mit vermeintlichen völkerrechtlichen Gesichtspunkten auf, etwa wenn er schreibt, dass die „zuständigen Argumente“ dieses Bereichs mit denen des „ius ad bellum für gerechte Kriege“ korrespondierten.
Unklar bleibt an vielen Stellen des Textes aber schon, auf welche historischen Schichten des Völkerrechts sich Merkel eigentlich bezieht. Mal wird mit Erwägungen der Lehren eines gerechten Krieges argumentiert, mal andersherum bemerkt, dass das Völkerrecht diese hinter sich gelassen habe und „die Legitimation militärischer Gewalt entmoralisiert“ habe. Merkel konzediert zwar, dass das Völkerrecht keine Pflicht zur Verhandlung kenne. Gleichwohl relativiert der Beitrag die klaren Aussagen des Völkerrechts unter Rückgriff auf eine diffuse Moral und stellt fest, dass „die Pflicht der Regierung in Kiew, Verhandlungen ex bello zu akzeptieren“, kein unmittelbares Gebot des Völkerrechts sei – dann also ein mittelbares?
Und wenn Merkel einräumen muss, dass über die Fortsetzung der Verteidigungshandlungen – er spricht von der Fortsetzung des Krieges – nur die ukrainische Regierung zu entscheiden habe, taucht als Maßstab für Kritik an der Entscheidung der fortdauernden Verteidigung doch wieder das Völkerrecht auf. Schon dieses stete Changieren zwischen vermeintlich völkerrechtlichen Gesichtspunkten und Argumenten der politischen Ethik macht den Beitrag höchst angreifbar.
Die Krim ist völkerrechtswidrig annektiert
Zweitens: Schlicht und ergreifend völkerrechtlich unvertretbar wird es im Ergebnis sodann, wenn sich Merkel der Reichweite des ukrainischen Selbstverteidigungsrechts im Hinblick auf die Krim zuwendet, was in der lebhaften Diskussion zu Merkels Text in den sozialen Medien auch bereits von dem in Wiesbaden lehrenden Völkerrechtler Matthias Goldmann zu Recht kritisiert wurde. Zur Erinnerung: Die Krim wurde 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektiert, nachdem zuvor die berühmt-berüchtigten „grünen Männchen“ ein Referendum über eine Unabhängigkeit der Krim von der Ukraine in die Wege geleitet hatten.
Für die von ihm angemahnten Verhandlungen legt Merkel der Ukraine nun nahe, die Annexion der Krim zu akzeptieren und jedenfalls keine Schritte zu ihrer Rückeroberung zu ergreifen. Aus einer „ehedem rechtswidrigen Okkupation“ sei „der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden“. Dadurch gewönne „die Friedensmaxime der UN-Charta“ die Oberhand über das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Würde die Ukraine versuchen, die Krim militärisch zurückzuerobern, „begänne sie einen neuen Krieg“, ja, sie würde selbst einen bewaffneten Angriff begehen. Damit impliziert Merkel, dass sich Russland dann gegen ein solches Vorgehen auf das Selbstverteidigungsrecht berufen könnte.
Wie lange gilt das Selbstverteidigungsrecht?
Damit spricht Merkel eine in der Völkerrechtswissenschaft vom Fall der Ukraine losgelöst durchaus umstrittene Frage an: Bis zu welchem Zeitpunkt darf sich ein angegriffener Staat auf das Selbstverteidigungsrecht berufen? Greift dieses auch weiterhin, wenn Teile des Staatsgebiets dauerhaft besetzt sind?
Zunächst einige völkerrechtliche Grundlagen: Das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht aus Artikel 51 der UN-Charta setzt einen bewaffneten Angriff voraus. Um diesen zurückzuschlagen, darf der angegriffene Staat, auch im Zusammenwirken mit Drittstaaten, die Gewalt einsetzen, die notwendig und verhältnismäßig ist, um seine territoriale Integrität wiederherzustellen. Das zeitliche Ende des Selbstverteidigungsrechts kann dabei als Ausdruck der Notwendigkeit der Verteidigungshandlung bestimmt werden.
In der Staatenpraxis wurde über diese Voraussetzungen etwa im Kontext des von Merkel erwähnten bewaffneten Konflikts zwischen Argentinien und dem Vereinigten Königreich um die Falklandinseln 1982 gerungen; in jüngerer Vergangenheit auch zwischen Aserbaidschan und Armenien im Hinblick auf den Nagorny-Karabach-Konflikt.
Eine Auffassung im völkerrechtlichen Schrifttum betont für solche Situationen den anhaltenden Charakter der völkerrechtswidrigen Besatzung. Diese stelle einen andauernden völkerrechtswidrigen Akt dar, was auch im Text der 1974 von der UN-Generalversammlung im Konsens angenommenen Aggressionsdefinition seinen Niederschlag findet. Eine andere Position geht demgegenüber davon aus, dass ein bewaffneter Angriff durch eine Stabilisierung einer Konfliktsituation auch zu einem Ende kommen könne. Etwa durch die Vereinbarung eines Waffenstillstands könne die Situation befriedet werden. Die Lösung einer sodann streitigen Territorialfrage müsse sich in diesem Fall am Grundsatz der friedlichen Streitbeilegung und nicht mehr am Selbstverteidigungsrecht orientieren.
Merkel scheint in seinem Beitrag der zweiten Sichtweise folgen zu wollen. Dabei verkennt er allerdings, dass die Krim-Situation so beschaffen ist, dass von einer Befriedung des Konflikts nicht ausgegangen werden kann. Es fehlt an der von Merkel in Anspruch genommenen „erreichten normativen Stabilität“ der Situation auf der Krim. Diese kann nämlich schon dann nicht eintreten, wenn die fragliche territoriale Situation durch einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Gewaltverbot eingetreten ist, was im Fall Krim durch das Vorliegen einer völkerrechtswidrigen Annexion gegeben ist. Eine Berufung auf den Schutz des Gewaltverbots scheidet zudem kategorisch aus, wenn der das fragliche Territorium besetzende Staat selbst wieder Gewalt anwendet und dafür sogar das fragliche, vermeintlich befriedete Territorium nutzt.
Unabhängig davon, dass von einer befriedeten Situation auf der Krim angesichts der vielfachen und gut dokumentierten Menschenrechtsverletzungen Russlands etwa gegen die Bevölkerungsgruppe der Krim-Tataren keine Rede sein kann, hat Russland mit der massiven Invasion des ukrainischen Staatsgebiets seit dem 24. Februar 2022 jeden denkbaren Vertrauenstatbestand in ein Fortdauern der von ihm geschaffenen Fakten auf der Krim verspielt.
Eine andere Sichtweise würde den Aggressor privilegieren. Durch die faktische Konsolidierung einer Besatzungssituation würden so die Voraussetzungen geschaffen, um die Souveränität und die territoriale Integrität eines anderen Staats scheibchenweise zu beseitigen. Damit würde aber endgültig die Axt an die normative Autorität des Gewaltverbots gelegt, das von Merkel zwar einerseits als „Stabilitätsbedingung jeder Normenordnung“ anerkannt wird, dessen Wert er aber andererseits aufgrund seiner vorgeblichen moralischen Entleerung geringschätzt.
Selbstbestimmungsrecht der Völker
Schließlich und drittens: Letztlich geht es Merkel nicht um den Schutz des Gewaltverbots, dieses Eckpfeilers der modernen Völkerrechtsordnung, sondern um einen diffuseren Friedensbegriff, der darauf basiert, dass im Zweifel ein angegriffener Staat im Interesse des Großen und Ganzen seine Verteidigungsleistung einzustellen habe. Es liest sich eingängig, wenn Merkel von der Ukraine fordert, Verhandlungen nicht „konzessionslos“ abzulehnen.
Dies unterfüttert er mit den Schutzpflichten der Ukraine für Leib und Leben ihrer Bürger. Damit klingt ein menschenrechtliches Argument an, welches aber letztlich zu kurz gedacht ist. Genauso wie das Recht auf Leben im internationalen Menschenrechtsschutz verankert ist, bezieht sich dieser auch auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches in beiden UN-Pakten von 1966 in Artikel 1 enthalten ist.
Es ist auch Ausdruck dieses Gesichtspunkts, dass die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger zu Recht nicht davon ausgehen, dass der Schutz von Leib und Leben in einem von Russland entmilitarisierten und „entnazifizierten“ Land gewährleistet bliebe.
Helmut Philipp Aust lehrt Völkerrecht an der Freien Universität Berlin. Sein Beitrag ist ursprünglich am 2.1.2023 in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.