Kasachstan: Russland spielt auf Risiko

Weshalb der Kreml sich entschieden hat, das Regime in Kasachstan zu stützen

Russische Soldaten in Kasachstan 7.1.22
Hilfe für Tokajew: Russische Soldaten nach Ankunft in Kasachstan, 7.1.2022

Der Kreml wurde von der plötzlichen Krise in Kasachstan überrascht. Dort breiteten sich Proteste gegen Preiserhöhungen bei Treibstoff blitzschnell über das riesige Land aus, die sich in der ehemaligen Hauptstadt Almaty in Gewalt niederschlugen.

Gerade noch, ein paar Tage vor Neujahr, hatte Wladimir Putin den amtierenden kasachischen Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew und seinen einflussreichen Vorgänger und Förderer Nursultan Nasarbajew in St. Petersburg zu einem informellen Gipfeltreffen mehrerer postsowjetischer Staats- und Regierungschefs begrüßt. Nichts von dem, was passiert ist, war damals zu erwarten.

Kaum waren die beiden Anführer heimgekehrt, brachen die Proteste aus. Ausgelöst durch die Aufhebung einer Preisobergrenze für Kraftstoff für Fahrzeuge heizten sich die Proteste durch das weit verbreitete Gefühl von Ungleichheit, Armut und Korruption auf. Innerhalb von drei Tagen setzten Demonstranten Regierungsgebäude und Polizeifahrzeuge in Brand, plünderten Banken und Geschäfte und besetzten den internationalen Flughafen Almaty. Als die Polizei versuchte, die Kontrolle über Almaty zurückzuerlangen, starben Berichten zufolge Dutzende Demonstranten und 18 Sicherheitsbeamte.

Die rasche Ausbreitung von Protesten über ein riesiges Land, die anfänglich schwache Reaktion der Behörden und die zunehmende Gewalt haben das Gespenst des Chaos geschürt; und das in einem Land, das Russlands Verbündeter in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und in der Eurasischen Wirtschaftsunion ist sowie sein Nachbar an der faktisch ungeschützten und längsten Landgrenze der Welt (7500 Kilometer). Von den 19 Millionen Einwohnern Kasachstans sind 3,5 Millionen ethnische Russen.

Moskau machte sich nie Illusionen über das Regime in Kasachstan. Einige seiner Merkmale wie der Autoritarismus wurden in erster Linie als stabilisierend angesehen, andere, wie etwa Korruption, in einem ölreichen Land als unvermeidlich. Wieder andere, wie die Multivektor-Außenpolitik der zentralasiatischen Nation – ein Balanceakt des nominellen Verbündeten Moskaus inmitten von Russland, China, dem Westen und der Türkei –, waren schlicht irritierend.

Warum Tokajew gerettet werden muss

In Kasachstan hatte Russland das gleiche Problem wie in Weißrussland: Das herrschende Regime hat es geschafft, die politischen Kontakte Moskaus im Land zu monopolisieren. Wer in der politischen Elite unter Verdacht stand, zu enge Verbindungen zu Russland zu haben, wurde ersetzt und isoliert. Das offizielle Russland wiederum hat, um stabile Beziehungen zu einem wichtigen Verbündeten, Partner und Nachbarn aufrechtzuerhalten, über den Anstieg des ethnisch kasachischen Nationalismus und Berichte über die faktische Diskriminierung ethnischer Russen im Land hinweggesehen.

Tokajew ist keineswegs Moskaus Mandant, doch wenn man ihn (und letztendlich auch Nasarbajew) stürzte, könnten nach Moskaus Verständnis ultranationalistische Kräfte hervortreten, wahrscheinlich bald gefolgt von radikalen Islamisten. Tokajew muss also gerettet werden, genau wie Weißrusslands langjähriger Führer Alexander Lukaschenko im Sommer 2020, als dort Proteste ausbrachen.

Anders als Lukaschenko ist Tokajew jedoch kein absoluter Herrscher. Er hat weder die volle Macht und Autorität, noch sind seine Polizei und sein Militär so motiviert wie ihre belarussischen Kollegen, die Proteste allein zu bewältigen. Da die Unruhen trotz des Rücktritts der Regierung und Tokajews Entlassung von Nasarbajew als Vorsitzender des Sicherheitsrats nicht nachließen, war der kasachische Präsident gezwungen, nach Hilfe von außen zu rufen.

Am 5. Januar bat er die von Russland geführte Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Organisazija Dogowora o Kollektiwnoi Besopasnosti, ODBK) um Hilfe bei der Bekämpfung der von ihm als „terroristische Bedrohung“ bezeichneten im Ausland ausgebildeten Banden. Dieser Aspekt ist wichtig: Die ODKB ist ein Verteidigungsbündnis, dessen Aufgabengebiet sich nicht auf innere Unruhen erstreckt.

Russland reagierte schnell auf den Aufruf und organisierte eine Friedenstruppe der ODKB, die am 6. Januar 3000 Fallschirmjäger nach Kasachstan entsandte. Die anderen Mitglieder der ODKB – Armenien, Weißrussland, Kirgistan und Tadschikistan – entsenden ebenfalls symbolische Kontingente zwischen 70 und 500 Soldaten.

Dies ist das erste wirkliche Engagement des Blocks seit seiner Gründung 1999. Mit Blick auf die Volksstimmung in Kasachstan achtete Moskau von Anfang an darauf, das Mandat der Truppe auf die Sicherung strategischer Einrichtungen und anderer wichtiger Vermögenswerte zu begrenzen, und überließ die Behandlung der Demonstranten der kasachischen Polizei und Armee.

Eine militärische Intervention in Kasachstan ist ein bedeutender Schritt für Russland und birgt Risiken. Müsste die Mission der russischen Streitkräfte ausgeweitet werden, käme es zu einer massenhaften Entfremdung des kasachischen Volks von Russland oder sogar zu offenen Feindseligkeiten und Widerstand. Dies wiederum hätte Folgen in Russland selbst, wo ersten Umfragen zufolge doppelt so viele Menschen gegen die Entsendung von Truppen nach Kasachstan sind als dafür.

Sollte es Russland allerdings gelingen, das Regime zu stützen und prorussischer zu machen – nicht nur in Worten, sondern auch in Taten –, könnte Kasachstan wie Weißrussland ein verlässlicherer Verbündeter und Partner für Russland werden. Die Multivektor-Außenpolitik von Nur-Sultan würde dann gestrafft – wie zuletzt in Minsk und Eriwan geschehen. Die Chancen für das letztere Szenario scheinen größer zu sein, was die Entscheidung des Kremls für die Intervention erklärt.

Dieser Text ist ursprünglich in englischer Sprache auf der Webseite des Moscow Carnegie Center erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Beitrag auf KARENINA zu veröffentlichen.

Übersetzung: KARENINA Redaktion/PHK

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