Kampfflugzeuge: Eine Frage der Moral?
Weshalb es im Interesse des Westens und der Ukraine liegt, keine Kampfflugzeuge zu liefern
Wer einen Krieg führt, verliert irgendwann die Kontrolle über ihn. Der preußische General Carl von Clausewitz warnte vor 200 Jahren davor, dass unvorhergesehene Ereignisse, oder wie er es nannte: „Friktionen“, jede Armee von ihrem ursprünglichen Ziel abbringen. Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt – auch nicht in der Ukraine.
Dass alles schiefgeht, was schiefgehen kann, erfuhren die Russen bereits zu Beginn ihres Feldzugs. Sie hatten einen Blitzkrieg geplant und wollten Kiew mit einer kühnen Luftlandeoperation einnehmen. Als das nicht funktionierte, sollten schnelle Vorstöße mit massierten Panzerkräften den Durchbruch erzwingen. Auch dieser Ansatz scheiterte. Die Russen besannen sich deshalb auf ihre Taktik im Zweiten Weltkrieg und überzogen die ukrainischen Stellungen mit konzentriertem Artilleriefeuer – vergeblich.
Jetzt probieren die Russen eine vierte und besonders blutige Vorgehensweise aus. Sie greifen dabei auf ein noch älteres Vorbild zurück, den Ersten Weltkrieg. In nicht nachlassenden Wellen schicken sie die Infanterie in den Tod und kämpfen sich so Meter für Meter, Graben für Graben voran. Die Dimension ist eine andere, Putins Generäle können ungleich weniger Männer verheizen, aber der Donbass ähnelt den Schlachtfeldern Flanderns.
Wenigstens Neurussland soll es sein
Ob die Neuorientierung diesmal den Sieg bringt? Putin steht zu Beginn des zweiten Kriegsjahrs unter gewaltigem Druck. Nachdem sich alle früheren Kriegsziele als illusorisch erwiesen haben, muss er einen Erfolg vorweisen. Wenigstens die Oblaste Luhansk und Donezk will er zur Gänze unter seine Kontrolle bringen.
Dank den Geländegewinnen am Asowschen Meer und der geschlossenen Landbrücke zur Krim könnte Zar Wladimir dann behaupten, er habe zurückgeholt, was Katharina die Große im 18. Jahrhundert von Kosaken und Tataren erobert habe. Wie seine Vorgängerin würde er „Neurussland“ ins Reich eingliedern. Während der Westen die sinnlosen Opfer dieser Politik sieht, interessiert Putin deren imperialer Glanz. Eine russische Großoffensive ist daher wahrscheinlich.
Die Streitkräfte des Kremls sind tief zurück in der Vergangenheit. Masse und Brutalität müssen Qualität ersetzen. Es werden Hunderttausende frische Soldaten ausgehoben, vormalige Strafgefangene dienen als besonders entbehrliches Kanonenfutter.
Die Söldner des Kremls lassen sogar den berüchtigten Stalin-Befehl 227 aus dem Juli 1942 wiederaufleben, der die Exekution zurückweichender Soldaten anordnete. Heute kursiert in der Privatarmee Wagner zur Abschreckung ein grausames Video. Ein Deserteur wird mit einem Vorschlaghammer hingerichtet.
Putin demonstriert der Welt auf diese Weise, dass er für einen Sieg beinahe jeden Preis zu zahlen bereit ist. In seinem zweiten Jahr entwickelt sich in der Ukraine der Krieg zu seiner reinsten Form. Er ist das, als was ihn Clausewitz beschrieben hatte: ein Test der Willensstärke.
Die westlichen Helfer Kiews führen den Krieg zwar nur indirekt, indem sie Waffen liefern und den ukrainischen Staatshaushalt finanzieren. Aber auch für sie gelten die ehernen Gesetze des Kriegs. Alles, was schiefgehen kann, geht schief. Und: Die Willensstärke entscheidet wesentlich über den Kriegsausgang. Beide Maximen muss auch die Nato beachten, wenn sie ihren Kurs im zweiten Kriegsjahr erörtert.
Wird die Nato in den Krieg hineingezogen?
Der Westen unternimmt große Anstrengungen, um Kiew zu unterstützen. Es liegt in seinem Interesse, die russische Aggression gegen Europa abzuwehren. So ist die Ukraine faktisch ein westliches Protektorat. In einem Punkt aber haben die Partner diametral entgegengesetzte Interessen. Die Nato will um keinen Preis in den Krieg hineingezogen werden. Kiew hingegen versucht, den Westen möglichst tief hineinzuziehen.
Solange die Nato-Staaten nur materielle Hilfe leisten, können sie leicht ihr Engagement reduzieren. Sind sie aber unmittelbar ins Kampfgeschehen involviert, ist jede Exit-Strategie mit hohen politischen Kosten verbunden.
In Vietnam durchliefen die USA alle Stadien der Eskalation: von der Unterstützung der französischen Indochina-Truppen über Militärberater für die südvietnamesische Armee bis hin zur Stationierung von einer halben Million Mann. Der lange Weg zum Frieden stürzte Amerika in die tiefste Krise seit 1945.
Daher hat Präsident Joe Biden von Beginn an versucht, den Konflikt zu begrenzen. So erhielt die Ukraine Raketenwerfer und Munition mit einem Radius von 75 Kilometern. Projektile mit einer Reichweite von 300 Kilometern, die russisches Staatsgebiet erreichen würden, behielt Washington hingegen zurück.
Inzwischen geht die amerikanische Regierung einen Schritt weiter und liefert neben schweren Panzern auch 150 Kilometer weit reichende Raketen. Die nächste Eskalationsstufe – Kampfflugzeuge – schließt das Pentagon jedoch aus. Natürlich betrachtet Präsident Selensky dies nicht als das letzte Wort. Kiew warnt vor dem moralischen Bankrott des Westens, wenn der verzweifelten Ukraine Mittel vorenthalten werden und die Angreifer so die Oberhand gewinnen könnten.
Mit Kampfflugzeugen würde sich jedoch die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Russland erhöhen. Die Maschinen sind vollgestopft mit Hightech und erfordern konstante Wartung – entweder auf Nato-Territorium oder durch westliche Spezialisten in der Ukraine. Weil die Theorie des preußischen Strategen von den Friktionen und den unvorhersehbaren Ereignissen auch hier gilt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die russischen Streitkräfte willentlich oder versehentlich Nato-Gebiet und westliche Soldaten attackieren.
Die Logik der atomaren Abschreckung versucht, genau dies zu verhindern. Weil die totale Vernichtung droht, respektieren beide Seiten eine rote Linie. So haben die russischen Nuklearwaffen einen Perimeter um die Ukraine gezogen, der für die Nato tabu ist. Moskau wagt es umgekehrt nicht, westliche Ziele mit herkömmlichen oder Cyberwaffen anzugreifen. Westliche Kampfflugzeuge würden die Grenze verwischen.
Das neue und das alte Europa
Auch Clausewitz’ Definition des Kriegs als Test der Willensstärke spricht für Zurückhaltung. Die Nato ist stark, weil sie ein Bündnis ist. Aber Allianzen sind nur so belastbar wie ihr schwächstes Glied. Die Hysterie um die Leopard-Panzer erinnert daran, dass Deutschland militärisch ein unsicherer Kantonist bleibt.
Auch in anderen europäischen Ländern ist die öffentliche Meinung gespalten. Je länger der Krieg dauert, umso spürbarer wird die Last der Flüchtlinge. Der Enthusiasmus für die blau-gelbe Sache kann also endlich sein.
Vater Bush war ein erfahrenerer Staatsmann als sein Sohn. Im Golfkrieg zog er es vor, seine fragile Allianz zusammenzuhalten, obwohl er dafür auf den endgültigen Sieg über Saddam Hussein verzichten musste. Bush junior hingegen nahm für den Sturz des Diktators einen Konflikt mit Deutschland und Frankreich in Kauf. Das Schisma wirkt bis heute nach.
Auch der Graben zwischen dem – wie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld damals ätzte – alten und dem neuen Europa, also Westen und Osten, ist noch größer geworden. Die Regierungen in Berlin und Warschau haben sich seit Februar 2022 nicht mehr viel zu sagen.
Vorausschauende Politik ist gefragt
Mit dem zweiten Kriegsjahr steigt der Einsatz. Die Bereitschaft nimmt zu, höhere Risiken einzugehen, um eine Entscheidung zu erzwingen. In dieser Lage darf sich die Nato nicht eine Salamitaktik oktroyieren lassen und scheibchenweise neue Waffensysteme liefern. Die Allianz würde so zum Spielball eines Überbietungswettbewerbs. Sie muss ihr Handeln vielmehr vorausschauend auf ein Ziel ausrichten.
Der Erhalt der Ukraine als funktionsfähiger Staat und ihre Eingliederung in Nato und EU sollten Priorität haben. Die Befreiung aller besetzten Gebiete ist sekundär. Eine solche Festlegung wirkt sich natürlich darauf aus, welche Waffen man liefert. Die Strategie beansprucht immer den Vorrang vor der Wahl der dazu nötigen Mittel.
Der Westen kann gar nicht anders, als seine Version einer Weltordnung gegen den Usurpator Putin zu verteidigen. Zugleich liegt es im westlichen Interesse, nicht zur unmittelbaren Kriegspartei zu werden. Diese Güterabwägung geht mit einem moralischen Dilemma und vielen Grautönen einher. Die bedingungslose Unterstützung der Ukraine hingegen verspricht die Klarheit einer Schwarz-Weiß-Alternative. Das wirkt moralisch einwandfrei. Klüger ist es nicht.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 10.2.2023 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung