„Mein Russland schreit: Kein Krieg!“

Sewa Kovalenko, 22, Schauspieler, Sankt Petersburg: „Ich bin ein Idiot, ich hoffe noch auf Rückkehr“

Seva Kovalenko aus St. Petersburg, Russland
Sewa Kovalenko: "Innerlich unterscheide ich das Russland, das Krieg führt, von dem Russland des Theaters und der Musikindustrie."

Ich bin von Frankeich aus nach Berlin gekommen. Dort war ich drei Wochen. Ich wohnte zwei Stunden von Paris entfernt in einer Kleinstadt, einem großen Dorf. Manchmal bin ich nach Paris gefahren, nur um spazierenzugehen und zu gucken. Ich war vorher noch nie in Frankreich gewesen. Eigentlich habe ich dort Freunde meines Vaters, er hat mich zu ihnen geschickt.

Ich bin in der Nacht vom 26. auf den 27. September über die Grenze nach Finnland. Ich hatte ein Schengenvisum, das hatte ich mir sofort nach Beginn des Kriegs ausstellen lassen.

Ich bin 22 Jahre alt. Ich habe an der privilegiertesten Theaterhochschule in Sankt Petersburg Theater- und Film-Schauspiel studiert. Ich habe in unabhängigen Projekten gearbeitet, weil ich aus Prinzip nicht an ein staatliches Theater gehen wollte. Vor meiner Ausreise lief es bei mir sehr gut, ich hatte ziemlich viele Projekte. Ich fing schon an, mit meiner kreativen Arbeit Geld zu verdienen, das war super. Und das ohne Bindung an irgendeine staatliche Einrichtung. In Petersburg ist die unabhängige Theaterszene sehr gut entwickelt, und man kann mehr verdienen, wenn man nicht an einem Theater arbeitet, sondern einfach Projekte macht.

Der 24. Februar: „Komisch, dass jetzt tatsächlich Krieg ist“

Meine Eltern sind Ärzte. Sie versuchten mich zu bewegen, auch Arzt zu werden, mein Großvater hat das von klein auf zu mir gesagt. Mein Vater wollte partout nicht, dass ich Schauspiel studiere, er hält das für einen unsicheren Beruf.

im Jahr 2018, als ich anfing zu studieren, konnte man sich unmöglich vorstellen, dass es einen Krieg geben würde. Aber mein Vater sagte damals zu mir: „Und wenn es plötzlich Krieg gibt, wer braucht dann Schauspieler? Man muss einen Beruf wählen, den man immer braucht, und der dich immer ernähren wird.“ Komisch, dass jetzt tatsächlich Krieg ist.

Ich begann die Nachrichten zu lesen, wie alle nach dem 24. Februar. Davor war ich da nicht sehr interessiert. Aber von diesem Moment an war es unmöglich, nicht Nachrichten zu lesen. Nach dem 24. gerieten alle in Panik, aber dann wurde es doch wieder stiller, wir fingen an, damit zu leben.

Ich war im vierten Studienjahr, das ist die anstrengendste Zeit. Wir machten Aufführungen, ich arbeitete an der Musik, gab irgendwelche Konzerte, auch gegen den Krieg.  Aber mit der Zeit, als wir dann gelernt hatten, damit zu leben, wurde es ruhiger.

Aber dann kam der 21. September, und die Panik war wieder da. Mit meinen Freunden sprachen wir schon darüber, wie wir im Gefängnis ein Theater organisieren würden. Denn wann man nicht in den Krieg geht, geht man ins Gefängnis. Natürlich hatten wir nicht vor, in den Krieg zu ziehen. Das hatten wir einstimmig beschlossen. Und dann kam die Nachricht, dass man die Grenzen schließen würde.

„Mein Opa rief an und weinte“

Ich wollte eigentlich nicht weggehen, weil ich bei den Inszenierungen sehr viel Verantwortung trage, ich habe eine Musikgruppe, die heißt „Billige Dramen“, wir arbeiteten an einer Platte. Ich bin weggefahren, und alles kam zum Stillstand. Ich dachte, dass meine Gruppe das Arbeitstempo durchhalten könnte, aber das klappte nicht, weil ich die Hauptperson war und alle auf Trab hielt.

Am 26. September morgens rief mich mein Vater an und sagte: „Du musst noch heute wegfahren. Sie machen die Grenzen zu, und du musst dich entscheiden, entweder du gehst nach Europa, oder du versteckst dich in der Oblast Jaroslawl auf der Datscha, damit du nicht zum Kriegsdienst eingezogen wirst.“

KARENINA-Serie
Flucht und Exil
Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Ich sagte: Nein, ich fahre nicht. Ich habe Premieren, viele Leute hängen von mir ab, ich will sie nicht im Stich lassen. Dann fuhr ich los, um mit meinem Soundregisseur die Platte abzumischen. Alle waren panisch. Wir versuchten zu arbeiten, aber parallel kamen ständig diese Nachrichten. Ich war mir so sicher gewesen, dass ich nicht wegfahre, dass ich sogar meine Sportsachen mitgenommen hatte, um abends in den Fitness-Salon zu gehen.

Dann rief mich mein Großvater an. Zum ersten Mal hörte ich meinen Großvater weinen. Ich hatte noch nie gehört, wie er weint. Er sagte: „Sewa, ich flehe dich an, bitte fahr weg, uns fällt schon irgendwas ein. Ich ging zur Militärverwaltung, sie sagten, es werden bald alle eingezogen. Aus allen Verbänden, Grundwehrdienstler oder nicht.“ Mein Großvater ist Militärarzt.

Abschied von der Freundin: Tränen flossen

In diesem Moment habe ich begriffen, dass ich fahren musste. Einfach nur, damit mein Großvater sich beruhigt. Ich konnte nicht zulassen, dass er noch einmal in so einen Zustand gerät, ich konnte es nicht ertragen, noch so einen Anruf zu bekommen. Deshalb beschloss ich zu fahren.

Es war 4 Uhr nachmittags. Das Auto nach Finnland ging um 7. Mein Vater sagte, seine Freunde würden fahren, und sie könnten mich mitnehmen. Ich fuhr nach Hause, rief meine Freundin an, die Tränen flossen, das war nervlich sehr schwierig. Ich kam an, sie packte meine Sachen in eine Tasche. Sie hat kein Schengenvisum, sie konnte nicht mit mir mitkommen. Aber sie verstand genau, worum es ging, wir hatten so ein Gefühl, dass man morgen schon mich und alle meine Freunde in den Krieg schicken würde.

Ich fuhr nach Finnland. Von dort aus hatte ich einen Flug nach Frankreich. Der Witz ist, ich war im August schon mal in Finnland gewesen, und weil ich ein französisches Visum hatte, fragten sie mich, wann ich nach Frankreich weiterfahren würde. Ich sagte: „Ende September“ und dachte natürlich, das wäre gelogen. Das war im August. Und jetzt zeigt sich, es stimmte doch.

„From Russia with Punk“

Ich glaube überhaupt nicht an Esoterik und irgendwelche höheren Kräfte, aber an diesem Tag gab es so viele seltsame Zufälle. Am Morgen hatte ich ein T-Shirt angezogen, auf dem stand: „From Russia with Punk“. Ein Fanartikel von Juri Dud. Ich hatte es einfach angezogen, noch bevor mein Vater anrief. Und in genau diesem T-Shirt bin ich über die Grenze gefahren. Ich verabschiedete mich von meiner Freundin, stieg in ein Taxi, und dort lief gerade: „Bis bald, bis bald.“ Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, wenn ich wegfahre, beruhigt sich die Lage und in einer Woche komme ich zurück.

Jetzt ist mein Plan, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, und wie es dann weitergeht, weiß ich nicht. Ich habe eine Einberufung zum Grundwehrdienst, nicht für die Mobilmachung. Aber so wie die Lage ist läuft das auf dasselbe hinaus. Ich hätte am 14. Oktober beim Wehramt erscheinen müssen. Aber ich bin dort nicht erschienen, und jetzt kommen schon Briefe zu mir nach Hause.

Ich habe Angst, zurückzugehen. Die mit abgeschlossenem Studium müssen Wege suchen, der Armee zu entgehen. Man kann sich einen Wehrpass kaufen, oder man besorgt sich irgendwelche Atteste, oder wenn man häufig im Theater auftritt, kann einen das auch schützen.

Die Depressionen kommen wellenartig

Die Depressionen sind schon eingetreten. Sie kommen wellenartig, vor allem wenn ich zuhause bin, geht es mir sehr schlecht. Deshalb habe ich angefangen, einfach raus in den Park zu gehen und Gitarre zu spielen. Einmal hat das ziemlich gut geklappt. Ich dachte, das geht immer so. Ich habe zwei Stunden gespielt und 17 Euro verdient.

In Petersburg habe ich das auch gemacht. Seit ich 15 war, habe ich auf der Straße gespielt. Aber ich habe nie akustisch gespielt, ich hatte immer Verstärker und Mikrophon dabei. Jetzt bin ich eine Stufe tiefer. Ich spiele alle englischen Lieder, die ich kenne.

Ich habe im Moment ein Gefühl, als hätte es mir der Boden unter den Füßen weggerissen. Das Interessanteste ist, dass von allen Emigranten, die mir hier begegnet sind, von allen Menschen, mit denen ich in Berlin oder in Frankreich gesprochen habe, kein einziger auch nur einen Funken Hoffnung auf Rückkehr hat. Als hätten sie alle das völlig aufgegeben.

Ich fühle mich in diesem Sinne sehr einsam, weil ich diese Hoffnung habe. Ich schätze die Situation realistisch ein, dass es leider nur immer noch schlimmer wird. Aber irgendeine Hoffnung gibt es doch. Aber alle um mich herum versuchen mich davon zu überzeugen, dass ich das lassen soll. Das wundert mich. Wahrscheinlich bin ich ein Idiot, dass ich noch Hoffnung habe, wenn sonst keiner mehr Hoffnung hat.

Mein guter Patriotismus

Als ich emigrierte, entdeckte ich bei mir einen guten Patriotismus. Ich wunderte mich, dass ich den habe. Als ich in Berlin eine Bühne für meine Inszenierungen suchte, entdeckte ich, dass ich doch starke Sachen in Russland machen will. Dass das Herz meiner Kreativität Russland sein soll. Natürlich hatte ich immer den Gedanken, dass man sich weiter nach Europa und wohin auch immer entwickeln soll, das ist natürlich stark. Aber ich wollte immer, dass das von meiner Heimat ausgeht. Wie Kirill Serebrennikow das geschafft hat, zum Beispiel.

Vor noch nicht langer Zeit war das Herz seiner Kreativität Russland. Er ist mit seinen Filmen und Inszenierungen in ganz Europa bekannt, aber schöpferisch war er in Russland. Ich finde das sehr stark. „Petrov’s Flu“ und „Sommer“, das sind Filme auf einem für Russland unglaublichen Niveau, die sich sehr von andren Filmen unterscheiden.

Kriegs-Russland versus Theater-Russland

Innerlich unterscheide ich das Russland, das Krieg führt, von dem Russland des Theaters und der Musikindustrie. Mir gefallen die Menschen in der russischen Musikindustrie sehr. Das sind Menschen, die gegen den Krieg sind, die sich gegen den Krieg äußern. Und dafür bezahlen sie.

Für mich ist unsere widerliche Regierung nicht Russland. Russland, das sind für mich die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, die zu unseren Inszenierungen kamen, die auf unseren Konzerten im Chor schrieen „Kein Krieg“. Das ist mein Russland.

Ich habe nie mit einem Menschen gesprochen, der für den Krieg ist. Vielleicht hatte ich Glück. Mein ganzes Umfeld, alle Leute, die ich mag, sind gegen den Krieg. Ich wohnte früher in einer oppositionellen Informationsblase, und wohne da immer noch, wo man dachte, dass alle Leute gegen den Krieg sind.

Aber dann stellte sich heraus, doch nicht alle. Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Wie viele andere war ich total überrascht, als sich herausstellte, dass es eine Menge Leute gibt, die bereit sind, den Krieg zu unterstützen. Das war ein Schock.

Im Sommer war ich in die Oblast Jaroslawl gefahren, aufs Land, wo ich mit den Freunden aus meiner Kindheit sprach, die aus den kleinen Städten an der Wolga kommen. Sie denken völlig anders, sie leben in einer völlig anderen Welt.

Mit Sewa Kovalenko sprach Tatiana Firsova am 28.10.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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