Grüner Pazifismus zieht in den Krieg

Wir haben unsere Lektion gelernt: Putins Krieg und die verblüffende Wende der Grünen

von Josef Joffe
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Deutschland verlässt sein Traumreich und die Grünen, die bisher eher nicht als prototypische Realisten aufgefallen sind, gehen voran. Vor vierzig Jahren waren die Grünen aus dem Nichts mit einer extremen Ideologie aufgetaucht: gegen amerikanische Atomwaffen, gegen Kernkraft, gegen jede Form der Gewalt. Nennen wir es „Ökopazifismus“ oder „Frieden über alles“.

In den 1980ern mobilisierten sie Millionen gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen und blockierten Atomkraftanlagen. Aber wo man steht, hängt immer auch davon ab, wo man sitzt. Heute sind die Grünen eine Säule der deutschen Koalitionsregierung. Ihre Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sind Außenministerin bzw. Wirtschaftsminister.

Wie die Weiße Königin in Alice im Wunderland haben die Grünen zuzeiten vor dem Frühstück bereits an viele unmögliche Dinge geglaubt. Wie die meisten Deutschen. Das Land könne mehr als genug billiges Gas aus Russland beziehen, Öl und Kohle durch Sonne und Wind ersetzen und bis Ende 2020 problemlos seine letzten drei Kernkraftwerke abschalten.

Deutschland könne seine Armee vernachlässigen und von 500 000 auf 180 000 Soldaten eindampfen. Das ehemalige Reich könne getreu seiner Kultur der (militärischen) Selbstverleugnung zur „Friedensmacht“ werden. Handel und Investitionen würden Russland und andere Aggressoren zähmen. Das Gute Made in Germany würde siegen.

Die Grünen stellen sich der Realität

Dann hat der russische Präsident Wladimir Putin zugeschlagen und in der Ukraine unvorstellbare Gräueltaten begangen. Die traditionellen Regierungsparteien SPD und CDU traf das völlig unvorbereitet. Panzer und Geschütze mit großer Reichweite liefern? Nur nicht den russischen Bär reizen, der zu dem Zeitpunkt 55 Prozent des deutschen Gasverbrauchs deckt – den höchsten Anteil in der Europäischen Union. Die Energiewende, den von Deutschlands langjähriger Kanzlerin Angela Merkel verordneten Umstieg auf erneuerbare Energien, rückgängig machen? Bloß nicht.

Die Führung der Grünen hat dagegen eine verblüffende Wende vollzogen und ist mit atemberaubender Geschwindigkeit von Pazifismus auf Kriegslust und von Anti-Amerikanismus auf Anti-Putinismus umgeschwenkt. Habeck gibt dn neuen Ton vor: Eine längere Laufzeit von Atomkraftwerken werde nicht „ideologisch abgewehrt“. Nach ihrem Besuch der Kriegsgebiete in der Ukraine sprach Baerbock für alle: „Diese Opfer könnten wir sein.“

Schon 2015 hatte Baerbock gewarnt, Putin könne Gas als Waffe einsetzen. „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte sie nach der Invasion. „Wir können uns nicht wegducken, wir müssen Verantwortung übernehmen.“

Nach seiner Rückkehr von den Gräueln des Schlachtfelds sprach sich ein junger grüner Bundestagsabgeordneter, Robin Wagener, dafür aus, der Ukraine schwere Waffen sowie Luftabwehrgerät, Panzer und Spähtechnologie zu liefern. Selbst das Urgestein Daniel Cohn-Bendit, 77, hat mit dem Krieg Frieden geschlossen: „Mich schmerzt die Realität, nicht, dass sich die Partei dieser stellt.“ Weil Grüne wie er sich der Realität stellen, sind sie, so zitiert ihn die Bild-Zeitung, „im Moment die rationalste Partei in Deutschland“.

Wodurch erklärt sich das Rätsel einer Partei, die sich so lange der säkularen Religion des Ökopazifismus verschrieben hatte? Warum beschuldigt Baerbock Putin, die „europäische Friedensordnung“ zu zerstören, „die wir in Europa gemeinsam aufgebaut haben“? Warum wenden sich die Grünen, die so lange auf dem Altar des Pazifismus geopfert haben, gegen Russland?

Einer der Gründe ist das, was die Deutschen „die normative Kraft des Faktischen“ nennen. Oder wie John Maynard Keynes es womöglich ausgedrückt hätte, „wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung.“

Die Realität ist düster. Putin versucht das alte Sowjetreich wieder auferstehen zu lassen und bedroht den beispiellosen 77 Jahre dauernden Frieden in Europa. Geht es nach der Ukraine gegen die Republik Moldau und die baltischen Staaten? Polen war in seiner Geschichte immer wieder Opfer russischer Gewalt und fürchtet zurecht Putins Armeen an seiner Ostgrenze. Das bedeutet auch für Polens westlichen Nachbarn Deutschland nichts Gutes. Daher spricht die strategische Logik für Wiederbewaffnung und Abschreckung und schließlich auch für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.

Trotz aller Realpolitik klammert sich die alte Garde auf der Linken immer noch an die altehrwürdigen Wahrheiten der deutschen Ostpolitik. Kooperation statt Konfrontation. Frieden schlägt Macht. Putin braucht einen Ausweg und sollte seine Gewinne behalten dürfen, damit er nicht das Gesicht verliert und den Konflikt weiter eskaliert. Waffenlieferungen an die Ukraine verlängerten nur das Blutvergießen, als sei es die Ukraine, die in Russland die Zivilbevölkerung, Schulen und Krankenhäuser beschießt. In deutlichem Kontrast dazu bekennt Baerbock: „Wem das keine Angst macht, der ist entweder unehrlich oder hat die Lage nicht verstanden.“

Putins Imperialismus und die Grünen

Eine zweite Erklärung ist der Generationswechsel. Die grüne Führung ist in einer Welt aufgewachsen, in der die politische und kulturelle Macht bei ihren inzwischen ergrauten oder verstorbenen Urahnen lag. Die Nachkriegsgeneration hatte ein Land geerbt, das von schwersten Verbrechen gegen die Menschheit beschmutzt war, und versuchte verzweifelt, den moralischen Wert des Vaterlands wiederherzustellen.

Das bedeutete eine 180-Grad-Wende weg vom Führer. Friede, statt Panzer, Gemeinschaft, statt Eroberung, Güte, statt Gier. Deutschlands Selbstdarstellung als moralische Supermacht hatte sogar praktische Vorteile. Immer wenn die USA auf die Bereitstellung von Truppen für militärische Einsätze drängten, konnte sich die deutsche Politik auf die furchtbare Vergangenheit ihres Lands berufen: Ohne uns! Das höchste der Gefühle waren symbolische Kontingente, während die USA und Großbritannien die eigentliche Arbeit machten.

Die neue Generation bei den Grünen und ihre jungen und jung gebliebenen Wähler leiden nicht mehr unter der moralischen Last ihrer Vorgänger. Sie müssen sich nicht mehr hinter der Vergangenheit verstecken und versuchen, Deutschlands Schuld mit einem moralisch überlegenen Pazifismus abzutragen. Als sie erwachsen wurden, hatte das Land schon lange wieder moralische Würde. Als stabile liberale Demokratie, die fest in die Nato und die EU integriert war, war Deutschland nicht länger an seine Rolle als geläuterter Verbrecher gebunden.

Dabei war Putin natürlich nicht ganz unbeteiligt. Anton Hofreiter, ein früherer Fraktionsvorsitzender der Grünen, schäumte, Putin führe einen „kolonialen und imperialistischen Vernichtungskrieg“. Hofreiter ist 52. Vor einer Generation hätten sich die Grünen und die ganze Linke hinter den Verbrechen der Nazi-Zeit versteckt: Wir haben unsere Lektion gelernt! Heute wird Putin nur noch von der extremen Rechten und Linken verteidigt. Gemeinsam erreichen sie in den jüngsten Umfragen 17 Prozent, die Grünen dagegen stabile 22 Prozent.

Das liegt aber nicht nur an Putins Imperialismus. Die neuen Grünen brauchen den bequemen Moralismus vergangenen Tage nicht mehr; sie profitieren von der Versöhnung, die sich die zwei Generationen vor ihnen hart erarbeitet haben. Wenn diese neue Generation die Macht übernimmt, wird womöglich das ganze Land endlich erwachsen. Heute sprechen sich 70 Prozent der Deutschen sogar dafür aus, die Kernkraftwerke am Netz zu halten.

Josef Joffe, ehemaliger Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, lehrt internationale Politik und politisches Denken an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies.

Copyright: Project Syndicate 2022

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