Was bleibt von der „Ostpolitik“?
Wer Frieden in Europa will, muss auch Russlands Sicherheitsinteressen berücksichtigen
Kurz nach dem Beginn von Russlands Angriff auf die Ukraine sagte der Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert, in einem Rundfunkinterview, man solle die Ostpolitik Willy Brandts nicht „verklären“. Sie sei fest im westlichen Bündnis „eingehegt“ und „nicht naiv“ gewesen. Tatsächlich beruhte die Ostpolitik, in den Worten Egon Bahrs, auf einer doppelten Prämisse: „Für Deutschland ist Amerika unverzichtbar, aber Russland ist unverrückbar.“
Seinem Hinweis auf die geographische Nähe Russlands lag die Überzeugung zugrunde, dass dauerhafte Sicherheit für Deutschland nur durch Interessenausgleich mit Russland erreichbar ist. Nichts hat sich daran geändert: Wer dauerhaften Frieden für Deutschland will, muss auch das Interesse Russlands, Teil einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsordnung zu sein, im Blick behalten.
Um keinerlei Missverständnis aufkommen zulassen: Für den generalstabsmäßig vorbereiteten Überfall Russlands auf die Ukraine ist niemand anderes als die russische Führung verantwortlich. Für ihren Angriffskrieg kann es keinerlei Rechtfertigung oder auch nur Verständnis geben.
Fakt ist: Erstmals seit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September 1939 – Auftakt für den Zweiten Weltkrieg – hat ein europäischer Staat sein Nachbarland überfallen. Nichts kann aus der Welt schaffen, dass der Angriff allein in der Absicht erfolgte, der Ukraine Land zu entreißen, ihre Regierung zu ersetzen und den Staat unter Moskaus Vorherrschaft zu zwingen. Die den Angriff begleitenden Narrative eines angeblichen Völkermords, einer russlandfeindlichen Marionettenregierung in Kyiv und der Bedrohung Russlands durch die USA und die Nato dienten allein der Mobilisierung innenpolitischen Rückhalts für die von langer Hand vorbereitete Invasion.
Mythos: Bedrohung durch die Nato
Die Bedrohung Russlands durch die Ausdehnung des Nato-Gebiets ist und bleibt ein Mythos. Eine gemeinsame Grenze zwischen Russland und der Nato existiert in Amerika und im Norden Europas bereits seit deren Gründung. Seit 1999 gilt dies zwar auch für Polen (Kaliningrad) und seit 2004 für die baltischen Staaten. Andere Nato-Mitglieder haben keine gemeinsamen Grenzen mit Russland. Anders als behauptet war die Ausdehnung nicht das Ergebnis einer orchestrierten Einverleibung, sondern entsprach der Absicht der meisten Staaten Mittel- und Osteuropas, die eigene Sicherheit durch die Mitgliedschaft in der Allianz zu erhöhen.
Der Beitrittswunsch wurde – vor dem Hintergrund vormaliger sowjetischer Vormundschaft – dadurch bestimmt, ihre Hinwendung zu pluralistischer Demokratie und Marktwirtschaft vor einer möglichen Bedrohung durch Russland abzusichern, nicht aber, sich in eine Art Speerspitze der Nato gegen Russland verwandeln zu lassen. Ironischerweise wird die Berechtigung ihrer Sorgen im Nachhinein durch die sich seit 2014 entwickelnde russische Aggression gegen die Ukraine bekräftigt.
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Das außenpolitische Journal
"Ist die EU strategiefähig?"
Nr. 186, April 2022
In Moskau wurde die Auflösung der Sowjetunion weniger als Bedrohung denn als Kontrollverlust und durch die Orientierung des früheren Vorfelds nach Westen als tiefe Demütigung sowie später als gewollte Ausgrenzung durch den „größeren“ Westen empfunden. Schon Mitte der 1990er-Jahre wurden in Moskau erste „rote Linien“ gezogen, zwischen den ehemals verbündeten Staaten, die offen nach Nato-Mitgliedschaft strebten sowie dem vom früheren sowjetisch-russischen Außenminister Andrej Kosyrew (1990 – 1996) so bezeichneten „nahen Ausland“, d. h. den ehemaligen Sowjetrepubliken, nunmehr souveräne Staaten.
Während die russischen Regierungen in den 1990er-Jahren – anfänglich sogar noch unter Präsident Putin – die Zukunft des Lands in einer sich vertiefenden europäischen Kooperation, verbunden mit der Erwartung auf eine allerdings herausgehobene eigene Mitbestimmung erachteten, breiteten sich bereits Ende der 1990er-Jahre neopatrimoniale bzw. großnationalistische Bestrebungen zunehmend bis in die Führungseliten Russlands hinein aus, welche von Seilschaften der Kreml-Partei, des engeren Staatsapparats und der Geheimdienste für den systematischen Ausbau der eigenen Macht und Klientelwirtschaft genutzt wurden.
Die spätere Charade der präsidialen „Rotation“ von Putin über Medwedew (2008 – 2012) zurück zu Putin und die zum Vorteil seines Machtverbleibs durch Verfassungsänderung verlängerten Amtszeiten, welche weitere „Rotationen“ überflüssig machten, ist ein Beispiel für die vollständige Unterwerfung des Staats unter die autokratische Herrschaft Putins und einer loyalen Entourage.
Russische „Friedenstruppen“
„Rote Linien“ wurden, soweit es die Mitgliedschaft früherer Sowjetrepubliken in der EU und Nato betraf, einseitig gezogen, ohne die Interessen der betroffenen souveränen Staaten zu erfragen, geschweige denn in Rechnung zu stellen. Der Vorherrschaftsanspruch auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion wurde schon vor der Invasion auch durch die Androhung und den Vollzug militärischer Besetzung, insbesondere in benachbarten Gebieten mit russischsprachiger Bevölkerungsmehrheit, zementiert.
Im östlich des Dnjestr gelegenen moldauischen Staatsgebiet Transnistrien stehen russische „Friedenstruppen“ bereits seit 1992. Auch hier forderte Moskau bereits die Anerkennung des besetzten Gebiets als von der Republik Moldau unabhängig.
Seit 1993 stehen russische Truppen als Teil einer sogenannten Friedensmission der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) – einer stark verklärenden Bezeichnung für tatsächlich von Russland abhängige Staaten – in Tadschikistan, darüber hinaus seit 1994 in Georgien (Südossetien und Abchasien als de facto annektierte Gebiete) sowie seit 2014 in der Ukraine (durch Annexion der Krim und militärische Unterstützung für Separatisten im Donbass).
Anfang des Jahres landeten russische Fallschirmjäger in Kasachstan. Bereits seit Ende 2021 befinden sich zehntausende Soldaten in Belarus und nach dem 24. Februar 2022 kriegführend in der Ukraine.
Russland fürchtet nicht ernsthaft eine Bedrohung durch die Nato. Die größte Atommacht der Welt verfügt über ein zur völligen Vernichtung jedes Angreifers ausreichendes militärisches Abschreckungspotential. Seit dem Beginn der sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über die Begrenzung strategischer Atomwaffen im Jahr 1969 galt für das Verhältnis der damaligen Führungsmächte von Nato und WVO als anerkannt, dass Stabilität zwischen beiden Seiten auf einer wechselseitigen nuklearen Vernichtungsfähigkeit beruht, welche zugleich die Kriegführung zwischen beiden Bündnissen unterhalb der atomaren Schwelle infolge bestehender Eskalationsrisiken verhindert. Das abschreckungsgestützte System war nicht wirklich stabil, aber es hat bislang funktioniert und Deutschland eine langanhaltende Friedensperiode beschert.
Neue Gefahren für die Sicherheit
Bedingt durch technologischen Wandel (darunter die Miniaturisierung von nuklearen Sprengköpfen auf präziseren Trägersystemen) sowie die Erosion der Rüstungskontrolle, im Verbund mit zunehmenden geopolitischen Spannungen und lokal begrenzten Interventionen (Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen), wurde das Abschreckungssystem in den zurückliegenden Jahren aber immer fragiler. Verstärkt wird dies durch eine wachsende Zahl von Staaten, die Atomwaffen besitzen oder Fähigkeiten zu deren Herstellung erlangt haben.
Noch nie zuvor aber hatte ein atomwaffenbesitzender Staat unverhüllt mit dem Einsatz seines Arsenals gegen andere Staaten gedroht, um eine eigene Aggression abzusichern. Dies verändert die Lage von Grund auf, denn einen atomwaffenbesitzenden Staat von der Anwendung militärischer Gewalt abzuhalten oder ihn militärisch zur Räson zu bringen, ist immer selbstabschreckend, weil mit dem Risiko einer nuklearen Katastrophe verknüpft.
Die Folgen sind in mehrfacher Hinsicht verheerend: Mehr Staaten als bisher könnten versuchen, sich ein atomares Arsenal zuzulegen. Die Schwelle zu einem Atomkrieg, gleichviel ob absichtlich oder aus Versehen, würde gesenkt, darüber hinaus potenziell die Neigung von atomwaffenbesitzenden Staaten erhöht, eigene Interessen künftig ebenfalls mit Gewalt gegen militärisch unterlegene Staaten anzuwenden (Stichwort: Taiwan).
Sicherheit als kooperatives Projekt
Was bleibt von der Ostpolitik, von der Idee gemeinsamer Sicherheit? Führt Russlands Bruch vereinbarter Regeln in ein sicherheitspolitisches Zeitalter, in dem das Faustrecht nuklearer Stärke das kollektive Recht als gemeinsames Ordnungsprinzip ersetzt?
Es wäre fatal, die entstandenen neuen Risiken für die internationale Sicherheit zu unterschätzen. Aber ebenso wäre es kurzsichtig, vormalige Gewissheiten ohne weiteres über Bord zu werfen.
Zu diesen Gewissheiten gehört, erstens, dass politische und soziale Konflikte nicht militärisch, jedenfalls nicht auf Dauer, gelöst werden können.
Zweitens ist unbestritten, dass eine Reihe zivilisatorischer Herausforderungen, angefangen vom Klimawandel bis hin zu nachhaltiger Energieversorgung, nur durch die Einigung auf globale Normen und durch Zusammenarbeit, jedenfalls nicht gegeneinander, bewältigt werden können.
Drittens bieten die Charta der Vereinten Nationen und das Regelwerk des Völkerrechts den Ordnungsrahmen internationaler Politik, dessen verlässlichere Durchsetzung ein universelles Anliegen sein muss, jedenfalls der Mitverantwortung der stärksten Staaten im UN-System, also auch Russlands, bedarf.
Eine verlässliche internationale Friedens- und Sicherheitsordnung braucht überzeugende Mechanismen gegen Rechtsbruch. Sanktionen gehören dazu. Sanktionen wirken auf einen Rechtsbrecher aber nur, wenn der Anreiz zu ihrer Aufhebung für den betroffenen Staat höherwertiger ist als der durch sie verursachte Schaden. Allein bestrafende Sanktionen führen nicht zur Verhaltensänderung, sondern produzieren lediglich Leid für die Bevölkerung und eine weitere Einigelung der Verantwortlichen.
Investitionen in mehr Abschreckung allein nähren lediglich gegenseitiges Misstrauen und münden in neues Wettrüsten. Notwendig ist ein starkes Sicherheitsnetz, bestehend aus Dialogbereitschaft und allseitiger Zusammenarbeit. Die Ostpolitik Willy Brandts war erfolgreich, weil sie Sicherheit für Europa als kooperatives Projekt verstand. Ein kluger Ausgangspunkt für das Nachdenken über Sicherheit und Frieden in der Welt auch für heute.
Hans-Joachim Gießmann, geb. 1955, war Direktor der Berliner Berghof Foundation und ist Mitglied im Willy-Brandt-Kreis.