Der Ernstfall

In Europa wird wieder sinnlos gestorben, wir rücken enger zusammen

Empörung weltweit: Auch in Berlin wird demonstriert gegen Putins Invasion der Ukraine.

Es gibt Momente, da hören alle Erklärungsversuche auf. Und es gibt Kommentare, die schreibt man auch für sich selbst. Der Krieg in der Ukraine ist da und für einen Augenblick wird es totenstill. Man fragt sich, ob man wirklich Zeuge dessen ist, was da gerade geschieht.

Natürlich haben einige der vielen Beobachter diese Entwicklung für möglich gehalten; manche sogar für wahrscheinlich. Aber ist das die Stunde des Rechthabens oder nicht vielmehr eine Stunde der Trauer? Vor unseren Augen zerbricht eine Epoche der Freiheit und wer sehen wollte, hätte es vielleicht können. Aber wer setzt schon die richtige Kugel in diesem schicksalsmächtigen Roulette.

Vielleicht ist es Respekt, jetzt zu schweigen. Vielleich auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Eine gute Freundin, die mich ein politisches Leben lang schon begleitet, hat mir verzweifelt gesagt, sie hätte den Frieden mit ihren bloßen Händen halten wollen. Doch wir wissen jetzt wieder, dass eine so menschliche Regung nicht hilft.

Wir haben nicht mehr geglaubt, dass dieser Krieg in seiner primitivsten, atavistischen Form noch einmal zurückkehren könnte in den Kern unserer heutigen Zivilisation. Wir haben an die Ränder nach Syrien oder Afghanistan geblickt und uns nicht vorstellen wollen, dass uns das selber betrifft.

„Stell Dir vor, es kommt Krieg, und keiner geht hin“, haben wir in der Friedensbewegung skandiert. Und wir wollten uns partout nicht einreden lassen, wie der Bert Brecht untergeschobene Satz wohl weitergehen könnte: Dann kommt dieser Krieg womöglich zu uns!

Auf dem Schlachtfeld die ersten Toten

Jetzt ist er tatsächlich zu uns zurückgekommen. Und nichts ist anders, nichts ist weniger schlimm geworden als Krieg immer schon war. Jetzt wird wieder sinnlos gestorben werden; die ersten jungen Menschen trägt man vom Schlachtfeld schon fort.

Wer jetzt schon das Wort vom Zivilisationsbruch in den Mund zu nehmen wagt, von dem kann man nur hoffen, dass er weiß, was er sagt. Ein Krieg hat viele historische Vorgänger und er tötet doch jedes Mal neu. Man muss nicht das größtmögliche Menschheitsverbrechen zitieren, um der eigenen Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen.

Wir rücken jetzt unweigerlich enger zusammen und keiner sollte dem anderen verübeln, wie er seinem Entsetzen jetzt Ausdruck verleiht. Denn das, was erst vor wenigen Stunden geschehen ist, hat endgültig alle Illusionen zerstört.

Man kann mit Gefühlen nicht gegen Panzer kämpfen. Aber diese Gefühle sind trotzdem da, was uns nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass das für die Politik jetzt der Ausnahmezustand ist. Einem Aggressor wie Putin wird es jedoch auch dieses Mal nicht gelingen, die Spielregeln der zivilisierten Welt aus den Angeln zu heben.

Uns trifft dieser Krieg, von dem schon länger die Rede ist, nicht wirklich gut vorbereitet, allen Sanktionen zum Trotz. Aber zumindest der Wille ist ringsum erkennbar, mit allen Mitteln zu zeigen, dass dieser Schritt der Schritt über den Rubikon ist.

Es ist nicht das Ende der Geschichte, vor dem wir jetzt stehen; es geht um die Rückkehr einer illusionslosen Politik, bei der wir trotzdem nicht zulassen dürfen, dass der Krieg wieder ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln wird. Es ist mehr denn je der zivilisierte Umgang einer freien Welt gefordert, und nicht der verständliche Wunsch, Recht haben zu wollen.

Jetzt geht es um ein Land, das gerade um seine Zukunft gebracht wird; dem sein Recht auf Selbstbestimmung entrissen wird und das wohl bald auch die eigene Fassung verliert. Wie hat es der junge ukrainische Präsident Selensky so ergreifend formuliert: „Am Ende sterben wir Ukrainer!“

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