Assistenz für Russlands Expansionismus
Reinhard Merkel missachtet Fakten und schiebt der Ukraine in zweifelhafter Weise Verantwortung zu
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat seit dem 24. Februar 2022 zu grausamen Kriegsverbrechen an der ukrainischen Bevölkerung geführt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Es stimmt vor diesem Hintergrund entmutigend, dass fast ein Jahr nach Beginn des – nach einer ersten Angriffswelle 2014/15 – erneuten und massiven russischen Überfalls auf die Ukraine im Mainstream von Politik und Öffentlichkeit in Deutschland immer noch keine Einigkeit über den Umgang mit der russischen Bedrohung besteht.
Diese missliche Lage hält an, obwohl die übergroße Mehrheit der Völkerrechtler und Osteuropa-Wissenschaftler in unzähligen Publikationen und Interviews ein klares und eindeutiges Bild der russischen Aggression und der notwendigen ukrainischen Verteidigung gezeichnet hat. Gleichwohl werden immer wieder Fehlinformationen und fragwürdige Interpretationen zum Krieg verbreitet.
Besonders problematisch ist der kürzlich erschienene Text des emeritierten Hamburger Professors für Strafrecht und Rechtsphilosophie Reinhard Merkel „Verhandeln heißt nicht kapitulieren“ in der FAZ vom 28. Dezember 2022. Darin diskutiert er eine Pflicht der Ukraine, den Krieg zu beenden. Gleichzeitig spricht er der Ukraine gegenwärtig das Recht ab, die Krim zu verteidigen, aus seiner Perspektive „zurückzuerobern“.
Der Text weist verschiedene Probleme auf. Die in dem Text dargelegten ethischen und völkerrechtlichen Argumente Merkels wurden bereits von dem Philosophen Peter Strasser in der NZZ vom 30. Dezember und dem Völkerrechtler Helmut Aust in der FAZ vom 2. Januar konzise entkräftet. Dabei wurde auch eine problematische Vermischung von rechtlichen und moralischen Argumenten kritisiert. In der FAZ vom 5. Januar 2023 hat die Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse zudem auf die kapitalen Sachfehler in Merkels Beitrag hingewiesen.
Ukraine: Pflicht zur Beendigung des Kriegs?
Aus unserer Sicht ist zentraler Kritikpunkt indes gerade auch Merkels weitgehender Verzicht auf eine sorgfältige Analyse des tatsächlichen Geschehens vor Ort. Dabei setzt jede völkerrechtliche Positionierung grundsätzlich voraus, dass zunächst die Tatsachenebene aufgeklärt wird. Nur auf Basis eines klaren Bilds des tatsächlichen Sachverhalts lässt sich das Recht ermitteln. Da Merkel bereits seit 2014 für seine problematischen völkerrechtlichen Analysen auf der Grundlage von eklatanten Fehlvorstellungen über das tatsächliche Geschehen bekannt ist, überrascht es, dass ihm immer wieder prominent Raum in der öffentlichen Debatte zugebilligt wird.
Im ersten Teil seines neuen Texts argumentiert Merkel, es bestünde eine moralische (Rechts?-)Pflicht der Ukraine zur Beendigung des Kriegs, eine Pflicht des Opfers, Verhandlungen zu führen, um das Leid seiner Bürger zu beenden. Merkel beruft sich dabei auf die Theorie des Frankfurter Philosophen Darrel Moellendorf vom „ius ex bello“; Moellendorf distanzierte sich allerdings in den sozialen Netzwerken umgehend von Merkel und erkennt derzeit keine Pflicht der Ukraine zur Beendigung des Kriegs.
Zwar kenne auch das Völkerrecht keine solche Pflicht, so Merkel. Das Völkerrecht erlaube es einem angegriffenen Staat vielmehr, sich auf Grundlage des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der Uno-Charta „zu wehren, solange die Aggression andauert und solange er will und kann“.
Dieses Recht habe allerdings Grenzen – eine Einschränkung, die Merkel aus einer sicherheitspolitischen Ethik zu entwickeln versucht und die ihn zu einer ablehnenden Perspektive auf das geltende Völkerrecht bringt. Er kritisiert, das Völkerrecht habe „die Legitimation militärischer Gewalt entmoralisiert“. Damit delegitimiert er das gegenwärtig durch Putin ohnehin unterwanderte Völkerrecht und assistiert im Ergebnis dem Kreml bei dessen zielgerichteter Zerrüttung der weltweiten Sicherheitsordnung.
Als moralische Grenze des Völkerrechts erkennt Merkel „das Risiko eines Nuklearkriegs und (...) ein unerträgliches Missverhältnis zwischen den Zielen der Selbstverteidigung und deren Kosten an menschlichem Leben und Leid“.
Zynisch: Selbstverteidigungsrecht contra Kriegsleid
Der Rechtsphilosoph kommt zu dem zynischen Ergebnis, dass die Ukraine durch ihre Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht „an der fortdauernden Erzeugung des Elends dieses Krieges“ gar „kausal beteiligt“ sei. Die generelle Konsequenz aus Merkels Ukraine-bezogener Kasuistik wäre demnach: Je aggressiver der Angriff eines Aggressorstaats ist und je mehr Leid er verursacht, umso größer ist die Pflicht des Angegriffenen, auf Selbstverteidigung zu verzichten.
Merkel verschleiert bei seiner Kritik am Selbstverteidigungsrecht, dass das Selbstverteidigungsrecht als die zentrale Ausnahme vom Gewaltverbot völkerrechtlich sowieso eng gefasst ist und ohnehin dazu dienen soll, Gewalt zu beenden. Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) ist das Selbstverteidigungsrecht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt. Selbstverteidigung ist nur insoweit gestattet, als solche Verteidigung notwendig und angemessen ist, um den Angriff abzuwehren. Das wäre nicht der Fall, sollte die Ukraine zum Beispiel zu einer militärischen Eroberung des völkerrechtlich anerkannten Territoriums Russlands übergehen.
Merkels Gegenüberstellung von Selbstverteidigungsrecht contra Kriegsleid verwischt auch den Zusammenhang von Selbstverteidigung und völkerrechtlichem Selbstbestimmungsrecht. Er entwertet die freie Entscheidung des ukrainischen Volks sowie einzelner Bürgerinnen und Bürger, für die Verteidigung der Freiheit ihres Lands Tod und Leid zur Selbstverteidigung in Kauf nehmen zu wollen. Zum anderen ignorierte Merkel die ukrainischen Opfer der russischen Besatzung.
Merkel unterschlägt auch die russische Untergrabung der Logik des Atomwaffensperrvertrags. Ein Nuklearkrieg wird nicht durch die Vertreibung, sondern die Festsetzung der russischen Armee auf ukrainischem Territorium wahrscheinlicher. Mit einem ukrainischen „Nachgeben“ würde die Nützlichkeit des Besitzes von Atomwaffen zur Sicherung konventionell eroberter Territorien demonstriert.
Zu guter Letzt beruht Merkels Kompromissplädoyer auf der Spekulation, dass Verhandlungen zurzeit sinnvoll und in der Lage wären, Kriegsleid dauerhaft zu lindern. Diese Hoffnung scheint allerdings allzu optimistisch. Es gibt derzeit keinerlei Anhaltspunkte für einen möglichen Erfolg ernsthafter Verhandlungen und eine Bereitschaft Russlands, auf Aggression, Besatzung und Vernichtung zu verzichten. Woran Moskau allenfalls interessiert zu sein scheint, ist eine Verschnaufpause zur Umgruppierung und Auffrischung seiner Truppen. Eine Debatte über eine Rechtspflicht der Ukraine zur Beendigung des Kriegs ist vor diesem Hintergrund in mehrfacher Hinsicht irreführend.
Die Krim: Illegal okkupiertes Gebiet
Im zweiten Teil des Textes behauptet Merkel, die Ukraine habe heute auch kein Recht, die Krim „zurückzuerobern“. Dies stützt er auf die dort angeblich „friedliche Regierung“, die „normative Stabilität“ und die Bekundung des freien Willens der Krim-Bevölkerung, zu Russland zu gehören. Merkel verklärt die militärische Einverleibung der Halbinsel als friedlichen Prozess. Er unterschlägt die massive Gewaltandrohung gegenüber Politikern und Bürgern auf der Krim seit 2014 sowie die fortlaufenden schweren Menschenrechtsverletzungen des russischen Gewaltregimes auf der Schwarzmeerhalbinsel sowie die besonders harschen Repressionen gegen die indigenen Krimtataren während der letzten neun Jahre.
Merkel argumentiert, dass die Krim jedenfalls heute befriedet und ein Selbstverteidigungsrecht daher nicht mehr gegeben sei. Die russische Gewalt auf der Halbinsel dauert jedoch sowohl im juristischen Sinne als auch tatsächlich an.
Mehr noch: Die Krim ist für Moskau seit Februar 2022 nicht mehr vom Krieg auf dem restlichen Territorium der Ukraine abzugrenzen. Die ukrainische Schwarzmeerhalbinsel ist nicht nur weiterhin ein illegal okkupiertes Gebiet, welches unter russischer Besatzung militarisiert wurde. Sie dient auch als geostrategischer Stützpunkt der russischen Land-, See- und Luftstreitkräfte im Allgemeinen sowie seit Februar 2022 als Aufmarschgebiet für den Versuch der Eroberung der südlichen Festland-Ukraine sowie als Startrampe für Kampfflugzeuge, Raketen, Marschflugkörper und Drohnen zur terroristischen Bombardierung der ukrainischen Bevölkerung im Besonderen.
Annexion, Besatzung und Unterdrückung dauern an. Damit besteht auch weiterhin unzweifelhaft ein Selbstverteidigungsrecht der Ukraine, um das Territorium der Krim zu befreien.
Russischer Landraub
Merkel bekräftigte mit dem neuen Text eine von ihm schon vor Jahren dargelegte und von russischen sowie anderen Propagandakanälen verbreitete Expansionsapologetik. In einem mit „Kühle Ironie der Geschichte“ betitelten FAZ-Artikel rechtfertigte Merkel bereits am 8. April 2014 die gewaltsame Einverleibung der Krim. Merkel unterschlug bereits damals den eigentlichen Ablauf der Ereignisse vor Ort. Er ging weder auf quantitative noch auf qualitative Meinungsumfragen auf der Halbinsel vor ihrer Annexion durch Russland ein. Auch die Schlüsselrolle unmarkierter russischer Soldaten beim Anschub der Scheinseparation sowie bei der anschließenden politischen Durchführung der paralegitimen Abspaltung und russischen Inkorporation der Krim blieb bei Merkel im Dunkeln.
Der absurde Ablauf und dubiose Kontext des Pseudoreferendums am 16. März 2014 war und ist Merkel keiner Erwähnung wert. Das von Moskau aufgezogene Scheinplebiszit wurde zwar bereits im Frühjahr 2014 detailliert von Völkerrechtlern, Osteuropa-Experten, internationalen Organisationen, örtlichen Bloggern und den Krimtataren kritisiert. Ja sogar drei Vertreter des Menschenrechtsrats beim russischen (!) Präsidenten entlarvten das Scheinreferendum unverblümt als eine Farce. All dies hinderte Merkel nicht daran, dem notdürftig verschleierten russischen Landraub seinen akademischen Segen zu geben.
Die Würde des Angriffsopfers
Nichtsdestoweniger erhält Merkel in verschiedenen deutschen Medien und Diskussionsforen immer wieder Raum, durch seine als nonkonformistische wissenschaftliche Position vorgetragenen Thesen manifest kontrafaktische Narrative zu verbreiten. Im Lichte der akademischen Regalien Merkels entsteht so immer wieder der Eindruck, als gäbe es in der Wissenschaft hinsichtlich der Annexion der Krim keine Einigkeit. Bei nüchterner Betrachtung der Faktenlage besteht jedoch kein Zweifel an der Völkerrechtswidrigkeit des Krim-Anschlusses Russlands und dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. So zumindest wird es in der übergroßen Mehrheit der relevanten rechts-, politik- und regionalwissenschaftlichen Stellungnahmen zum Thema deutlich.
Vermeintliche Fachbeiträge wie die Reinhard Merkels sind nicht nur für die beteiligten Wissenschaftler, sondern natürlich vor allem für die Ukrainer zermürbend. Die Würde der Opfer verlangt besondere Sorgfaltspflichten in der Debatte über ihr Leid. Nicht umsonst ist in Deutschland die Leugnung des Holocausts verboten, obwohl Meinungsfreiheit sonst weit reicht.
Zumindest aus ethischen Gründen sollte den Fakten zum russischen Angriff in der Debatte über die Ukraine besonders hohe Bedeutung zukommen. Merkels und ähnliche Debattenbeiträge erschweren die ohnehin stockende Durchsetzung des Völkerrechts. Sie spielen russischem Expansionismus in die Karten.
Caroline von Gall lehrt Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Goethe-Universität Frankfurt und ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. – Andreas Umland ist Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (UI) und Dozent für Politikwissenschaft an der Kiewer Mohila-Akademie. Dieser Beitrag ist zuerst am 6.1.2023 in der NZZ erschienen. Wir danken Caroline von Gall und Andreas Umland für die Erlaubnis, ihren Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.
Der Text von Reinhard Merkel aus der FAZ ist auch auf KARENINA veröffentlicht, ebenso die Entgegnung von Helmut Philipp Aust.