Als Märtyrer ins Paradies
Was Putin unter einem Regime der Alarmbereitschaft und einem atomaren Vergeltungsschlag versteht
„Ist dies Wahnsinn, hat es doch Methode...“ sagte Polonius. Das Handeln des obersten russischen Chefs bestätigt diese Shakespeare-Worte. Nur vier Tage nach dem Beginn des Gemetzels, das man auf Weisung der Roskomnadsor [die russische Regulierungs-, Aufsichts- und Zensurbehörde für Massenmedien, Telekommunikation und Datenschutz] eine „militärische Spezialoperation“ zu nennen hat, verkündete Wladimir Putin: „Hochrangige Persönlichkeiten der führenden Nato-Ländern erlauben sich aggressive Äußerungen gegen unser Land, deshalb befehle ich dem Verteidigungsminister und dem Leiter des Generalstabs, die Abschreckungsstreitkräfte der russischen Armee in ein besonderes Regime der Alarmbereitschaft zu setzen.“
Da die westlichen Führer sich nicht die Andeutung der Möglichkeit einer Aggression erlaubt haben, ist zu vermuten, dass der Kreml wie gewohnt beschlossen hat, die beispiellosen Wirtschaftssanktionen als Kriegsdrohung einzustufen. Und da er kaum wesentliche Vergeltungsmaßnahmen zur Verfügung hat (außer die Konten von Ausländern bei den russischen Banken zu sperren und zu konfiszieren), beschloss man, die niederträchtigen Westler an unseren größten Trumpf zu erinnern, den niemand stechen kann.
Russland kann in der Tat den Planeten vernichten. Um zu erschrecken, hat man sich einen neuen Terminus ausgedacht – das „besondere Regime der Alarmbereitschaft“.
Tatsächlich besteht die Besonderheit der Atomstreitkräfte gerade darin, dass sie sich permanent im Zustand der Einsatzbereitschaft befinden. Von einer noch höheren Bereitschaftsstufe ist nichts bekannt, schon gar nicht von einem System, das auf diese Stufe führt. Unmittelbar nach Putins Erklärung begannen die Experten, darüber zu phantasieren, was das eigentlich sein soll, dieses „besondere Regime der Alarmbereitschaft“.
Trotzdem sind diese Drohungen keineswegs leere Rhetorik. Man nimmt sie sehr ernst. Die amerikanischen Streitkräfte wurden schon in eine erhöhte (zweite) Stufe der Kampfbereitschaft versetzt. Von fünf Stufen der Kampfbereitschaft ist diese die vorletzte, die der Situation vorausgeht, in der „der Atomkrieg unvermeidlich oder bereits im Gang ist“.
Es heißt, diese zweite Stufe sei bisher nur zweimal aktiviert worden – während der Kuba-Krise und während der Operation „Wüstensturm“. Man muss sich klarmachen, dass die Menschheit immer mehr zur Geisel von Raketenwarnsystemen wird.
Putin: „Vergeltung ist unabwendbar.“
Beim Treffen des Waldai-Klubs vor vier Jahren gab der russische Präsident diesbezüglich eine ziemlich sensationelle Erklärung ab. Putin sagte damals, sein Land habe das Raketenwarnsystem SPRN geschaffen, das permanent optimiert werde.
„Dieses System erfasst weltweit die Starts strategischer Raketen auf den Weltmeeren oder von irgendeinem Territorium“, erklärte der Oberbefehlshaber den versammelten Ausländern unsere Zukunft. „Und wenn wir uns davon überzeugt haben (und das geschieht innerhalb von Sekunden), dass ein Angriff auf russisches Territorium im Gang ist, nur dann werden wir einen Gegenschlag führen. Das ist ein Vergeltungsschlag. Warum ein Vergeltungsschlag? Weil ihre [Raketen] zu uns fliegen, und unsere fliegen dem Aggressor entgegen. Natürlich ist das eine globale Katastrophe, aber ich sage es noch einmal, wir können nicht die Verursacher dieser Katastrophe sein, weil wir keinen Präventivschlag führen. Ja, in dieser Situation warten wir quasi, dass jemand Atomwaffen gegen uns einsetzt, selbst machen wir nichts.“
Und mit einem Knall schloss er: „Der Aggressor soll immer wissen, dass die Vergeltung unabwendbar ist, dass er vernichtet wird. Wir aber sind die Opfer einer Aggression, und wir kommen als Märtyrer ins Paradies, sie aber werden einfach nur verrecken, weil sie nicht einmal Zeit haben werden, zu bereuen.“
Dabei muss man bedenken, dass das SPRN-System, auf das der Oberkommandierende der Streitkräfte baut, schon öfter versagt hat, sowohl in den USA als auch in der UdSSR. 1983 meldete das sowjetische SPRN-System einen massiven Raketenangriff gegen die Sowjetunion. Die Menschheit überlebte nur, weil Oberstleutnant Stanislaw Petrow, der an diesem Tag Dienst hatte, entgegen den geltenden Instruktionen und auf eigenes Risiko beschloss, der obersten Führung nicht meldete, was er für einen Fehlalarm hielt. Im Januar 1995 aktivierte Boris Jelzin seinen „Atomkoffer“, weil er wegen einer in Norwegen gestarteten meteorologischen Rakete das Signal für einen Raketenangriff erhalten hatte.
Russische und amerikanische Experten riefen Moskau und Washington mehrmals dazu auf, über einen beiderseitigen Verzicht auf das Konzept des Zweitschlags zu verhandeln. Denn der oberste Führer eines Lands muss innerhalb kürzester Zeit, innerhalb von 15 bis 30 Minuten, entscheiden, ob er die Raketen startet.
Aber Wladimir Putin, der mit sichtlichem Vergnügen die Trainings mit seinem Atomkoffer absolviert, erschreckt der Gedanke offenbar gar nicht, dass er gegebenenfalls innerhalb von einer halben Stunde über das Schicksal der Menschheit entscheiden muss. So war es erst vor Kurzem – am 19. Februar während der strategischen Manöver „Grom (Donner) 2022“. Der Tatsache, dass der Oberbefehlshaber über die Atomstreitkräfte verfügen kann, maßen alle russischen Führer eine sakrale Bedeutung bei.
Die tragbare Fernbedienung, mit welcher der Präsident den Befehl zum Abschuss gibt, ist für sie eine Art Zepter und Reichsapfel. „Sie kennen alle den weltbekannten schwarzen Koffer, den roten Knopf und so weiter... Solche Übungen, sogar solche Trainingsstarts sind ohne das Staatsoberhaupt nicht möglich“, erzählt Putins Pressesprecher Dmitri Peskow nicht ohne Pathos.
Der symbolische Charakter dieser Militärübungen wurde diesmal noch dadurch betont, dass Putin Alexander Lukaschenko in sein Lagezentrum eingeladen hatte. Der Belarusse, der sich gerade eben als kleiner Bruder bezeichnet hatte, verhehlte nicht sein Entzücken über die Möglichkeit, wenigstens ein wenig an den Geheimnissen der atomaren Strategie teilhaben zu dürfen.
Noch vor Kurzem fühlten sich die Staats- und Militärchefs bemüßigt, bei Gesprächen über Atomwaffen zu betonen, dass es dabei um politische Waffen gehe. Man erklärte, die Waffe existiere nur, um niemals eingesetzt zu werden. Heute aber spricht der Kreml ganz offen von der Möglichkeit, eine atomare Hölle auszulösen. Den Russen bleibt nichts anders übrig, als auf Putins Versprechen auf das Paradies zu bauen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in russischer Sprache im Jeschednjewni Schurnal (Tägliches Magazin) erschienen. Wir danken dem Autor und Chefredakteur des russischen Onlinemediums für die Erlaubnis, den Text auf KARENINA zu veröffentlichen. / Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann