Nawalny ein „sakrales Opfer“?
Die Mehrheit der Russen glaubt den abenteuerlichen Darstellungen der regierungsnahen Medien
Es war ein Taxifahrer in Moskau, der mich in Verlegenheit brachte. „Warum setzt sich Ihre Frau Merkel so sehr für Nawalny ein?“, fragte er mich. Als ich ihm erklärte, dass Alexei Nawalny mit einem verbotenen chemischen Kampfstoff vergiftet worden sei, sagte er: „Aber er ist doch kein Deutscher, sondern ein Russe. Und das ist ja auch in Sibirien passiert.“ Ich entgegnete ihm: „Der Einsatz dieses Kampfstoffs ist weltweit verboten.“ Als ich dann begann, von europäischen Werten reden, schaute er mich verständnislos an und meinte, da stecke doch etwas anderes hinter: „Vermutlich Amerika. Ihr sollt amerikanisches Gas kaufen.“
Der Taxifahrer liegt im Mainstream. Als ich das russische Fernsehen einschalte, sehe ich Jelena Panina, Abgeordnete der Duma, die kämpferisch erklärt: „Diese sogenannte Vergiftung sollte Russland und Deutschland gegeneinander aufhetzen. Ziel war es, die EU dazu zu zwingen, Sanktionen gegen Russland und gegen Nord-Stream 2 zu verhängen.“
Frau Panina, die auch am „Institut für Internationale politische und wirtschaftliche Strategien“ arbeitet, legte dann noch nach und veröffentlicht eine Online-Präsentation unter dem Titel: „Wer steckt hinter dem Spiel gegen Russland?“ In der Analyse heißt es, es gehe um die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2024. Die Gegner Russlands würden alles tun, um die Wahlen zu stören, wenn nicht sogar zu verhindern. Respekt, denke ich. Die Frau hat Fantasie.
Fox News auf Russisch
Mit der Wahrheit nimmt man es in den vom Kreml gelenkten offiziellen Fernsehkanälen sowieso nicht genau. Fox News auf Russisch! Jeden Sonn-tagabend kommt die Stunde des größten Propagandisten des Landes. Dmitri Kissiliow beginnt seine Sendung „Vesti Nedeli“, das „Neueste der Woche“, eher harmlos. „Nawalny hat das alles inszeniert, um sich selbst zurück ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bringen.“
Auch dies ist eine These, der sicherlich viele Menschen in Russland zustimmen. Aber mit einer so einfachen Behauptung würde sich Kissiliow nie zufrieden geben. Deshalb wird später noch der Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergei Narischkin interviewt. „Bereits vor einem Jahr“, erklärt Narischkin zu meinem Erstaunen, „haben wir folgende Informationen erhalten: In einem NATO-Land, ich sage nicht einmal, dass es Deutschland war, kam es zu einem Treffen von Geheimdienstleuten. Dort wurde die Frage diskutiert, auf welche Weise man die Protestbewegung in Russland wiederbeleben könne.“ Mithilfe eines „sakralen Opfers“ habe man beschlossen, der Opposition in Russland wieder auf die Beine zu helfen.
Mit anderen Worten, bereits 2019 ist die Vergiftung Nawalnys geplant worden, und zwar von ausländischen Geheimdiensten! Sollte der normale Fernsehzuschauer an der These noch Zweifel haben, meldet sich am nächsten Tag der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin zu Wort. Auch er geht wie selbstverständlich davon aus, dass Nawalny von ausländischen Geheimdiensten vergiftet worden ist. „Deshalb schlage ich dem deutschen Bundestag vor, darüber zu diskutieren, inwieweit deutsche Geheimdienste in die Ereignisse involviert sind.“
Gab es überhaupt eine Vergiftung?
Mittlerweile, so heißt es dann in den abendlichen Nachrichtensendungen, hat die westsibirische Staatsanwaltschaft ein Verfahren eingeleitet. Dabei kommt man nun zu einem ganz anderen Ergebnis: „Es gibt keinerlei Gründe, von einer Vergiftung zu sprechen“, heißt es. Als Erklärung, warum es Nawalny so schlecht gegangen war, zitiert die Staatsanwaltschaft in dem Bericht plötzlich die Ehefrau Julia Nawalnaja. Sie soll dem Krankenhauspersonal erzählt haben, dass ihr Mann auf Diät sei, möglicherweise habe dies zu seinem „Unwohlsein“ geführt. Oder eine Störung des Stoffwechsels?
Somit bleibt die Frage offen, ob es denn überhaupt eine Vergiftung gegeben hat. Auf einer Pressekonferenz, die in dem Nachrichtenkanal Russia 24 live übertragen wird, erklärt zu meiner Verwunderung Außenminister Sergei Lawrow: „Wir haben Grund zu der Annahme, dass das Eindringen von chemischen Kampfstoffen in seinen Körper in Deutschland oder in dem Flugzeug geschehen sein könnte, in dem er in die Charité transportiert wurde.“
Meine russischen Freunde in Moskau nehmen das mit Schmunzeln zur Kenntnis und feixen eher. „Wir haben es immer gewusst, Ihr vergiftet unsere Leute“, meint Alexei, der sich sonst wie viele Russen gar nicht mehr mit Politik beschäftigt. Er empfiehlt mir, am besten keinen Tee zu trinken. Zumindest nicht außerhalb der eigenen vier Wände.
Und was sagt das Volk sonst? „Das Wichtigste ist doch, dass er lebt“, meint mein Nachbar in Moskau, als wir im Aufzug meines Mietshauses den Fall diskutieren. „Natürlich stecken unsere Geheimdienste dahinter, wer denn sonst? Aber sie haben sich so dumm wie immer angestellt. Sie haben es vermasselt.“
Die große Gleichgültigkeit
Abgesehen von Nawalnys Anhängern und Sympathisanten finde ich niemanden, der sich richtig moralisch aufregt. Warum diese Gleichgültigkeit, frage ich den Journalisten Frank Ebbecke, der seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Moskau lebt. Seine Antwort: „Der leise rieselnde Schnee deckt über diese Affäre ein feines Tuch des Vergessens. Nawalny ist einigen im Wege. Ohne Frage! Allerdings glauben die wenigsten hier, dass Putin höchst selbst hinter dem nach wie vor nicht abschließend geklärten Giftkomplott steckt.“
Hinzu komme, dass sich die russische Gesellschaft in ihrer tief verwurzelten, historisch gewachsenen Demut dem Unabänderlichen generell beuge, meint Ebbecke. Eine Position, die auch der Osteuropa-Wissenschaftler Johannes Grotzky vertritt. Sein Urteil zu Nawalny: „Das russische Volk hat sich seit jeher mit der Macht arrangiert. Die Geschichte zeigt, dass die Opposition immer nur von einer kleinen Minderheit getragen wurde. Deshalb haben Bewegungen, wie sie Nawalny vertritt, auch keine Chance, von einer breiten Mehrheit unterstützt zu werden.“
Dennoch kann niemand vorhersagen, was im Frühjahr passiert. Kommt es wieder zu Großdemonstrationen? Nawalnys vorwiegend jugendliche Fangemeinde scheint gewachsen zu sein. Für Schüler und Studenten, aber auch für viele ältere Putin-Kritiker ist er ein Held. Jetzt erst recht! So haben bei Kommunalwahlen in Tomsk, der Stadt, in der er vermutlich vergiftet wurde, seine Leute einen Achtungserfolg erzielt und konnten ins Stadtparlament einziehen. Die Kremlpartei Geeintes Russland verlor hingegen deutlich.
Und wie geht es weiter zwischen Moskau und Berlin? In den offiziellen deutsch-russischen Beziehungen ist Eiszeit. Dennoch glaubt der Ostexperte Alexander Rahr, dass das Verhältnis auf Dauer nicht gefährdet ist: „Gottseidank ist Nawalny wieder gesund. Und Nord Stream 2 wird gebaut. Zudem hat die russische Seite eingesehen, dass sie sich mit den Deutschen verständigen muss. Ich vermute, in einigen Monaten werden positive Dinge passieren, die uns wieder zusammenbringen.“
Dieser Beitrag istursprünglich erschienen im Rotary Magazin, Ausgabe Januar 2021.