Russlands mutige Journalistin

Marina Owsjannikowa: „Mein Sohn sagt, ich habe das Leben der Familie ruiniert“

von KARENINA
Marina Owsjannikowa
Eine mutige Person: Marina Owsjannikowa demonstriert gegen den Krieg.

Sechs Sekunden, die das Leben von Marina Owsjannikowa veränderten: Mit ihrer Plakataktion in der Hauptnachrichtensendung „Wremja“ des russischen Staatsfernsehens wurde die 43-jährige Redakteurin zur weltweit gefeierten Ikone für Presse- und Meinungsfreiheit.

Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Marina Owsjannikowa über die Beweggründe ihrer mutigen, wenngleich auch folgenreichen Störaktion, die Minuten danach und die Frage, wie ihre Familie reagiert hat.

Sie wurden über Nacht zur weltweiten Ikone für Presse- und Meinungsfreiheit – einer tragenden Säule der Demokratie: Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Marina Owsjannikowa: Demokratie bedeutet für mich, als freier Mensch leben zu können. In letzter Zeit hat sich mein Heimatland Russland jedoch in einen totalitären Staat verwandelt – einen Staat – der sich zunehmend von der Außenwelt abschottet.

Das betrifft auch die Kommunikation. Faktisch alle unabhängigen Medien wurden gesperrt oder als „ausländische Agenten“ eingestuft – die meisten sozialen Medien sind nicht mehr erreichbar. Die Menschen in Russland haben somit fast ausschließlich Zugang zu staatlich gelenkter Informationspropaganda. Die Folge: Ein Informationsvakuum, das wir – wie auch immer – überwinden müssen.

Ich bin immer gerne gereist und habe mit vielen verschiedenen Menschen gesprochen. Daher sind demokratische Werte für mich keine leeren Floskeln. Ganz im Gegenteil: Sie bringen zum Ausdruck, dass sich die Menschen in Russland mit der ganzen Welt austauschen und ihren Standpunkt vertreten können, anstatt als gehorsame Sklaven in einem totalitären Land zu leben.

Lassen Sie uns über Ihre Plakataktion in der Live-Sendung des russischen Staatsfernsehens vom 14. März sprechen. Wie genau kam es dazu? Was ist in den Minuten unmittelbar danach passiert? Wie haben Ihre Kolleginnen und Kollegen reagiert?

Der Protest ist seit vielen Jahren in mir gereift. Ich war mit der Politik des Senders „Perwy kanal“ nicht einverstanden, ebenso mit einigen anderen Dingen, die in unserem Land passierten und noch passieren. Es brodelte in mir, aber aus persönlichen Gründen konnte ich nicht sofort kündigen.

Das änderte sich jedoch schlagartig mit Beginn des Kriegs. Mir war klar, dass ich keinen Tag länger für „Perwy kanal“ arbeiten kann. Als spontane Reaktion wollte ich mich auf den Weg zum „Maneschnaja-Platz“ machen, um dort zu protestieren, aber im letzten Moment hielt mich mein Sohn auf.

Die Idee mit der Plakataktion hatte ich am darauffolgenden Wochenende. Ich ging in den Schreibwarenladen um die Ecke, kaufte einen Textmarker und etwas Papier. Zuhause zeichnete ich das Plakat. Und bereits am Montag wusste ich: Wenn, dann muss es heute passieren.

Mein ursprünglicher Plan war, mich mehr im Hintergrund des Fernsehstudios zu platzieren. Doch im letzten Moment spürte ich einen starken „emotionalen Impuls“. Ich beschloss, ins Studio zu laufen, eine Sicherheitsabsperrung zu überwinden und mich direkt hinter die Moderatorin zu stellen.

Alles ging blitzschnell. Die Sicherheitsbeamtin – ein nettes Mädchen – hatte keine Zeit sich zu orientieren, geschweige denn zu verstehen, was gerade passiert ist. Noch nie in der 50-jährigen Geschichte von „Wremja“ ist etwas Derartiges geschehen.

Nach wenigen Sekunden verließ ich ruhig das Studio, ging den zentralen Korridor entlang und die gesamte Führungsriege von „Perwy kanal“ kam mir bereits entgegen. Ich musste im Büro des stellvertretenden Leiters eine schriftliche Erklärung abgeben. Dann eskortierte mich die hinzugerufene Polizei in mein Büro.

Es herrschte eine unwirkliche Stimmung. All die anwesenden Kolleginnen und Kollegen, standen einfach nur da und sahen mich mit vollkommenen überraschten Augen an. Sie haben nicht verstanden, was passiert ist. Sie haben nicht verstanden, wie so etwas überhaupt passieren konnte.

In der deutschen Talkshow „Markus Lanz“ sagten Sie, Sie wollten die Menschen in Russland wachrütteln, die von der russischen Propaganda zu „Zombies“ gemacht wurden. Denken Sie, das ist Ihnen gelungen?

Gemessen daran, dass in meinem Umfeld die meisten Menschen genauso denken wie ich, ist es schwer zu beurteilen, wie erfolgreich die Aktion letztendlich war. Meine Freunde, Nachbarn und Bekannte unterstützen mich so gut es geht. Viele Menschen schreiben mir oder kommentieren meine Aktion in den sozialen Medien.

Aber wenn ich die Menschen frage, warum sie nicht auf die Straße gehen, warum sie nicht aktiv werden, lautet die Antwort meist: „Wir haben Angst. Es ist besser, sich nicht in die Politik einzumischen.“

Seit dem 4. März drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für missliebige Berichterstattung. Was bedeutet das für den Journalismus? Reicht ein Wachrütteln der Menschen aus, wenn sie sich nicht trauen zu demonstrieren?

Nein, das reicht natürlich nicht! Die Menschen bilden sich ihre Meinung, aber die staatliche Propaganda in Russland ist sehr gut entwickelt. Erst heute habe ich in einer aktuellen Umfrage gelesen, dass 81 Prozent der Menschen in Russland Putins „Aktionen“ unterstützen. Ich weiß nicht, ob dieses Umfrageergebnis wahr ist und ob man diesen Daten vertrauen kann. Meiner Wahrnehmung nach unterstützen mehr als die Hälfte der Russen diesen Krieg nicht.

Am Samstag fanden erneut Proteste in Moskau und vielen weiteren Städten in Russland statt. Mehrere Dutzend Personen wurden festgenommen. Aber die breite Masse hält still. Die Menschen haben wirklich Angst.

Dennoch gibt es einige – wenngleich wenige – Menschen in Russland, die bereit sind, alles aufs Spiel zu setzen: Ihr Leben sowie das Leben ihrer Familien – alles für den aktiven Protest.

Sie sagten, Sie sind überrascht, dass Sie bislang noch nicht für die Plakat-Aktion verurteilt wurden. Denken Sie, Wladimir Putin nutzt Ihre mediale Öffentlichkeit, um sich als Verfechter der Rechtstaatlichkeit zu inszenieren?

Nach der Plakataktion haben die Verantwortlichen von „Perwy kanal“ eine Woche lang geschwiegen. Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollen. Sie haben mich anhand aller verfügbaren Quellen überprüft. Und nicht nur mich – auch meine Verwandten. Erst eine Woche später ging mein direkter Vorgesetzter Kirill Kleimyonow mit einem Bericht an die Öffentlichkeit, in dem behauptet wird, ich sei eine britische Spionin. Völlig absurd! Seitdem habe ich das Gefühl, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden.

Viele Menschen stellen mir die eine Frage: „Warum bist du nicht im Gefängnis?“ Ich denke, dass es der russischen Propaganda bis zu einem gewissen Grad recht ist, wenn ich mit westlichen Medien kommuniziere. Wahrscheinlich ist meine Bekanntheit – zumindest derzeit – für den Kreml von Vorteil.

Ich kann nicht sagen, was die führenden FSB-Kräfte unseres Lands denken. Aber es gibt aktive Aufrufe, mich hinter Gitter zu bringen. Ein neues Verwaltungsverfahren wurde eingeleitet – zwei Tage später jedoch zurückgezogen. Jetzt warten meine Anwälte darauf, welche Anklagen erhoben werden. Wir warten ab, was als Nächstes passiert.

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen haben spätestens seit dem Russland-Ukraine-Konflikt einen Tiefpunkt erreicht: Halten Sie eine „Normalisierung“ der Beziehungen unter Wladimir Putin für realistisch?

Nein! Unter Wladimir Putin sind diese Beziehungen unmöglich zu normalisieren. Russland hat in den letzten zehn Jahren eine aggressive Propaganda gegen den Westen und alle westlichen Werte betrieben. Seit zehn Jahren wird den Menschen hierzulande suggeriert, dass der Westen versucht, Russland zu zerstören. Dass Amerika und Großbritannien unsere Feinde sind, ebenso die westlichen Medien. Diese Propaganda wiederholt sich in den „wahnsinnigen“ Shows im Fernsehen – es gibt Shows, in denen Ukrainer durchweg als Nationalisten und Faschisten bezeichnet werden.

Wenn sie zehnmal wiederholen, dass „Schwarz“ eigentlich „Weiß“ ist, dann glauben die Menschen irgendwann daran. Wir waren all die Jahre im Fernsehen sehr aggressiv, in sämtlichen Medien gab es staatliche Informationspropaganda, die sich speziell gegen den Westen richtete. Eine ganze Generation ist mit Putins Propaganda aufgewachsen. Einfach schrecklich!

Ich denke, dass sich unter Wladimir Putin rein gar nichts ändern wird. Das wird nur möglich sein, wenn eine neue Politiker-Generation gewählt wird – eine Generation, die nicht in den Mustern des Kalten Kriegs denkt. Erst dann können wir unsere geschundenen Beziehungen zum Westen wieder „kitten“.

Unsere siebte Frage ist immer eine persönliche: Wie hat Ihre Familie und Ihr privates Umfeld auf Ihre Protest-Aktion im russischen Fernsehen reagiert? Gab es Menschen, die davon abgeraten haben?

Die Situation ist sehr schwierig. Mein Sohn, meine Mutter und ich haben völlig gegensätzliche politische Ansichten. Meine Mutter gehört zur älteren Generation. Sie hört von morgens bis abends Staatspropaganda, hört Wladimir Solowjow zu. Daher ist es ist unmöglich, mit ihr zu sprechen oder sie von etwas anderem zu überzeugen.

Ich habe oft versucht, eine Art Dialog mit ihr aufzubauen: „Mama, ich arbeite. Ich weiß, wie es geht, hör mir zu…“ Nein, sie versteht nichts, sie antwortet mit auswendig gelernten Floskeln aus dem Fernsehen oder Radio. Dass der Westen unser Feind ist, dass alle unser Land zerstören wollen.

Deshalb kann ich nicht länger als fünf Minuten mit meiner Mutter sprechen. Wir haben vollkommen konträre Wertvorstellungen. Wenn wir anfangen, über politische Themen zu reden, endet das immer im Streit. Also versuche ich erst gar nicht, mit ihr darüber zu reden.

Auch mein Sohn unterstützt mich nicht. Er sagt, ich habe das Leben der Familie ruiniert. Auch, weil ich mich habe scheiden lassen. Hinzukommt, dass sein Vater – also mein Ex-Mann – für einen anderen Propagandakanal der Regierung arbeitet – für RT.

Wir stehen also auf zwei entgegengesetzten Seiten des Informationskriegs. Er unterstützt die Kreml-Propaganda voll und ganz. Ich hingegen habe liberalere Ansichten. Demzufolge vermittelt mein Ex-Mann unseren Kindern seine Werte, während ich versuche ihnen eine andere Sichtweise beizubringen.

Meine Tochter ist zum Glück noch klein. Sie versteht die politischen Zusammenhänge nicht. Aber sie spürt, was gerade in und mit unserer Familie passiert.

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