Im Netz der Unfreiheit

Wie Russland das Internet unter Kontrolle bringen will und woran es (noch) scheitert

von Alexey Yusupov
"Das Runet ist ein Netz der Unfreiheit geworden." (Alexey Yusupov)

Russland nimmt einen eigenen Weg. Diese ideologische Maxime hat Konjunktur in der politischen Klasse der Russischen Föderation. Die Idee eines russischen Exzeptionalismus ist nicht neu und hat historische Wurzeln in der Identitätssuche der Intellektuellen im Zarenreich des 19. Jahrhunderts. Der Überfall auf die Ukraine ist sowohl Produkt als auch Katalysator der in zwei Jahrzehnten unter Putinscher Herrschaft reifenden Neuauflage einer „zivilisatorischen russischen Eigenheit“.

Die russische Orthodoxie, ein militanter Großmachtpatriotismus, die Verklärung der traditionellen Werte und ein Kampf gegen den „westlichen Moralverfall“ – offiziell werden all diese Bausteine der offiziellen Weltanschauung als „spirituelle Klammern“ bezeichnet. Sie beschreiben ein globalisierungsfeindliches Gegenkonzept der russischen Machtelite zum individualistischen, kosmopolitischen, freien Gesellschaftsentwurf der russischen Wende der 1990er-Jahre.

Vor diesem Hintergrund hat die Kremlführung das offene, freie Internet schon lange als eine Bedrohung identifiziert. Spätestens nach den großen Straßenprotesten in der Folge der manipulierten Parlamentswahlen 2011 sowie unter dem Eindruck der im Netz organisierten Umwälzungen des Arabischen Frühlings hat die russische Regierung entschieden: Ein freies Internet steht im Konflikt mit den nationalen Interessen des Lands.

Das Runet, eine Erfolgsgeschichte

Das Runet – also der Teil des Internets, der vor allem russischsprachigen Content beinhaltet – ist eigentlich eine große Erfolgsgeschichte. Russland ist durchgehend digital. Mit mehr als 97 Millionen Nutzern sind rund 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung online, mehr als 90 Prozent davon über mobile Endgeräte. Damit gibt es auch eine relativ gute Abdeckung in ländlichen Gebieten, die in anderen Bereichen eher eine schlechte Infrastruktur haben.

Der Alltag von Russinnen und Russen ist ohne Internet nicht mehr vorstellbar. Im Schnitt ist eine Person mehr als sieben Stunden am Tag online, davon mehr als die Hälfte der Zeit in den sozialen Netzwerken unterwegs, mit Videokonsum und Messenger-Diensten beschäftigt. 55 Millionen aller Landesbewohner zwischen 12 und 64 Jahren sind Gewohnheitsgamer. Die Digitalisierung des privaten Konsums und des Finanzwesens sowie der staatlichen und öffentlichen Dienstleistungen ist in vielen Bereichen deutlich weiter als im europäischen Durchschnitt.

Der Umgang von autoritären Systemen mit der Digitalisierung ist meist pragmatisch. Man will die wirtschaftlichen und technologischen Vorteile nutzen und zugleich soziale Effekte vermeiden, die zu freien Netzwerken und Gemeinschaftsbildung führen könnten. Die Bürger werden als Kunden verstanden. Wenn sie ihre durchdigitalisierte Gesellschaft positiv erleben, kann das über den eigentlichen Charakter des autoritären Staatswesens hinwegtäuschen und sogar dabei helfen, eine Autokratie zu legitimieren.

Kein Raum für kritische Stimmen

Ein kluger Einsatz von Technologien, die den Alltag erleichtern und gleichsam das Gefühl der Fortschrittlichkeit vermitteln, kann auf städtische Mittelschichten demobilisierend und depolitisierend wirken. Was die Regierung auf jeden Fall vermeiden will, ist, dass Räume der alternativen Öffentlichkeit, zensurfreie Kommunikation oder gar Organisationsplattformen für Dissens und Ungehorsam entstehen. Deshalb gibt es entsprechende politische Äußerungen und sogar Gesetzesvorhaben: Die Errichtung eines „souveränen Internets“ zählt zu erklärten Prioritäten der russischen Regierung.

Die russische Machtelite hätte sehr gerne eine „Große Russische Mauer“ nach chinesischem Vorbild errichtet. Allerdings ist Russland meilenweit davon entfernt, eine ähnlich effektive Kontrolle über das Internet auszuüben, wie die Volksrepublik China es tut. Die Gründe dafür sind sowohl historisch als auch technologisch.

Die Vernetzung Russlands mit der übrigen Welt – genauso wie die Teilhabe an anderen Institutionen der liberalen Globalisierung – war bis weit in die 2000er-Jahre eine logische Fortsetzung der Öffnung des Lands nach dem Kollaps der Sowjetunion und daher lange ganz im Sinne der Kremlführung. Die Regierung in Peking betrachtete dagegen das freie Netz von Anfang an mit Skepsis.

China schuf eine wirkungsvolle staatliche Kontrolle seines Teils des globalen Internets bereits in einer sehr frühen Phase, als das chinesische Netz lediglich rund hunderttausend Nutzer umfasste. Das russische Internet ist dagegen dezentral und offen gewachsen, hat sich tief mit Wirtschaft und Gesellschaft verwoben und ist – im Gegensatz zum chinesischen Netz – nicht autonom in seinem Adressraum (dieser umfasst IP-Adressbereiche und Root-Server), sondern teilt sich diesen mit Europa im Rahmen des Réseaux IP Européens Network Coordination Centre (RIPE NCC).

Komplexe Strategie der Überwachung

Ein radikaler Wechsel der Internet-Politik Russlands ist insofern nicht trivial und lässt sich nicht ohne Weiteres umsetzen. Daher verfolgt die Kremlführung eine komplexe Strategie zur Überwachung, Kontrolle, Unterdrückung und schlussendlich zur schrittweisen Vorbereitung für eine mögliche Abkopplung.

Dabei geht es erstens darum, eine direkte technische Kontrolle zu ermöglichen. Seit 2019 verpflichtete die Duma russische Internetprovider dazu, Deep-Packet-Inspection-Technik anzuschaffen, um den Datenverkehr effektiv durchleuchten zu können. Die Umsetzung verlief zunächst schleppend, bis der Staatshaushalt die Anschaffungskosten übernommen hat und die Internetanbieter dadurch keine Ausreden mehr vorbringen konnten. Auch hat die staatliche Regulierungsbehörde Roskomnadsor systematisch die Eigentümer von Kabelverbindungen, die das russische Hoheitsgebiet verlassen, dazu aufgefordert, ihre unternehmerischen Besitzstrukturen offenzulegen. Auf diese Weise sollen ausländische Beteiligungen an diesen Firmen beendet werden.

Zusammen mit dem Inlandsgeheimdienst FSB kann Roskomnadsor nun nicht nur live den Datenfluss durchleuchten. Technisch hat Russland innerhalb weniger Jahre zudem alle Möglichkeiten für eine umfassende Vorratsdatenspeicherung geschaffen.

Theoretisch besteht jetzt schon die Möglichkeit, zu einem eigenständigen Adressen- und Domänenraum überzugehen. Damit könnte Russland sich eine kleinere Kopie des globalen Internets mit maximaler Abschottung nach außen schaffen.

Die Abschottung und ihre Risiken

Der Wechsel wäre allerdings auch sehr riskant, denn weite Teile der russischen Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung benötigen eine ununterbrochene und vollumfängliche Netzanbindung. Daher wären die Kosten eines Fehlversuchs der technischen Abkopplung immens.

Wenn der Versuch schiefginge, wären Banken oder Behörden nicht mehr in der Lage, miteinander zu kommunizieren. Würde die Abkoppelung dagegen technisch gelingen, dann könnte die Bevölkerung das Fehlen beliebter Online-Angebote wie YouTube bemerken, verstärkt nach Umwegen suchen und noch mehr auf VPN zurückgreifen

Es geht zweitens darum, die Zensur- und Informationspolitik gegenüber ausländischen Digitalkonzernen und kritischen Informationsanbietern, also Online-Zeitschriften, Nachrichtenportalen und dergleichen, systematisch zu intensivieren. Hier geht der staatliche Unterdrückungsapparat einerseits rechtlich vor, indem er konkrete Webseiten (z.B. kriegskritische oder in Verbindung mit Alexey Nawalny stehende Inhalte) oder ganze Plattformen (z.B. einige Dienste des Meta-Konzerns, also Facebook und Instagram) verbietet.

Gegenwärtig beläuft sich die Gesamtzahl von gesperrten Webseiten auf etwa eine halbe Million. Da diese Sperrungen sich mit der Nutzung von VPN-Tunneln leicht umgehen lassen, gibt es andererseits auch technische Eingriffe, die sie zwar erreichbar, aber ihren Konsum geradezu unerträglich langsam macht und die Sperrungen ebenso effektiv werden lässt. Ein Beispiel wäre die Drosselung der Abrufgeschwindigkeit verbotener Webseiten.

Die wesentlich sichtbarere und gewaltsamere, dritte Komponente ist die der demonstrativen Repression und Einschüchterung einzelner Bürger. Dadurch, dass unterschiedliche Strafrechtsparagrafen („Verleumdung der russischen Streitkräfte“, „Abruf und Verbreitung von verbotenen Inhalten“, „Staatsgefährdung“) willkürlich angewendet werden, kommt es zu laufenden Verfahren. Sie können schon aufgrund von Facebook-Kommentaren, Retweets eingeleitet werden oder weil jemand ukrainische Informationsquellen zitiert hat.

Es handelt sich dabei keineswegs um Massenrepressionen, sondern um Schauprozesse. Die beliebige Interpretation der Tatbestände zusammen mit der Vorratsdatenspeicherung macht de facto fast jeden Nutzer, der einmal auf alternative Medien im Netz zugegriffen hat, zu einem vermeintlichen Verbrecher. Auch andere, länger existierende Strafrechtsparagrafen werden verstärkt angewendet, um gegen die freie Rede im Netz vorzugehen: Extremismusbekämpfung, Kinderschutz, Kampf gegen Drogenkonsum oder gegen Urheberrechtsverletzungen sind dabei häufig benutzte Vorwände, um dissidentische Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Neben der Vielzahl der „analogen“ Strafrechtsinstrumente, die bereits jeden Protest auf der Straße unmöglich machen, wird auch das Netz zu einem Raum, den die Obrigkeit vollständig kontrolliert. Die selektive Rechtsanwendung hat das Ziel, in der russischen Gesellschaft eine Atmosphäre der Angst und Apathie zu erzeugen, und ist dabei durchaus erfolgreich. Es besteht das Grundgefühl, dass es jeden und jede treffen kann.

Verdrängung ausländischer Digitalkonzerne

Der russische Staat verfolgt viertens bei der Einhegung des freien Internets das Ziel einer langsamen, aber nachhaltigen Verdrängung von ausländischen Digitalkonzernen und ihren Produkten aus dem russischen Alltagsleben. Dazu bekommen ausländische Firmen beispielsweise Auflagen zur Datenverarbeitung, die ausschließlich in Russland stattfinden darf. Dies hat im Fall von LinkedIn bereits 2016 dazu geführt, dass sich das Karriere-Netzwerk aus Russland zurückgezogen hat. Es hatte sich geweigert, Nutzerdaten auf russischen Servern aufzubewahren.

Die anderen großen Plattformen (Meta, Google, Twitter) bekommen ebenfalls immer mehr Bußgelder auferlegt, ignorieren aber die staatlichen Forderungen, weil der russische Markt für sie im globalen Vergleich relativ unbedeutend ist. Einige der Firmen haben sich selbst spätestens nach dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 aus dem Werbegeschäft in Russland zurückgezogen.

Mit dem formellen Verbot und der Sperrung von Instagram und Facebook orchestrierte der Kreml eine Werbekampagne für einheimische Alternativen. So soll der Umzug von „content creators“ und Nutzern auf russische Plattformen befördert werden. Während in Russland mit VK eine veritable und populäre Alternative zu Facebook schon lange existiert, stellt sich die Lage mit Rosgram und RuTube – den Alternativen zu Instagram und Youtube anders dar.

Beide Möchtegern-Konkurrenten sind technisch nicht ausgereift, haben schwächere Feed-Algorithmen und können dadurch nur schwer Content-Communities anlocken, die ähnlich populär wären. Die russische Netzgemeinde reagiert bisweilen entweder mit verstärkter Nutzung von VPN-Diensten (manche Anbieter berichten von tausendfachem Anstieg von Nutzern) oder einem Umzug auf den Messenger-Dienst Telegram, der in beiden „Welten“ – innerhalb und außerhalb Russlands ungebrochen populär bleibt.

Trends

Wohin geht die Entwicklung in den nächsten Monaten und Jahren? Wir können folgende manifeste Trends beobachten:

  1. Trotz all der Vorbereitungen und Kontrollinstrumente scheut der Kreml vor einer völligen Abschottung des Internets bisher zurück. Die Kremlführung konzentriert sich darauf, die Lage in Russland selbst im Zustand einer scheinbaren Normalität zu halten. Die Sanktionen des Westens haben bislang noch keine durchschlagende Wirkung auf die Verbraucher entfaltet, während die Staatspropaganda Siegesgewissheit verbreitet.
  2. Ein wie auch immer gearteter, systemischer Versuch, das russische Netz ganz abzukoppeln, wäre vor diesem Hintergrund gefährlich für das Machtgefüge. Sollte ein solcher Versuch fehlschlagen, könnte er die Grenzen der staatlichen Handlungsfähigkeit offenbaren. Sollte er hingegen gelingen, würde fast die gesamte Bevölkerung Russlands merken, dass der Krieg doch gar nicht so erfolgreich verläuft, wie behauptet.
  3. Das bezeichnende Beispiel ist Die Videoplattform ist im Gegensatz zu anderen Diensten weder verboten noch gesperrt – sie ist einfach zu wichtig. YouTube wird in Russland von mehr Menschen genutzt als das Fernsehen. Der Kanal ist eine unersetzbare Quelle von Videos für Kinder, Hobby-Angler, Amateur-Sportler und Privatgärtner. YouTube abzuschalten ohne einen vergleichbaren Ersatz – und dieser ist nicht in Sicht –, würde die elementaren Gewohnheiten von Menschen in ihrem Alltag betreffen.
  4. Ein solcher Eingriff stünde im krassen Gegensatz zum bisherigen Kurs der Kremlführung, mit allen Mitteln eine Normalität des Lebens zu behaupten. Fraglich ist auch, ob die für eine weitergehende Kontrolle des Netzes notwendigen Fachkräfte überhaupt vorhanden wären, zumal seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine unter den Ausreisenden vor allem viele IT-Fachleute sind. In China dagegen beschäftigen sich Zehntausende von Spezialisten mit dieser Thematik.
  5. Da sich zahlreiche, große IT-Firmen dafür entscheiden, Russland zu verlassen, vertieft sich der Graben zwischen dem russischen Netz und der internationalen Internet-Community. Unternehmen wie Amazon Web Services, Cisco und Microsoft stellen ihren Vertrieb ein und nehmen keine neuen Kunden mehr an. Auch die Werbeabteilungen von Google und Twitter schütten kein Geld mehr an ihre Werbekunden in Russland aus.
  6. Diese Entscheidungen fallen nicht etwa als Reaktion auf die westlichen Sanktionen gegen Russland, sondern um die eigene Reputation zu schützen, geltende Compliance-Regeln zu befolgen oder sogar noch zu übertreffen. Der Rückzug schadet allerdings in einigen Fällen nicht nur dem russischen Regime, sondern auch den dissidentischen Teilen der Gesellschaft – Oppositionelle verlieren die Möglichkeit, auf YouTube Geld zu verdienen, ihre Abonnentendaten bei Newsletterdiensten abzurufen oder Informationen aus alten Slack-Kanälen herauszufischen.
  7. Das Internet wird trotz aller Restriktionen immer mehr zum Ort der Organisation und Netzwerkbildung in der russischen Gesellschaft, vorrangig außerhalb des Lands. Mehr als eine halbe Million Russinnen und Russen haben ihr Land seit dem Kriegsbeginn verlassen. Es entstanden neue Zentren des gesellschaftlichen und politischen, russischsprachigen Lebens in Israel, der Türkei, in den baltischen Staaten, in Polen und Tschechien, in Zentralasien, im Südkaukasus und auch in Deutschland. Die Vernetzung und Organisation der daraus hervorgegangenen Antikriegsbewegung ist nur möglich, weil die politisierte, jüngere Schicht der Exilierten sich im Netz frei bewegt und ihren Wissenstransfer, ihre horizontale Mobilisierung und Koordination mit digitalen Werkzeugen bestreiten kann. Uns sind rund 300 derartige Initiativen und Gruppen bekannt, die sich der Kreml-Propaganda in den Weg stellen, Solidarität für die Ukraine organisieren sowie Kontakte nach Russland unterhalten.

Das Runet ist ein Netz der Unfreiheit geworden. Es ist ein Raum, in dem politischer Dissens und soziale Mobilisierung gefährlich geworden sind. Trotzdem kann man nicht behaupten, dass die Kremlführung derzeit imstande wäre, eine vollständige Kontrolle über das digitale Russland zu erlangen. Sie müsste dafür den Verlust von Modernität und Normalität in Kauf nehmen.

Ohne eine völlige Abschottung des Internets ist das Tauziehen zwischen Dissidenten und der Regierung ein Katz-und-Maus-Spiel. Die Medien greifen immer auf technische Lösungen zurück, für die noch keine einfachen Repressionsmechanismen existieren. Es gibt eben nicht den einen Schalter, den eine Autokratie einfach umlegen kann, wenn sie sich der Netzfreiheiten entledigen möchte. Der Kampf darum ist in vollem Gange.

Alexey Yusupov, geboren 1987 in Moskau, leitet das Russland-Programm der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Er lebt er in Berlin.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in:

OST-WEST. Europäische Perspektiven
Ausgabe 1/2023

Verlag Friedrich Pustet
80 Seiten
Zeitschrift
7,50 Euro
ISBN ISSN: 14392089
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